40. Jahrestag des faschistischen Putsches in Chile

Tageskonferenz der »jungen Welt«, der Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde, der Marx-Engels-Stiftung und der DKP am 7. September in Berlin.

Am 11. September vor vierzig Jahren verteidigten Präsident Salvador Allende und jene, die ihn mit Leib und Leben schützten, im Bombenhagel auf die Moneda die stürzende Volksfrontregierung gegen den faschistischen Putsch. Auch unkoordinierte und spontane bewaffnete Widerstandsaktionen um Fabriken und Armenviertel, mitunter unterstützt von loyalen Polizei- und Armeeangehörigen, wurden mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern und schweren Waffen niedergewalzt. Dennoch kam es bis in die 80er Jahre hinein noch zu sporadischen Aktionen einzelner Widerstandsgruppen.

Anders 2002 in Venezuela. Dort fegte ein von Millionen getragener Volksaufstand putschistische Militärs von der Straße. Doch unter dem Schutz von volksnahen Soldaten, die ihre Herkunft nicht vergessen hatten, holte eine Großdemonstration die Regierung Chávez ins Amt zurück. Das Volk hatte auch eine Verfassung zu verteidigen, die es sich selbst gegeben hatte.

Auch in Bolivien und in Ecuador wurden neuen Verfassungen zwecks demokratisch fester Verwurzelung der Tat vorangestellt, so Günter Pohl in seiner Tagungseinführung. »Andererseits sind die Ergebnisse der Veränderungen dort bis heute gegenüber Chile 1970 bis 1973 zurückgeblieben.« Was kann letztlich aus der chilenischen Niederlage und heute auch aus den Problemen der neoliberalen Variante des Kapitalismus gelernt werden? Günter Pohl fragte: »Stimmt Lenins Vermutung, dass eine Revolution, die sich nicht verteidigen kann, keine ist? Jedenfalls war Chiles Regierungslinke militärisch zu schwach, sodass der Widerstand nicht in der Lage war, den Putsch zurückzuschlagen.«

Chile – der parlamentarische Weg zum Sozialismus

Castro und Allende, Nov. 1971

Castro und Allende, Nov. 1971 (Foto: Cubahora)

Aus Chile kam Ivan Quintana Miranda, Mitglied des ZK der KP Chiles (PCCh), nach Berlin. Er ging auf die historische Situation ein. Innerhalb der Unidad Popular ( UP ) wuchsen sich damals Differenzen aus, die die Volksfrontregierung in einen reformistischen und in einen revolutionären Flügel spalteten. Die außerhalb des Bündnis agierende Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) ging nicht davon aus, dass man auf parlamentarischem Weg zum Sozialismus kommen könne, sondern durch die direkte Revolution. Ivan Quintana sieht die MIR als ultralinke Gruppierung, die in den Gewerkschaftsgremien ein Prozent hatte, die KP dagegen 39 Prozent. Die UP habe nur rund zehntausend Menschen zur Verteidigung in den Betrieben gehabt, nur mit Handfeuerwaffen. »Ware damit eine militärische Bewegung gegen die Junta möglich gewesen?«, fragte Quintana unter Berufung auf die damalige Erklärung von PCCh-Generalsekretär Luis Corvalan.

Arbeitermilizen oder andere paramilitärische Strukturen aufzubauen war für die Allende-Regierung aufgrund von Vereinbarungen mit den Christdemokraten unmöglich, schätzten Gotthold Schramm und Rudolf Herz von der damaligen DDR-Auslandsaufklärung ein. Dennoch wirkte der UP-Politiker und Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Carlos Altamirano, neben der MIR auf die bewaffnete Verteidigung des revolutionären Prozesses hin.

Chile-Solidarität Ost und West

Altamirano war einer der meistgesuchten Männer. Der Leipziger Prof. Dr. Eberhard Hackethal wirkte mit großem persönlichen Einsatz an der verdeckten Ausschleusung Altamiranos aus der DDR-Botschaft mit und beförderte ihn bis zum dramatischen Grenzübertritt in den Anden. Karlheinz Möbus, 1971 – 73 Botschaftsrat in Chile, berichtete als Gründungsmitglied des Chile-Solidaritätskomitees der DDR u.a. über die materielle Hilfe für rund 2000 chilenische Immigranten in der DDR. Ganz anders der Westen: Die BRD-Botschaft von Santiago durfte erst sieben Wochen nach dem Putsch die ersten politisch Verfolgten aufnehmen. Die vom Journalisten Carsten Söder zusammengefassten Erkenntnisse aus der Studie »Gegen Freund und Feind – Der BND: Geheime Politik und schmutzige Geschäfte« verweisen auf die Auswahlkriterien: genommen wurden demnach junge, gut ausgebildete, demokratische Sozialisten, doch keine, die vorher eine Waffe in die Hand genommen hatten. Die abgewiesenen Flüchtlinge blieben so weiter in Gefahr.

Ein Jahr früher, 1972, war der Militärattaché in der BRD-Botschaft, Loyo, mit Argumenten nicht zimperlich. Vierzigtausend bewaffnete Kräfte der Linken stunden in Chile zum Kampf bereit. Deshalb empfahl er dem Auswärtigen Amt zusammen mit dem damaligen Botschafter Lahn, den Verkauf von siebzig Kampfpanzern »Leopard I« an das chilenische Heer zu unterstützen.

Chile heute

Was ist in Chile aus der Einheit von Kommunisten und Sozialisten geworden? Für den ehemaligen DDR-Diplomaten Möbus sind auch andere Fragen interessant. 2006 wurde Michelle Bachelet Präsidentin, und nun kandidiert sie erneut für dieses Amt. Wird sie politische Erfahrungen aus ihrem DDR-Exil einbringen? Wird sich Chile nach Bachelets Wahlsieg antiimperialistisch orientieren? Mit den regierenden Sozialisten blieb Chile bisher jedenfalls ein treuer Verbündeter der USA.

Ivan Quintana stellte Bachelets neues Mitte-Links-Bündnis Nueva Mayoria (Neue Mehrheit) mit der Kommunistischen Partei vor. Bachelet verspricht eine Reform des Bildungssektors, die eine kostenfreie und hochwertige Bildung garantieren soll. Arbeitnehmerrechte sollen verbessert, Einheitsgewerkschaften in Betrieben verankert, beim Streikrecht nachgebessert werden.

Quintana hofft, dass die abermals versprochene Einrichtung einer Verfassunggebenden Versammlung nun zustande kommt. Die 1980 vom Pinochet-Regime eingeführte Verfassung müsse weg. Die Aufarbeitung von Verbrechen der Pinochet-Diktatur dauere noch an. Bisher saßen 50 bis 60 Täter ihre Strafen meist unter privilegierten Haftbedingungen ab. Wie sich manche im Gefolge des Putsches und des neoliberalen Vormarschs bereicherten, ist immer noch unklar.

Volksfront und/oder sozialistische Revolution

Den letzten Tagungsblock zu Grundfragen der Revolutionstheorie bestritt der marxistische Faschismusforscher Werner Röhr.

»Dem Revolutionshistoriker muss es zugestanden werden, linke Selbstkritik an der Unidad Popular unter dem Blickwinkel der zukunftsträchtigsten Fragen zur Diskussion zu stellen. Die linke kritische Analyse wird die Leistungen der Unidad Popular zum Herankommen an den Sozialismus niemals in den Schatten stellen können. Von Anfang an wurden diese Leistungen dominiert durch die unmittelbare Verbesserung der Lebensmittelversorgung und von praktischen Verbesserungen für die Bevölkerung. In relativ kurzer Zeit wurde die Arbeitslosigkeit in Chile halbiert, die Nationalisierung von sämtlichen Rohstoffen vorangetrieben. Die weltgeschichtliche Bedeutung war so groß, dass der Mobilisierungseffekt des Anlaufs gar nicht ernst genug genommen werden kann.«

Doch Röhr fragte auch: Wer übt die Kritik, wer verlangt Analysen, wer musste daran interessiert sein? »Der Imperialismus wohl nicht, er will seine Verbrechen nicht aufgearbeitet sehen. Die Kommunistische Partei Chiles? Wollen die großen Volksmassen Kritik?«

Nicht nur Präsident Allende gebühre Respekt, sondern auch den Kämpfern seiner Leibgarde, die von der MIR gestellt wurde. Carlos Altamirano habe zur MIR nur geringe Meinungsunterschiede, jedoch grundlegende zum sozialistischen Präsidenten Allende gehabt. Der Klassengegner könne durchaus auch mit den eigenen Waffen, denen des bürgerlichen Rechtsstaats, geschlagen werden. Dann erst recht, wenn er seine »unantastbare« Verfassung nach Belieben selbst mit Füßen tritt.

Die Illusion, einen Teil der Macht erobert zu haben, habe auch einen gewissen Dogmatismus befördert. Die UP sei bei Durchsetzung der nationalen Eigentumsfrage nicht konsequent gewesen. Sie habe sich selbst geschwächt, als sie strikt an der Verpflichtung festhielt, die bürgerliche Verfassung um jeden Preis einzuhalten und die Autonomie der Streitkräfte im Wesentlichen nicht anzutasten. So sei die Verteidigungsfähigkeit der Revolution schon im letzten Dreivierteljahr gefährdet und endgültig im Juli 1973 preisgegeben worden. Dabei hatten Sympathisanten immer wieder über konkrete Putschvorbereitungen berichtet.

Arbeiter, die Betriebe besetzt hielten und Verwaltungsstrukturen von unten gründeten, wurden – im Einklang mit den Kompromissen der UP – von den Streitkräften nach Waffen durchsucht. Oft mussten sie der Zerstörung ihrer Produktionsanlagen durch die Soldaten zusehen. Nicht nur die selbstmobilisierten Arbeiter, sondern auch subproletarische Schichten und die Bauern habe die UP unterschätzt. Bauern besetzten mehr Guter als von der bürgerlichen Verfassung zugestanden, daher zwang man sie zur Rückgabe. Fazit: Es kam zu keinem Generalstreik, sondern zur faktischen Demobilisierung. Die immer schärferen Konflikte habe die Lagerbildung polarisierter Klassen befördert, bedauerte Werner Röhr, was landesweiten Hass erzeugt habe: die einen pro Revolution, die anderen pro Reaktion.

Es waren nicht nur Sprachbarrieren daran schuld, dass Ivan Quintana und Werner Röhr aneinander vorbei redeten, sich aber auch gegenseitig verletzten.

CUBA LIBRE Hilmar Franz

CUBA LIBRE 4-2013