Habana Sí – Habana Socialista ! Es tut sich etwas in Kubas Hauptstadt

»Ich kenne keine belebteren Straßen als die Straßen von Havanna. … Jeden Tag regt sich in den Straßen von Havanna neues Leben. Man erfindet Geschäfte, Berufe, bescheidene Formen, sich durchzuschlagen, und zwar mit einem erstaunlichen Einfallsreichtum. Das ist der Moment für … witzige Ideen mit einem gewissen, ausgesprochen tropischen Pfiff.«

So beschrieb der große kubanisch-französische Schriftsteller Alejo Carpentier im Jahr 1939 die Atmosphäre in seiner Stadt, als er nach elf Jahren Abwesenheit nach Havanna zurückkehrte. Fast 75 Jahre später bietet sich dem Besucher ein ähnliches Bild. Geschäftiges Treiben, Erfindungsreichtum, Improvisationstalent und kleine Schlitzohrigkeiten gehören zu dieser Stadt, wie das Feilschen im Großen Basar zu Istanbul.

Wer Havanna kennt und liebt wünscht sich oft, dass die selbsternannten Experten, die ihren Lesern nach oberflächlichen Eindrücken mal belehrende, mal gehässige aber immer wenig kenntnisreiche Aufsätze über den »morbiden Verfall« der sozialistischen Hauptstadt zumuten, weniger schreiben und sich dafür etwas mehr mit dem Gegenstand ihrer Betrachtungen beschäftigen würden.

Das Erbe der Vergangenheit

Havanna bei Tag

Havanna bei Tag
Foto: Marion Leonhardt



Nicht zu leugnen ist, dass viele der schon von Carpentier und seinen literarischen Zeitgenossen beschriebenen Gewohnheiten in den letzten Jahrzehnten eher verborgen waren. Die Sowjetunion hatte für Kuba feste Aufgaben in ihrer damaligen Wirtschaftsplanung vorgesehen, die straffe Organisation mit sich brachten und keinen Spielraum für eigene Initiativen ließen. Nach Auflösung der osteuropäischen Staatengemeinschaft erforderte die Sonderperiode in Kuba mehr Improvisation und Flexibilität, doch die noch nicht veränderten alten Regeln und Vorschriften standen einer dynamischen Entwicklung im Weg. Erst die auf dem 6. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas verabschiedeten »Lineamientos « haben die Voraussetzungen für eine wirkliche Aktualisierung und Anpassung an die heutigen Herausforderungen geschaffen.


Was einige Kommentatoren triumphierend als Bestätigung für das Scheitern des sozialistischen Modells bewerten, ist tatsächlich ein – wenn auch für einige schwer zu verstehender – Prozess zu dessen Weiterentwicklung. Mit gewaltigen Risiken aber noch größeren Chancen. Wer diese Hintergründe kennt, hat weniger Schwierigkeiten, die Eindrücke im heutigen Havanna einzuordnen.

Herausforderungen des Wandels

Im Frühjahr 2013 entspricht das Straßenbild fast wieder dem der Beschreibung Carpentiers vor 75 Jahren. Die privaten Verkaufsstände für Kaffee, Saft, Pizza und selbstgemachte Süßigkeiten in den Hauseingängen oder am Fenster haben zugenommen. Auch Dienstleistungen werden überall per selbstgemachten Schildern offeriert: Vom Klempner, Tischler und Polstermöbelaufbereiter bis zum Feuerzeugbefüller. Das alles hat es zwar früher auch schon gegeben, doch wirken die Angebote heute professioneller. Auch private Taxis und Transportunternehmer sind ebenso wenig neu wie die massenhaft angebotenen CD- und DVD-Kopien oder Paladares (private Restaurants). Was auffällt, ist allerdings eine stärkere Spreizung: die vom einfachen Kaffeeausschank bis zum Luxus-Paladar mit uniformiertem Personal reicht. Das egalitäre Modell wird Kuba – angesichts des Drucks, den die globale Lebensmittelspekulation und die daraus folgende Preisexplosion für den noch immer zu großen Importanteil – zumindest nicht im bisherigen Umfang aufrechterhalten können.

Von einer Bekannten erfahre ich, dass es mittlerweile Privatleute gibt, die ganze Taxiflotten mit angestellten Fahrern betreiben. Die Fahrer müssen pro Schicht ein Fixum an den Fahrzeugeigentümer abliefern und können das, was sie darüber einfahren, behalten. Auch gibt es kleine »Im- und Export-Spezialisten « die zum Beispiel zwischen Kuba und Ecuador, das bis vor Kurzem kein Visum verlangte, pendeln. Aus Kuba werden Medikamente und andere Artikel, die in der kapitalistischen Welt teurer sind, geschmuggelt und auf dem Rückweg Billigklamotten, Schminkutensilien und technische Artikel mitgebracht, die in Kuba begehrt sind. Vieles bewegt sich im illegalen Bereich oder zumindest in einer Grauzone und bringt weder der kubanischen Bevölkerung noch der Ökonomie des Landes einen Vorteil. An diesen wenigen Beispielen lassen sich die Herausforderungen erahnen, vor die der Abbau von bürokratischen Hürden die kubanische Gesellschaft in den nächsten Jahren stellt.

Straßenbild verändert sich

Habana de noche

Habana de noche
Foto: gran-caribe-tur.cu


Neben der Zunahme von Händlern und Dienstleistern fallen weitere Veränderungen im Straßenbild auf. Als Erstes sichtbar wird die gerade aktuelle Jugendmode. Kleidung mit US-Symbolen, die noch bis vor kurzem begehrt war, ist out. Der letzte Schrei in diesem Frühjahr sind T-Shirts, Hemden, Schuhe und Handtaschen mit dem britischen Union-Jack. Das ganze wird deutlich weniger schrill als früher, fast schon dezent zur Schau gestellt. Die »Mickis« (Jugendliche mit Faible für Markenartikel) geben in den teureren Diskotheken und In-Bars den Ton an. In den einfachen Stadtteil-Diskos, am Malecon und in den Barrios zeigt sich das gewohnte buntgemischte Bild der »normalen« kubanischen Jugend. Insgesamt macht das Straßenbild einen ruhigeren Eindruck als in früheren Jahren. Fahrradtaxifahrer, Straßenhändler, Zigarrenverkäufer und selbst die Jineteras und Jineteros gehen weniger aggressiv auf Kundenfang. Havanna ist noch immer hektisch und geschäftig, scheint aber auch seinen Lebensrhythmus gefunden zu haben.

Langsame aber stetige Verbesserungen

Vielleicht hängt das mit dem zwar nur sehr langsam aber stetig steigenden Lebensstandard und den für viele Kubaner noch lange nicht ausreichenden aber trotzdem erkennbaren Verbesserungen zusammen.

Die staatlichen und privaten Märkte sind voll mit Obst und Gemüse. Im Gegensatz zum Vorjahr sind Zitrusfrüchte, Bananen und Papayas in ausreichender Menge und guter Qualität vorhanden. Auf vielen Märkten sind jetzt sogar Blumenkohl und Brokkoli im Angebot – in dieser Fülle ein Novum in Havanna. Alles wird zu fairen Preisen und in nationaler Währung gehandelt.

Auch in anderen Bereichen wird das Leben für die Bürger etwas einfacher. In vielen Stadtteilen sind die alten verrotteten Wasserleitungen bereits durch neue ersetzt worden. Das verbessert die Versorgung und verringert die Verluste des kostbaren Trinkwassers durch unentdeckte Leckagen. Das auch bei Kubanern mittlerweile nicht mehr wegzudenkende Mobiltelefon erlebt einen zusätzlichen Boom. Die Telefongesellschaft Etecsa hat die Preise für die Verbindungen gesenkt, bei Aufladungen ist das Guthaben länger als früher verfügbar und seit März sind erste Internetportale (EcuRed) auch für Mobiltelefone nutzbar.

Wer durch Havanna läuft, muss sich oft im Zickzack durch die Straßen bewegen oder sogar kleine Umwege gehen, weil Straßen gesperrt sind. Überall wird gebuddelt, werden Kabelstränge und Rohre verlegt und ganze Straßenzüge renoviert. In vielen Stadtteilen schreitet der Verfall ganzer Gebäude zwar weiter voran, doch gibt es mittlerweile auch mehr erfolgreiche Gegenmaßnahmen. So wird die Dauerbaustelle Malecon Stück für Stück in Schuss gesetzt, am Parque Central wurden Verkehrsinseln und mit Palmen bepflanzte Parkplätze neu angelegt, die die vielbefahrene Zone für Fußgänger und Radfahrer etwas weniger gefährlich machen. Und schließlich gibt es auch für Besucher, die im beliebten Café Escorial an der Plaza Vieja der Altstadt eine Tasse frischgerösteten Espresso (für 0,75 CUC) genießen möchten, eine gute Nachricht: Auch in dieser Zone werden neue Wasserleitungen verlegt, die die Frischwasser-Tankfahzeuge zur Versorgung der umliegenden Gebäude und den Höllenlärm, den sie dabei verbreiten in irgendeiner Zukunft überflüssig machen werden.

Das Problem mit der Reisefreiheit

Die seit 14. Januar 2013 geltenden neuen Reiseregelungen, nach denen zur Ausreise nur noch der Reisepass, ein Flugticket und das Visum des Ziellandes vorgelegt werden müssen, hat auch den Kubanern die »Normalität« ihrer Nachbarn gebracht. Aber auch deren Probleme. Was Bürger aus anderen armen Ländern schon immer kennen, erleben jetzt auch die Kubaner. Die diplomatischen Vertretungen Europas, Kanadas, der USA und fast aller anderen Länder verweigern die notwendigen Visa. Wer nicht wohlhabend ist oder »Dissident« hat in diesen Ländern keine Chance auf freies Reisen. Im Büro der deutschen Fluggesellschaft Condor an der Calle 23, der salvadorianischen Taca Airlines und der italienischen Reiseagentur Press Tours im Hotel Habana Libre wird das Straßengerücht bestätigt: »Es werden kaum Visa ausgestellt. Die Reisefreiheit bleibt für viele hier ein Traum. Aber diesmal kann niemand die kubanische Regierung dafür verantwortlich machen. « So müssen die kubanischen Bürger frustriert zur Kenntnis nehmen, dass sie als normale Besucher in vielen Ländern offenbar nicht willkommen sind, während die vom Ausland finanzierten Systemgegner als Kronzeugen gegen Kuba und den Sozialismus auf Einladung und mit allen Privilegien versehen in der kapitalistischen Welt umherreisen.

Auf die Zukunft gesetzt

Viele Habaneros, deren Fernweh nicht gestillt werden kann, engagieren sich nun umso mehr, um ihre eigene Ökonomie – aber auch das eigene Land – voran zu bringen. Vielleicht bewirkt die Konfrontation mit den Realitäten der kapitalistischen Welt ja mehr als die gutgemeinten Parolen der Vergangenheit.

Auch die wiedererstarkende Russische Föderation vertraut auf Kubas Zukunft und sucht erneut den Schulterschluss mit dem einstigen engen Verbündeten. Ende Februar unterzeichneten deren Premierminister Dimitri Medwedew und Kubas Präsident Raúl Castro zehn bilaterale Abkommen, mit denen die Beziehungen beider Länder auf eine neue Ebene gehoben werden. Das erklärte Ziel ist für beide Seiten eine »strategische Partnerschaft«. Denn, so wissen russische Wirtschaftsexperten: »Kuba hat für die künftige wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas eine Schlüsselposition und eine geopolitisch einmalig vorteilhafte Lage.« Und von Mitgliedern der russischen Delegation in Havanna war zu hören: »Wir verteilen hier keine Geschenke. Wir setzen auf die Zukunft.«

Es tut sich also etwas auf Kuba in diesem Jahr. Und wo, wenn nicht in Havanna, werden die Veränderungen am deutlichsten sichtbar. Wer seine Beobachtungen um etwas geschichtlichen Hintergrund und eine Liebeserklärungen an die Stadt erweitern möchte, dem sei die vollständige Lektüre des Eingangs erwähnten Bandes mit Geschichten von Alejo Carpentier empfohlen. Dazu die nicht neue aber immer wieder hörenswerte Aufnahme von Los Van Van: »Habana Sí !« Und dann – wenn der Geldbeutel es zulässt – nichts wie hin: Nach Habana Socialista !

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CUBA LIBRE 2-2013