Santiago Feliú – das komplizierte Genie

Santiago Feliú ist – da lege ich mich fest – der zweitbeste »cantautor« Cubas. Ich mache dieses Urteil auch nicht zum Gegenstand von Diskussion über Geschmäcker. Er ist es und fertig ! (Um den dritten Platz auf dem Treppchen kloppen sich dagegen einige.)

Santiago Feliú


Silvios Kronprinz hat bislang einen Output von sechs bis sieben Alben, eines davon im Duo mit dem zu früh verstorbenen Noel Nicola. Alle sind hypnotisch schön. Durch die Bank gute Texte und anspruchsvolle, dennoch erinnerbare Melodien. Der Sound im Wesentlichen von akustischen Gitarren, auch mal von einem Grand Piano, zum Teil durch Percussions, E-Bass und Schlagzeug verstärkt.

Sein jüngstes Album hat er mit 8 anderen Leuten eingespielt, aber seine Begleitmusiker setzt er in homöopathischen Dosen ein, sodass niemals der Eindruck einer Verfettung einzelner Songs entsteht. Die CD hat den Titel »Ay, La Vida«. Der Stoßseufzer macht Sinn, wenn man sein Konzert von Mitte Juli in Havannas »Sala Coraruvia« im Teatro Nacional Revue passieren lässt. »Das Leben«, das, wie man gerüchteweise hört, für ihn früher von (weichen) Drogen abhing, scheint ihn nach einem längeren Zeitraum, in dem er als »clean« galt, doch wieder eingeholt zu haben. Der obsessive Tick, dass jede seiner Gitarren verstimmt sei, brachte ihn dazu, 8 oder 9 Songs mittendrin abzubrechen – ein völliges »No Go« bei Konzerten ! Und nach nervtötendem – und gänzlich unnötigem – Nachstimmen begann er aufs Neue. Einmal, als er vermutlich selber merkte, wie grotesk das wurde, stellte er die Frage: »Was ist schlimmer als eine verstimmte Gitarre ?«

Ein Typ aus dem Publikum rief als Antwort: »ZWEI verstimmte Gitarren !« Santiago nickte schwach. Er wusste wohl, dass er den Gag nicht zum ersten Mal brachte.
Hinzu kam nach ca. einer Stunde der plötzliche Hinweis, dass er mal kurz hinter die Bühne müsse.
Eine Pause ist bei einem Gig ja nichts Besonderes, aber wenn es bereits nach fünf Minuten weiter geht, was soll das wohl anderes bedeuten als ...?

Santiago Feliú -Ay, La Vida


»Ay, La Vida« zeigt auf dem Cover seine Spielhand mit Handschellen an den Gitarrensteg gekettet. Das spricht ebenso für sich selbst wie das Foto im Aufklappteil, das eine dornige Leiter nach oben zeigt.

Ich muss gestehen, dass es mir von Herzen egal ist, wie viele Joints dieser tolle Künstler braucht, um über den Tag zu kommen. Hauptsache, es tut seiner Kreativität keinen Abbruch.

P. S.: Besagtes Konzert, das einerseits klasse und andererseits auch eine veritable Katastrophe war, verlief vollkommen ohne Pfiffe. Beifall gab es hingegen reichlich.



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CUBA LIBRE 4-2012