Interview mit Noel Carillo
Noel Carrillo ist Mitarbeiter des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. Er war im Januar auf Einladung von Cuba Sí in Deutschland, um an der Rosa Luxemburg-Konferenz der "jungen Welt" teilzunehmen. Außerdem hatte er die Gelegenheit mit Mitgliedern des Bundestags zusammenzukommen, sowie mit Vertreter/inne/n von politischen Stiftungen und den Parteien "Die Linke", DKP und SPD. Auch gab es öffentliche Diskussionen über die Aktualisierungen des kubanischen Sozialismus in Berlin, Bernau, Stuttgart, Essen und Bochum; zumeist organisiert von "Die Linke" und der DKP.
Foto: Marion Leonhardt |
CL: Lieber Noel, die Medien sprechen gern über die Aktualisierungen, aber nicht mit allzuviel Wissen. Schlimmer: sie nennen sie "Reformen".
NC: Natürlich ist der Prozess, den wir auf Kuba durchführen kein Reformprozess wie man den Begriff in Europa versteht, denn es geht nicht um die Verneinung dessen, was wir schon gemacht haben, oder um seine Einordnung als Fehler, sondern um eine Anpassung unseres Wirtschaftsmodells an die Bedingungen Kubas und der Welt heute. Die Aktualisierung hat die Stärkung des Sozialismus und die Erhaltung seiner Errungenschaften zum Ziel, die in den vergangenen 53 Jahren erreicht wurden. Wir brauchen eine starke und nachhaltige Wirtschaft, um weiterhin den Aufbau einer Gesellschaft voranzutreiben, die die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die Chancengleichheit und die auf Partizipation basierende reale Demokratie priorisiert.
CL: Die Probleme in der Landwirtschaft verlangen Lösungen, es gibt reichlich Brachland.
NC: In der Tat, der Anstieg der Nahrungsmittelproduktion ist unabdingbar um die Nachhaltigkeit unserer Wirtschaft zu erreichen, daher sind viele der Maßnahmen der Aktualisierung auf die Landwirtschaft ausgerichtet. Bis heute sind 1,8 Millionen Hektar Brachland zum Nießbrauch übergeben worden; an Menschen, die es bearbeiten wollen. Darüber hinaus ist der Verkaufspreis vieler Produkte, die der Staat den Landwirten abkauft, erhöht worden und die Mechanismen der Kommerzialisierung sind flexibilisiert worden. Es bleibt aber noch viel zu tun, und diese Änderungen brauchen Zeit um vollständig zu funktionieren. Aber schon letztes Jahr konnten wir ein leichtes Ansteigen der Nahrungsmittelproduktion feststellen.
CL: Man redet viel von den neuen (und auch nicht ganz neuen) Formen von selbständiger Arbeit, aber außerdem wird ein Anstieg von Genossenschaften vorgesehen. Sind die Genossenschaften das neue Allheilmittel? Gehören sie zum sozialistischen Wirtschaftsbereich?
NC: Die Genossenschaften sind Teil des Aktualisierungsprozesses, und als Produktionsform existieren sie seit vielen Jahren auf Kuba. Der Unterschied ist, dass sie jetzt außer in der Landwirtschaft auch in anderen Bereichen Anwendung finden werden. Wir gehen davon aus, dass sie kompatibel mit dem sozialistischen Wirtschaftssystem und Teil von ihm sind; noch mehr, wenn sie sich im Rahmen eines Landes entwickeln, dessen Staat die Macht der Arbeiter repräsentiert. Ich glaube nicht, dass es nur ein Mittel oder nur eine allmächtige Formel gibt um die kubanische Ökonomie zu entwickeln; man muss letztlich Mechanismen anschieben, die zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur Reduzierung unserer Abhängigkeit von Importen beitragen. Das wiederum erreicht man mit der Schaffung einer größeren Anzahl von Genossenschaften in anderen Wirtschaftsbereichen, aber auch mit der Perfektionierung der staatlichen sozialistischen Betriebe, welche nach wie vor den wesentlichen Anteil der Besitzverhältnisse auf Kuba darstellen werden.
CL: Achtzig Prozent der Selbständigen sind Gewerkschaften beigetreten. Wie ist es zu verstehen, dass "Kleinunternehmer" sich gewerkschaftlich organisieren?
NC: Ich glaube, dass die Tatsache, dass eine hohe und schnelle gewerkschaftliche Organisierung vonstatten ging, das Zeichen eines hohen Grades an politischem Bewusstsein bei den kubanischen Arbeiter/inne/n ist. Das ist eben deshalb geschehen, weil ein Eigenbewusstsein als "Arbeiter" vorherrscht und eben nicht eines als Kleinunternehmer. Die Gewerkschaften sind eine wichtige und unabdingbare Partizipationsplattform in der Entscheidungsfindung unserer Revolution, und die Mitgliedschaft in ihnen ist Ausdruck der revolutionären Selbstverpflichtung. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die nun auf eigene Rechnung arbeiten, sind Teil des kubanischen Volkes und als solcher nehmen sie Teil am revolutionären Prozess.
CL: Es gibt Leute, die im "Nach Fidel"-Gerede Differenzen zwischen Fidel und Raúl entdecken…
NC: Ich bin mit einem "Nach Fidel"-Gedanken nicht einverstanden, denn Fidel ist unter uns und ist Anführer der Revolution. Der Aktualisierungsprozess wird jetzt gemacht, weil es wichtig ist, dass die historische Generation der Revolution noch daran teilhat, und zwar mit der moralischen Autorität, die sie vom Moncada-Überfall bis heute in unserem Volk gewonnen hat. Raúl selbst sagte öffentlich, dass jede Entscheidung auf Kuba mit Fidel abgestimmt wird. Oft wird böswillig die Idee verbreitet, es gäbe bei uns Differenzen zwischen den Revolutionären, aber ich versichere euch, dass das falsch ist und es im Gegenteil genau die Einheit ist, die eines der Elemente darstellt, die es uns möglich gemacht haben alle Aggressionen zurückzuweisen und im Aufbau des Sozialismus weiterzumachen.
CL: Auf Kuba gibt es auch Menschen, die sich auf Che beziehen, wenn sie sagen, dass man den Sozialismus nicht mit den "alten Waffen des Kapitalismus" aufbauen kann. Deine Antwort?
NC: Na, dass ich einverstanden bin mit Che. Aber wenn es sich auf die Nutzung kapitalistischer Werkzeuge im Rahmen der Aktualisierung bezieht, dann ist das eine partielle und vorurteilsgeladene Analyse der Wirklichkeit. Der Aufbau des Sozialismus ist ein sehr langer und nicht unkomplizierter Prozess, in dem die Menschheit noch wenige Erfahrungen hat. Denn kaum hundert Jahre sind sehr wenig um die erste bewusste Form gesellschaftlicher Organisierung zu errichten. Ich bestehe darauf, dass Aktualisierung bedeutet, die Dinge gemäß dem Moment zu machen, in dem wir leben; und es heißt auch uns an der Dialektik zu orientieren. Was wir auf Kuba machen, ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Basis zu schaffen, damit das sozialistische System lange bestehen und die soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit garantieren kann. Es gibt keine Universalformel und auch keine Magie, dieses Ziel zu erreichen, weshalb wir auf Kuba einen eigenen Weg gehen.
CL: Themawechsel. Du bist Mitarbeiter beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Was macht ein Noel Carrillo da?
NC: Ich bin Mitarbeiter der Abteilung für internationale Beziehungen beim Zentralkomitee der KP, und meine Aufgaben beziehen sich auf die Parteibeziehungen unserer Organisation zu anderen europäischen Parteien. Wir haben Beziehungen zu einer breiten Palette von politischen Kräften in der Welt, wobei die einzige Vorbedingung der gegenseitige Respekt ist. Ausgeschlossen sind natürlich Beziehungen zu Parteien der extremen Rechten und zu Faschisten.
CL: Die internationalen Beziehungen sind für Kuba immer von großem Wert gewesen, auch bezogen auf die staatlichen Verbindungen. Kuba ist ja zum Beispiel schon zwei Mal Präsident der Bewegung der Blockfreien gewesen.
NC: Die internationalen Beziehungen Kubas leiten sich zuallererst nach den Prinzipien des proletarischen Internationalismus und unserer moralischen Verpflichtung für die Länder der so genannten "Ditten Welt" in ihrem gerechten Kampf um ihre Rechte, ihre Vielfältigkeit und ein neues, gerechteres internationales Wirtschaftssystem. Unsere internationalen Beziehungen sind aber auch wichtig für die Überwindung der Isolation und der Politik des Misskredits gegen Kuba; Aspekte, die Teil der US-Blockade gegen mein Land sind.
Wir nehmen aktiv teil an multilateralen Organen wie der genannten Bewegung der Blockfreien, der kürzlich gegründeten "Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik" (CELAC), oder an ALBA (Bolivarianisches Bündnis der Völker Amerikas). Kuba ist aber auch präsent bei vielfältigen Institutionen und Mechanismen der Vereinten Nationen, wo wir für die Durchsetzung der Prinzipien von Souveränität und Unabhängigkeit der Länder streiten.
CL: Was kann man denn, allgemein gesprochen, mit der internationalistischen Solidarität erreichen? Was müssen wir aus deiner Sicht tun, um mehr Erfolg in den Medien zu haben?
NC: Nun, die internationale Solidarität, die wir seit den ersten Jahren der Revolution bekommen haben, war ein unschätzbarer Beitrag um die Wahrheit über Kuba zu verbreiten und auf diese Weise den Diffamierungskampagnen der "Großmedien" zu begegnen. Ich glaube, dass die Solidarität so auch verhindert hat, dass unsere Feinde ein günstiges Szenario in der Weltöffentlichkeit schaffen konnten, um aggressivere Aktionen gegen Kuba zu starten. Die materielle Solidarität hat auch eine sehr wichtige Rolle gespielt, besonders während der schwierigsten Jahre der Sonderperiode, wenn ich auch glaube, dass die politische Solidarität einen immer effektiveren Platz einnimmt. Der Zugang zu den traditionellen Printmedien wird immer eine Herausforderung bleiben, denn die so genannte Pressefreiheit im Westen ist eine Illusion – die großen Medien sind immer Werkzeug der Machtzirkel und der mächtigen Wirtschaftsinteressen, deshalb sind die alternativen Medien sehr wichtig.
CL: Der Fall der fünf Helden ist beispielhaft, wenn man vom Komplizentum der kapitalistischen Massenmedien spricht. Sie werden praktisch komplett verschwiegen. Die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba unterstützt die Initiative der Deutschen Koimmunistischen Partei für Kundgebungen vor den fünf Konsulaten und der Botschaft der Vereinigten Staaten am 17. März, wo die Freilassung der fünf Männer gefordert werden wird. Wird eine solche Aktion auf Kuba bekannt?
NC: Der Fall der fünf Helden zeigt, wie weit eine bestimmte Presse mit den US-Interessen verbandelt ist. Sie sind politische Gefangene, und ihre Inhaftierung hält nicht einmal der kleinsten juristischen Analyse stand; dennoch verschweigt die Presse ihren Fall trotz der immer größeren internationalen Solidarität. Ich glaube, dass die solidarischen Aktionen, die die Mobilisierung von sehr vielen Menschen in aller Welt beinhalten, es ihnen jedes Mal schwerer machen diese Ungerechtigkeit zu verbergen - und genau das ist der Weg um ihre baldige Freilassung und die Rückkehr in ihr Land und zu ihren Familien zu erreichen. Natürlich werden auf Kuba die Aktionen, die in der ganzen Welt für die Befreiung unserer fünf Genossen gemacht werden, veröffentlicht. Und das kubanische Volk dankt von ganzem Herzen für so viel Solidarität und Sensibilität für die Fünf.
Die Fragen stellten Renate Fausten und Günter Pohl
CUBA LIBRE 2-2012