Soße für den Gänserich

Die Debatte dauert an; war das Töten von Osama bin Laden gerechtfertigt oder nicht? Eine recht nutzlose Debatte ist es geworden; schließlich ist er eben ganz tot. Bei mir allerdings, trotz der Entfernung von Zeit und Ort, kehren dabei einige Erinnerungen immer wieder zurück, und zwar nicht allein jene fürchterliche Bilder von den beiden zusammenstürzenden Hochhäusern in New York vor zehn Jahren (- nein, halt, es waren drei Gebäude!).

Nein, ich denke viel weiter zurück: an die Tragödie des cubanischen Flugzeugs, das am 6. Oktober 1976 in der Karibik explodierte, wobei die fünfköpfige Crew und alle 73 Passagiere in den Flammen oder im Meer starben, darunter die gesamte preisgekrönte Fechtmannschaft von Cuba, viele von ihnen erst Teenager. Ich kann auch nicht vergessen, dass alle vier Männer, die direkt für diesen Horror verantwortlich waren, Verbindungen zu der CIA hatten. Später stellte sich eindeutig heraus, dass diese im Voraus zumindest von dem Attentat gewusst hat.

Meine Gedanken wandern dann noch weiter; ich denke an ein Ereignis, das noch fünfzehn Jahre früher geschah. Im April 1961, nach der kriegerischen Vernichtung von cubanischen Flugzeuge am Boden, begann die Invasion der sogenannten Schweinebucht im Süden des Landes – geplant, finanziert, trainiert und organisiert durch die gleiche CIA und andere US-Institutionen. Es starben wohl bis zu 4.000 CubanerInnen bei der Abwehr dieses Angriffs.

Die Männer, die für diese blutige Invasion in der Schweinebucht hauptverantwortlich waren - vor allem waren das CIA-Direktor Allen Dulles und die beiden Präsidenten, welche die Aktion unterschrieben, Eisenhower und Kennedy - leben nicht mehr.

Doch muss ich heute wieder an dem Spruch denken, den ich als Kind lernte, also "What’s sauce for the goose is sauce for the gander,” also zu Deutsch "Was für die Gans gilt, gilt auch für den Gänserich!" Hätte Cuba also nicht das Recht gehabt, ja, hätte es heute nicht immer noch, eine eigene Art "SEAL Team 6" hinüber zu schicken, um die zwei Hauptorganisatoren der Flugzeugexplosion, Luis Posada Carriles und Orlando Bosch Avila, "abzufertigen"? Diese wären leicht zu finden, sie haben sich nicht in irgendeiner Höhle oder geheimen Villa versteckt, sondern ein recht sorgenfreies Leben in Florida genossen - denn Gerichtsentscheidungen in den USA verhinderten, dass sie nach Venezuela ausgeliefert wurden, wo sie bereits verurteilt worden waren, oder nach Cuba – wo sie, wie man meinte, vielleicht "gefoltert" würden. (Nein, damit dachte man gerade nicht an das Gefangenenlager der US-Militärbasis in Guantánamo).

Posada Carriles wurde nur wegen irgendwelcher unbedeutender Passvergehen angeklagt und ohne weiteres freigesprochen. Bosch, einst von einem US-Experten als "einer der gefährlichsten Terroristen Amerikas" charakterisiert, wurde vor Jahren amnestiert – und zwar ausgerechnet vom dem damals gerade amtierenden Präsidenten, George H. W. Bush, der zur Zeit des Flugzeugbombenattentats zufällig CIA-Direktor war.

Das ergibt eben das erschütternde Gedankenspiel! Wäre nicht Cuba doch berechtigt, irgendeine Art Hubschrauber nach Washington zu schicken um jene noch lebenden Leute "abzufertigen", die für die Anti-Cuba-Ereignisse verantwortlich waren? Da wagt man gar nicht daran zu denken, erst recht nicht, wenn man etwas weiterdenkt – an Chile, Kongo, Vietnam, Grenada, Irak, Afghanistan und die anderen.

Tja, scheinbar fehlt es an einer genaueren Definition von Terrorismus und Terroristen, und an einer Richtlinie, wie sie korrekt zu behandeln sind. Ich persönlich bin insgesamt gegen das Töten als Methode, sowohl von Osama bin Laden wie ganz gewiss von George H.W. Bush oder sonst jemand aus seiner so prominenten Familie. Es wird immer noch, in etlichen Ländern, viel zu viel Blut vergossen!

Ich kann nachträglich etwas Neues hinzufügen. Orlando Bosch, so erfuhr man vor kurzem, ist in Florida friedlich von uns gegangen, vier Tage bevor sein berühmter Mit-Terrorist in Pakistan erschossen wurde.

Auch noch sehr wichtig: die fünf cubanischen Männer, die in Florida herauszufinden versucht haben, wann und wo die aus Miami startenden "Freiheitskämpfer" das nächste Mal mit Bombenanschlägen gegen ihre Heimat zuschlagen wollten, um damit solche Schläge zu verhindern, sitzen seit etwa zehn Jahren in fünf verschiedenen Hochsicherheitszuchthäusern der USA– vier davon zu Lebenslänglich verurteilt, der fünfte zu 75 Jahren (was im Grunde das gleiche ist). Kein Mensch kann richtig erklären, warum sie verurteilt wurden. Doch hat der jetzt amtierende Präsident nicht auf Bitten reagiert, dass er seinen Krieg gegen den Terror auch dadurch führe, dass er diese offensichtlichen Terrorgegner befreie.

Ich muss hinzufügen: ich bin froh, dass jene rassistischen Reaktionäre, die so gern den US-Präsidenten angreifen, indem sie ihn einen "muslimischen Freund der Terroristen" nennen (oder auch einen Sozialisten, einen Kommunisten und sonst was), in solchen Fragen nun weitaus ruhiger geworden sind. Das ist gut so. Doch bleiben die Fragen offen: Was ist der Terrorismus? Wer sind Terroristen? Und wie bekämpft man sie am besten?

Logo CUBA LIBRE Victor Grossman, 18. Mai 2011

CUBA LIBRE 3-2011