Vor 50 Jahren endete die cubanische Analphabetisierungskampagne. Sie dauerte ein Jahr.
In Erinnerung daran ein Text von Mumia Abu Jamal.
Die kubanische Lektion. Die Gründe für das Wunder der Alphabetisierung und die gegenteilige Entwicklung in den USA
Wir leben in einer Welt, in der es verschiedene Formen der Kontrolle über den Zugang zu Wissen und
Bildung gibt. Besonders in der jüngeren Geschichte der USA fällt ein weit verbreitetes unhistorisches
Bewußtsein auf. Das trifft zum Beispiel auf das Allgemeinwissen über unser Nachbarland Kuba zu.
Wer hat schon je von der äußerst wichtigen kubanischen Alphabetisierungskampagne des Jahres 1961
gehört? Wir jungen Black Panthers haben in den 1960er Jahren darüber gelesen, aber auch uns war
diese Kampagne schon bald wieder entfallen. Dabei war sie eine bemerkenswerte und bis dato nicht gekannte
revolutionäre Aktion, die nicht durch Waffen, sondern durch Bleistifte, Schreibhefte und Lehrbücher
vollzogen wurde.
1960 erklärte der junge Fidel Castro vor der Versammlung der Vereinten Nationen, sein Land werde den
Analphabetismus beseitigen, indem es einen gezielten Feldzug dagegen führt. Im Frühjahr meldeten
sich weit über hunderttausend Schüler freiwillig zu dieser Aktion. Als »Alphabetisierungsbrigadistas«
zogen sie in die ländlichen Gebiete Kubas und sagten dem Analphabetismus den Kampf an. Am Ende des
Jahres war das Wunder vollbracht: mit der Hilfe einer Viertelmillion Angestellter des öffentlichen
Dienstes hatten sie das Analphabetentum besiegt. Sie hatten hart gearbeitet, und nicht wenige verloren dabei
ihr Leben durch Unfälle, Krankheiten und den von den USA gesteuerten Terrorismus, der die Kampagne stören
sollte. Doch trotz dieser Erschwernisse gelang es den Brigadistas, ihr Ziel weitestgehend zu erreichen.
Jonathan Kozol hat in einem seiner frühen Werke, das 1978 unter dem Titel »Children of the Revolution:
A Yankee Teacher in the Cuban Schools« in New York erschien, das Interview mit einem Brigadista veröffentlicht,
der später eine Laufbahn im Auswärtigen Dienst Kubas einschlug. Armando Valdez erinnert sich:
»Ich habe mir vorher nicht vorstellen können, daß Menschen unter solchen Bedingungen leben müssen.
Ich selbst entstamme einer gebildeten, gutsituierten Familie. Diese Monate waren wie das Konvertieren in
eine neue Religion. Für mich war es das Absterben eines alten Lebens und der Beginn von etwas völlig
Neuem. Obwohl man mir beigebracht hatte, daß Männer nicht weinen, kamen mir die Tränen, als
ich sah, wie verzweifelt diese Menschen waren – Menschen, die kaum etwas zum Leben hatten. Nein, ›kaum etwas‹
ist übertrieben, sie hatten überhaupt nichts! Ich konnte das anfangs gar nicht glauben.
Ich mußte darüber also nicht bei Marx, Lenin oder Martí lesen. Ich sah es mit eigenen Augen. Ich
weinte jede Nacht. Ich schrieb es meiner Mutter und meinem Vater. Ich war ja erst zwölf Jahre alt. Es
war aufregend für mich, an etwas teilzunehmen, das es in unserem Land so vorher noch nie gegeben hatte.
Ich wollte um jeden Preis beweisen, daß wir in der Lage waren, das Versprechen zu halten, das Fidel vor
aller Welt gegeben hatte. Ich wollte nicht, daß uns irgendwer nachsagen konnte, wir hätten nicht
fest an Fidels Seite gestanden.«
In nur einem Jahr hatten die Kubaner etwas vorher Unerreichtes vollbracht. Die Kinder verließen mit
Unterstützung ihrer Lehrer ihre Schulen, zogen aufs Land, gingen in die Berge und brachten den Menschen
dort Lesen und Schreiben bei.
Zehntausende dieser Menschen schrieben später an Fidel und schilderten das Erlebte in bewegenden Worten,
zu Papier gebracht mit ihren eigenen Händen, die noch nie zuvor einen Stift gehalten hatten. Von einem
dieser erwachsenen Schüler, einem älteren Mann namens Juan Martínez, wird zitiert: »Bevor ich
lesen und schreiben konnte, habe ich mich eigentlich nie wirklich als Kubaner gefühlt.«
Warum hat sich gerade Kuba, das nur über sehr begrenzte Mittel verfügte, in den Nachwehen einer
schwer erkämpften Revolution eine solche Aufgabe aufgebürdet? Kozol vermutet, daß Fidel stark
von dem großen kubanischen Dichter und Revolutionär José Martí inspiriert war, der einst empfohlen
hatte: »Es ist notwendig, sich in einer Kampagne der Freundlichkeit und des Wissens zu engagieren und eine
Brigade missionarischer Lehrer zu den Bauern zu schicken.«
Die Kubaner brachen nicht nur zu einer Alphabetisierungsmission auf, sondern sie brachten hunderttausend
Schulkinder dazu, sich daran zu beteiligen. Indem sie das taten, verbanden sie die Stadt mit dem Land, die
Mittelschicht mit der Bauernschaft und erweiterten so das Bewußtsein darüber, was es bedeutete,
ein Bürger dieser Nation zu sein. Außerdem lehrten sie eine ganze Generation von Kindern, wofür
diese Revolution in Wahrheit durchgefochten worden war: für die Armen, für die Bauern, also für
die Ausgeschlossenen des Hinterlandes.
Warum ist das gerade für uns in den USA von so großer Bedeutung? Weil wir in einer Zeit leben, in der
Superreiche die Welt unter sich aufteilen, während unzählige Kinder immer noch unter Bedingungen
geboren werden, die an einen Viehstall erinnern, der vor über zweitausend Jahren zur Legende wurde. Und
Jahr für Jahr werden in den USA die Schulen schlechter, und Lesen und Schreiben werden zu einer
vergessenen Kunst. Immer weniger US-Amerikaner lesen noch ein Buch – wenn sie überhaupt lesen können.
Wir haben also viel aus der Geschichte zu lernen, und die Lektion, die uns Kuba erteilt, ist nur eine davon.
von Mumia Abu Jamal
Übersetzung: Jürgen Heiser
junge Welt 23.12.2006
Cuba gilt im internationalen Vergleich in Bezug zum erfolgreichem Kampf gegen den Analphabetismus auch weiterhin als vorbildlich. Das wird deutlich, wenn man sich andere Beispiele vor Augen führt. Es gab immer wieder Versuche einzelner Länder, den Alphabetisierungsgrad kurzfristig zu erhöhen. Als beispiellos in der Geschichte der Bildung kann die Alphabetisierungskampagne in Nicaragua zu Beginn der 1980er Jahre gesehen werden. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur erklärte die sandinistische Regierung die Alphabetisierung des Landes zu einer ihrer Hauptmissionen. Im sogenannten "Kreuzzug gegen die Ignoranz" zogen etwa 100.000 Freiwillige in die entlegenen Dörfer der ländlichen Gebiete und unterrichteten, zum Teil in drei Schichten am Tag.
In nur zwei Jahren gelang es, die Analphabetenquote von 65% auf 12% zu senken. Nach der Abwahl der sandinistischen Regierung 1990 wurden die Bemühungen im Bildungswesen zurückgeschraubt.
Zur Zeit besuchen ein Drittel der schulpflichtigen Kinder Nicaraguas – etwa 800.000 – keine Schule mehr. Nach den entsprechenden Human Development Reports lag 1990 die Analphabetenquote bei 19,0%, 2005 betrug sie 23,3%. die cubanische Alphabetisierungsrate bei ca. 96%. allerdings muss man eingestehen, gibt es auch andere Probleme im Bildungsbereich.
Bildung ist in Cuba an sich kostenlos und es besteht eine 9-jährige Schulpflicht. Cuba hat ein dreigeteiltes Bildungssystem, das aus Grund-, Mittel- und Oberschule besteht. Cubas Bildungssystem gilt als eines der besten in Lateinamerika. 2001 lagen die cubanischen Schüler der vierten und fünften Klasse bei einem Test der UNESCO weit vor den anderen lateinamerikanischen Ländern. Die Einschulungsquote liegt bei 100 Prozent, Analphabetismus geht gegen null.
Nach dem UNESCO-Education for All Development Index gehört Cuba zu den hochentwickelten Ländern der Welt im Bildungsbereich mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung.
In den letzten Jahren herrscht jedoch ein immer akuter werdender Lehrermangel. Viele Lehrer arbeiten, trotz ihrer guten Ausbildung, genauso wie zahlreiche Ärzte und andere Hochqualifizierte, lieber im Tourismussektor, weil allein das Trinkgeld ein Vielfaches eines cubanischen Gehalts beträgt. Auch verleiht Cuba viele Lehrer , als Ausgleich für verbilligtes Öl aus Venezuela, an verschiedene befreundete Staaten Lateinamerikas, um dort beim Aufbau eines funktionierenden Bildungssystems zu helfen.
Diesen Lehrermangel versucht die cubanische Regierung mit sogenannten "Nothilfelehrern", 16- bis 18-jährigen Schulabgängern, die in Schnellkursen auf ihre Aufgaben vorbereitet werden, und durch Teleklassen, also Unterricht per Videokassette, zu kompensieren. Außerdem sollen schon pensionierte Lehrer wieder in den aktiven Schuldienst gelockt werden. Der Anteil der junge Notstandslehrer sei inzwischen auf knapp 50 Prozent gestiegen, was einen qualifizierten Unterricht nahezu unmöglich mache.
Bernd Bieberich
Neues Deutschland, 19.12.2008