Mehr als 5 Jahre regiert in Bolivien schon der linke Präsident Morales. In den letzten Jahren war seine Regierung häufig von ultrarechten Kräften bedroht, die sich noch immer nicht damit abfinden können, dass ein Gewerkschafter und Freund der Indigenen jetzt Präsident ist.
Doch in den letzten Monaten wurde in den Medien häufiger berichtet, dass die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in Bolivien mobil machen. Sie protestieren gegen Preiserhöhungen und verlangen höhere Löhne. Im Mai 2010 rief der Gewerkschaftsverband COB erstmals in der Regierungszeit von Morales zu einem Generalstreik für höhere Löhne auf.
Ein weiterer Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen sozialer Bewegung und Regierung fand im Dezember 2010 statt, nachdem die Subventionen für Treibstoff drastisch reduziert worden waren, was zu einer drastischen Preissteigerung im Land führte. Nachdem Gewerkschaften und soziale Bewegungen mobilisiert hatten, nahm die Regierung die Subventionskürzungen wieder zurück. Die sozialen Bewegungen waren zufrieden, die Regierung redete davon, dass dadurch deutlich wird, dass es einen anderen Regierungsstil gibt. Nur die rechte Opposition und die deutschen Medien sprachen davon, dass die Regierung an Autorität eingebüßt habe.
Auch in diesem Jahr gibt es in der Lohnfrage Spannungen zwischen Regierung und Gewerkschaften. Die Gewerkschaften bezeichnen die von der Regierung verfügte Lohnerhöhung von 10% und die Anhebung des Mindestlohns um 20 % als lächerlich.
Vergleich mit Chile unter Allende
Einerseits ist die Mobilisierung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen eine gute Nachricht. Schließlich wird dadurch deutlich, dass die linke Regierung nicht, wie so oft, zur Eindämmung und Integration sozialer Bewegungen führt. Bolivien ist auch unter Morales ein kapitalistischer Staat und die Lohnabhängigen, die Bauern und die arme Bevölkerung haben allen Grund, für die Besserung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen. Dass die Morales-Regierung anders als ihre Vorgänger nicht mit Repression auf die Kämpfe der Bevölkerung reagiert sondern unpopuläre Maßnahmen zurückzieht, zeigt, dass in Bolivien eben nicht nur die Köpfe ausgetauscht wurden sondern sich auch die Politik geändert hat.
Es gibt Parallelen zwischen der Situation der Morales-Regierung und der Allende-Regierung in den frühen 70er Jahren. Damals streikte ein Teil der Kupferarbeiter, die weiterhin in Dollars bezahlt werden wollten. Allende ging zu den Streikenden in die Fabrik und erklärte, er werde keine Panzer gegen die Streikenden einsetzen. Er könne sie nur überzeugen, dass die Forderungen des Streiks nicht erfüllbar sind. Allende gelang es, die Arbeiter davon zu überzeugen. Wie in Chile 1972 so beteiligen sich auch im Bolivien der Gegenwart privilegierte Teile der Lohnabhängigen an den sozialen Protesten.
Wie der Politologe und Lateinamerikaexperte Helge Buttkereit in der Zeitschrift analyse und kritik (ak) schreibt, sind die Proteste in Bolivien auch ein Indiz dafür, dass es in Bolivien anders als in Ansätzen in Venezuela kaum gelungen ist "Strukturen für eine effektive Interessenartikulation dieser sozialen Bewegungen zu schaffen".
Buttkereit schreibt: "Eine Neukonstituierung von Macht hat bislang ebenso wenig von Seiten der Regierung stattgefunden, wie große Teile der Bewegung bereit zu sein scheinen, ihre traditionellen Formen des Protests hin zu einer neuen Form der protagonistischen Selbstregierung von unten zu transformieren." Buttkereit weist zu Recht darauf in, dass es falsch wäre, wenn eine sozialistische Umgestaltung sich auf die Gemeinschaft der Indigenen stützten würden, ein Diskurs, der im gegenwärtigen Bolivien häufig geführt wird. Das Reich der Inka war nämlich alles andere als eine befreite Gesellschaft sondern eine despotische Herrschaftsstruktur. Jeder Bezug zu einer emanzipatorischen Gesellschaft verbietet sich daher. Auch die Verwendung der unter der Morales-Administration häufig benutzten und in Teilen der weltweiten Umweltbewegung aufgegriffenen Vokabel Pachamama, Mutter Erde, ist kritisch zu hinterfragen.
Soziale Bewegung statt Pachamama
Wie der französische Journalist Renaud Lambert in einem Beitrag in der Le Monde diplomatique 2/2011 nachweist, ist das Konzept des Pachamama keineswegs indigene Tradition. Noch vor dreißig Jahren war davon in ganz Lateinamerika kaum die Rede. Das Konzept wurde von Intellektuellen in den letzten Jahrzehnten verstärkt propagiert, die Ethnologin Antoinette Molinie spricht von regelrechten Missionsveranstaltungen. Nicht nur die internationale Umweltbewegung und viele Nichtregierungsorganisationen, auch internationale Finanzorganisationen, haben mittlerweile an einer bestimmten Spielart von Indigenismus Gefallen gefunden. Demgegenüber ist mit dem Geografen David Harvey festzuhalten: "Über die Veränderung bestimmter Ökosysteme nachzudenken, heißt weniger die Rechte einer hypothetischen Mutter Erde zu verteidigen, als vielmehr Formen der sozialen Organisation zu verändern, die diese hervorgebracht haben." Es wird sich zeigen, ob Linke in Bolivien diesen Weg gehen wird.