Buchrezension:
Rey, Romeo, Theorie und Praxis der Linken in Lateinamerika, Hamburg, VSA, 2008
Ein Buch über die Geschichte der lateinamerikanischen revolutionären Bewegungen legte der Autor Romeo Rey vor.
Lediglich in der Einleitung fasst Rey knapp, präzise aber ausreichend die aktuellsten Entwicklungen in Lateinamerika (2006-2008) zusammen.
Direkt darauf folgt das ausführliche- Kapitel über den "Che". Warum es hier, noch vor den älteren Vordenkern der Linken eingefügt ist, ist das Geheimnis des Autors. Ich finde jedoch, dass besagter Abschnitt selber eine ausgezeichnete Präsentation und Würdigung des unsterblichen Revolutionärs ist. Erfreulich objektiv werden sein Werdegang und seine oft idealistischen Vorstellungen dargestellt. Auch auf seine Schattenseiten wird angemessen eingegangen. Nun erst beginnt die Chronologie.
Unter der Rubrik "Vordenker" werden eine Reihe von in Europa kaum bekannten Linken vorgestellt. Besonderen Wert und das wohl nicht zu Unrecht im Hinblick auf die spätere Entwicklung - wird auf Theoretiker gelegt, die wie Mariátegui schon frühzeitig linkes Denken von der "Dominanz des Eurozentrismus befreit" haben, d.h. Leute, die sich schon früh vom Einfluss z.B. der Komintern gelöst haben und die auch nicht in die Falle des "indigenismo" tappten, wo die Ureinwohner als alleiniger Motor der fortschrittlichen Entwicklung betont wird.
Standortbestimmungen: Mexiko,...
Nach der Theorie folgt die Darlegung der verschiedenen Versuche diese in die Praxis umzusetzen in ihrer zeitlichen Abfolge. Den Anfang macht die Großmutter der sozialen Revolutionen - in Lateinamerika, die mexikanische Revolution. Sehr anschaulich wird das Auf und Ab dieser wesentlichen Vorbildetappe der linken Bewegung in ganz Südamerika gezeichnet. Doch trotz vorbildlicher und zukunftsweisender Ansätze("Ejidos"-Verwaltungseinheiten) und obwohl Zapata weiterhin als großes Vorbild nicht nur in Mexiko verehrt wird, ist man heute leider gezwungen dem Autor abschließend zuzustimmen wenn er schreibt: "Die Mexikanische Revolution verlief im Sand"
Ein sehr informativer Überblick über den Einfluss der kommunistischen Parteien folgt als nächstes. Ähnlich wie im Europa der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts wird durch die oft unverständlichen Kehrtwendungen der Kominternpolitik die "gewaltige Faszination" der russischen Revolution verspielt. Der kalte Krieg hat ebenfalls verheerende Wirkung auf die Parteien gehabt. Nun bietet allerdings der Niedergang der Sowjetunion die große Chance, dass sich" die Einsicht durchsetzt, dass die Realität des eigenen Landes der Ausgangspunkt aller Bemühungen um einen radikalen Umbruch der Gesellschaft sein muss."
Nicaragua und Sandino...
Ich finde das Kapitel über Sandino etwas zwiespältig, vor allem bei der Schilderung seiner politischen Gedanken. Aus Gründen der zeitlichen Abfolge wird diesem Vorkämpfer der Unabhängigkeit Nicaraguas ein Text gewidmet, der getrennt ist von dem Abschnitt über die in seinem Namen geführte Revolution. Das kann man akzeptieren, aber weniger die Beschreibung seiner Person. So werden mit unangemessenem Nachdruck die tatsächlich vorhandenen esoterischen Gedanken des Generals überproportional herausgearbeitet. Dabei wird unhistorisch weder das Bildungsniveau seiner Herkunft, noch das seiner Zeit und schon gar nicht das seiner Landsleute in Betracht gezogen. Noch heute glaubt der aktuelle Präsident, der doch vorgibt in Sandinos Namen zu regieren, seine politische Propaganda mit vielen religiösen Versatzstücken schmücken zu müssen - wohl wissend um die blinde Gläubigkeit seines Volkes.
...Kuba
Nach der Darstellung Sandinos überrascht ein exzellentes Kapitel über die kubanische Revolution. Hier brilliert Rey indem er in flüssiger und verständlicher Schreibweise, komprimiert aber präzise und ausreichend Kubas aktuelle Probleme auf den Punkt bringt. Auch seine Schlussfolgerungen lassen sich nachvollziehen. So wie in Europa die russische Revolution einschlug wie eine Bombe, so wirkte der Sieg der kubanischen Revolution elektrisierend auf die Linke Lateinamerikas - vor allem auf die Jugend. Nun sah man an Kuba, dass nicht so sehr die städtische Arbeiterschaft entscheidend für den Sieg war, sondern die verarmten Bauern des Landes. Die kubanischen Revolutionäre hatten nicht schematisch fremde Modelle nachgeahmt, sondern sich von der Realität ihres Landes leiten lassen.
Aber auch krasse Fehler
Damit schienen sich alle Perspektiven für Revolutionen in nahezu allen Ländern des Subkontinents zu eröffnen, weil dort überall die Frage des ungerechten Landbesitzes auf der Tagesordnung stand.
Doch überall machten die Aufständischen der vom Autor so genannten ersten Guerilla-Welle krasse Fehler bei der Beurteilung der realen Machtverhältnisse und sahen nicht, dass sie weithin Minderheiten geblieben sind. Nirgendwo zerbrach die Militärmacht und weil man die politischen Ziele den militärischen untergeordnet hatte, konnte es - dem C.I.A. sei Dank - zu dem kommen, was die traurige Überschrift für die siebziger Jahre des Kontinents aussagt:" Blutbäder von Mexico bis zum Südzipfel Amerikas." Sehr kurz wird die Rolle der Theologie der Befreiung abgehandelt. Sicher lässt sich wenig Konkretes sagen über ihre Auswirkung auf die Bevölkerungen der diversen Länder und damit auf zukünftige Entwicklungen, abgesehen vielleicht von Nicaragua. Sowohl die weltliche Obrigkeit, die ihre Anhänger gerne mit der Guerilla gleichsetzte und gnadenlos ausmerzte (El Salvador) als auch der Vatikan versuchte sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zum Schweigen zu bringen. Dass ihm dies nicht gelungen ist zeigt sich heute nicht nur in Brasilien. Die persönlichen politischen Präferenzen des Autors kommen sehr deutlich im Kapitel über die Regierung Allendes zum Vorschein. Ihr Scheitern liegt also nicht allein am "Unbeugsamen Wahn der Besitzstandswahrung" - brutalst gestützt durch Bourgeoisie, Militär und C.I.A. - sondern auch an " ... einem ... ungeduldigen, bald rachsüchtigem (!!!) revolutionärem Eifer auf der anderen Seite".
Schuld am Sturz Allendes sind wieder einmal vor allem die "Ultras" (ein Lieblingsausdruck Reys) die Allendes klaren Kurs zum Scheitern brachten. Dabei geht Rey sogar selbst ausführlich auf die beiden blutigen Attentate von rechter Seite und C.I.A. ein, die gleich zu Beginn der Amtszeit Allendes diese erschüttern sollten. Dass Allende seine gesamte Amtszeit gegen ein regelrechtes Dauerbombardement von vom C.I.A. gelenkten Obstruktionsmaßnahmen ankämpfen musste, wird zwar nicht in der Darstellung, aber in der Wertung hintangestellt.
Es folgt ein Kapitel über die zweite Welle von Guerillabewegungen - vor allem in Mittelamerika, aber auch in Peru.. Rey beschäftigt sich hier in erster Linie mit Guatemala und El Salvador - Nicaragua bekommt ein eigenes Kapitel. Der "Sendero Luminoso" in Peru wird berechtigterweise gleichsam im Nachklapp abgetan. Was diese zweite Etappe der Guerilla kennzeichnet, ist die Erkenntnis der Aufständischen, dass sie ohne eine Annäherung an breite Volkskreise bzw. deren Organisationen nie zu einem Erfolg kommen würden. Der hat sich dann in Guatemala trotzdem nicht eingestellt, in El Salvador zum Teil und nur in Nicaragua zeitweise vollständig. Neben dem Abschnitt über die kubanische Revolution ist es über das sandinistische Nicaragua ein herausragendes Stück Geschichtsschreibung. Auf nur zwanzig Seiten wird dem damaligen Geschehen faktisch in größtmöglicher Vollständigkeit und Objektivität Rechnung getragen. Aus persönlicher Kenntnis hätte ich die Aussagen über die sogenannte "pinata", der persönlichen Bereicherung nach der Wahlniederlage von 1990 zurechtgerückt. Doch diese Kleinigkeit stört nicht den absolut überzeugenden Gesamteindruck. Wenn man bedenkt, dass eine Reihe von Geschichtsfresken, die nach 1990 im ehemaligen Parlamentsgebäude und heutigem Historischen Museum angebracht worden sind, diese wichtige Episode der Landesgeschichte völlig weglässt ahnt man das Ausmaß der Geschichtsfälschung.
Neue Autonomiekonzepte: von Mexiko bis Venezuela
Kurz wird die "Selbstverwaltungsrevolution" der Zapatisten in Chiapas im südlichen Mexiko dargestellt. Sie baut auf die "Calpulli" genannte Gemeinschaftsform des Landbesitzes vor der spanischen Eroberung und die "Ejido" Genossenschaften Zapatas auf.
Mit Hilfe von Intellektuellen hat die indianische Bevölkerung im Lacandona-Urwald der oben genannten Provinz für sich ein Höchstmaß an Autonomie im mexikanischen Staat erreicht, die zwar nicht unumstritten ist, aber einmalig nicht nur in Südamerika.
Dem einmaligen Phänomen von Chavez "bolivarianischer Revolution" in Venezuela stehen nicht nur wir Europäer sondern sogar Latinos (vermute ich zumindest) wie der Autor Rey verwundert gegenüber. Die den Zapatisten verwandten Autonomiekonzepte auf ein großes Land wie Venezuela zu übertragen ist beispiellos in der Weltgeschichte. Wie nahezu immer sprachlich prägnant, objektiv und der Suchkonzeption gemäß umfassend wird hier die Entstehung dieser absolut neuen Staatsform beschrieben. Auch hier kann eine Nuance des Erstaunens nicht ausbleiben. Wie dieser Chavez der für uns Europäer aber auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Staatsmann hat, den Staat erobert und gegen wildeste Attacken von Seiten der bekannten Antifortschrittsallianz bravourös verteidigt. Allianzen, die einst Allende von der Macht putschten. Erstaunlich der basisdemokratische Umbau des Staates. Erstaunlich die "Umverteilung des Reichtums ohne Umwege". Erstaunlich der Aufbau vielfältiger Strukturen der "kontinentalen Solidarität" und Integration zur Abwehr der neoliberalen Gier aus dem Norden. Also kann man Rey vorbehaltlos zustimmen, wenn er folgendes Fazit zieht: "... dass er sich im Unterschied etwa zu Brasiliens Präsident 'Lula da Silva und einigen anderen rhetorisch linksgerichteten Staatsoberhäuptern - nicht mit der Amtsübernahme und einer Verwaltung der vorgegebenen neoliberalen Wirtschaftspolitik begnügt hat, sondern die versprochene Transformation der Gesellschaft zu verwirklichen sucht ... "
Brasilien und Bolivien: Wohin?
Unter dem Titel: "Der Geist von Porto Alegre" werden in erster Linie zwei Beispiele behandelt, nur entfernt zusammengehören. Erstens der sehr lokale Sieg der basisdemokratischen Volksbewegungen Brasiliens in der Musterstadt tief im Süden des Landes. Zweitens die ersten Siege des Repräsentanten der indianischen Ureinwohner Boliviens Evo Morales. Da der Text Mitte 2008 entstanden ist (siehe Vorwort) kann Rey noch nicht über den vorerst stärksten Triumph der Bewegung der Hochlandindianer über ihre offen rassistischen Gegner aus dem östlichen Tiefland berichten. Allerdings scheint unser Autor einen gewissen Argwohn gegenüber der Person Morales und der indianischen Bewegung zu heilen: "Man muss sich jedoch fragen, wie viel an der revolutionären Rhetorik der Regierung Morales mit Sozialismus zu tun hat und wie viel Ausdruck eines radikalen indigen orientierten Populismus ist." Dabei schreibt er noch zwei Seiten vorher von dem sofortigen "Schulterschluss" der frisch installierten Regierung mit Kuba und Venezuela.
Resümee
Der Titel des Schlusskapitels sagt bereits alles über seinen Inhalt aus. Hier werden die vorangegangenen Abschnitte der Reihe nach zusammengefasst und Schlussfolgerungen gezogen. Es sind solche, denen man nicht immer zustimmen muss; z.B. bei der Einschätzung der Guerilla als Anlass für Militärputsche. (Chile 1973). Der große Bruder im Norden hat blitzschnell den "big stick" gezogen - auch bei vorsichtigsten Reformansätzen, wie z.B. in Guatemala und in der Dominikanischen Republik. Zustimmen kann man ihm jedoch in folgenden Punkten:
Der Autor zieht eine gemischte Wirtschaft vor, wie man sie sowohl in Venezuela wie auch in Bolivien vorfindet. Dort haben die revolutionären Regierungen immer noch die Möglichkeit über die Steuerpolitik regulierend in die Wirtschaft einzugreifen.
Dass bisher keine einzige revolutionäre Regierung davon Gebrauch machte, wirft er ihnen vielleicht zu Recht vor.
Zweitens : "Die Demokratie muss von unten erwachsen," d. h. im vollen Einklang mit massiven Volksbewegungen als Basis. Tut man das nicht, ist sie auf kurz oder lang zum Scheitern verurteilt.
Drittens: Damit diese Demokratie von unten sich entfalten kann und zur Konsensbildung im neuen Staat braucht sie vor allem Gedankenfreiheit. Teilweise zustimmend zitiere ich Rey: "Das sowjetische System ist vor allem (?????) am Fehlen gedanklicher Freiheit ... gescheitert."
Zusammenfassend sei gesagt: Dieses Buch ist ein Meilenstein in der Geschichtsschreibung über das moderne Lateinamerika. Als Journalist versteht der Autor lebendig und auch für den Laien verständlich zu schreiben. Er behandelt alle wesentlichen Aspekte im angemessenen Umfang - und das ist nicht leicht bei der Vielzahl von Staaten und der Komplexität des Geschehens. Das Buch ist durchwegs objektiv und auch die Wertungen, die es beinhaltet kann man weitgehend nachvollziehen.
Es ist auf der Höhe der aktuellen Forschung - was man unschwer aus der beigefügten Literatur- und Quellenliste erkennen kann. Wer sich kurz, objektiv und präzise über die Geschichte Lateinamerikas im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erkundigen will, muss zu diesem handlichen Buch greifen.
Dieses Buch zeigt vor allem eines: Die zukünftige Geschichte Lateinamerikas wird eine Geschichte der Linken auf diesem Subkontinent werden. In diesem Sinne wünsche ich diesem Buch viele Leser.
Herbert Aumer
CUBA LIBRE 4-2010