Eine Rezension von Karin Schrott
Eine Studie über Kuba für Reisende, LiebhaberInnen und WissenschaftlerInnen
So häufig wie in den letzten Wochen war Kuba selten in den Medien präsent. Angefangen von den Meldungen über die Freilassung von Gefangenen, mit Spekulationen über eine damit verbundene Verbesserung der Beziehungen zur EU, über Fidel Castros ersten öffentlichen Auftritt nach längerer Zeit, mit Spekulationen zu Gesundheitszustand und Nach-Castro-Ära, bis hin zu den Berichten über die schlechte wirtschaftliche Situation, mit Spekulationen zu einem bevorstehenden Zusammenbruch. Und es ging weiter mit einem genesenen Fidel in Reden und Interviews und mit der von der kubanischen Nationalversammlung beschlossenen Ausweitung der Privatwirtschaft sowie weitreichenden Strukturveränderungen im politisch-administrativen Bereich zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation.
Die schlechte Wirtschaftslage Kubas hat fremd- und hausgemachte Ursachen
Die Blockadepolitik der USA, die verheerenden Folgen der Hurrikan-Saison des Jahres 2008, die hohen Einbußen im Exportbereich durch die Weltwirtschaftskrise stehen dabei an erster Stelle, ebenso zählt dazu aber auch ein in Teilen unproduktiver und aufgeblähter staatlicher Sektor. Dieser Feststellung lässt die kubanische Regierung nun Taten folgen. Eine halbe Million Staatsbedienstete sollen bis März entlassen werden. Ein Teil wird wohl in Bereichen mit Arbeitskräftemangel, wie Landwirtschaft oder Bau eingesetzt werden, die anderen sollen ihr Auskommen in der Privatwirtschaft oder als Selbständige finden.
Selbständige Tätigkeiten gab es auch bisher schon: legal und illegal. Wobei die Illegalität auch der Tatsache geschuldet ist, dass es mehr Interessenten als Lizenzen gab. Und am staatlichen Durchschnittslohn von 15 US-Dollar wird sich wohl wenig ändern. Auch wenn man bei dieser Summe berücksichtigt, dass Kosten für Wohnen kaum ins Gewicht fallen, ärztliche Betreuung kostenlos ist und ein Teil der Grundnahrungsmittel staatlich subventioniert wird, lässt sich feststellen, dass der Zukauf von Lebensmitteln, Hygieneartikel, Kleidung und Schuhen bei den dafür zu bezahlenden Preisen, damit mehr schlecht als recht zu realisieren ist.
Strategien zur Existenzsicherung
Wer sich dazu die Frage stellt, wie sich das (Über-)Leben im kubanischen Alltag gestaltet, der wird in Viva la creatividad! Antworten finden. Mit der Untersuchung über Strategien zur Existenzsicherung liegt eine fundierte Studie aus dem Bereich der ethnografischen Transformationsforschung vor, die es verdient auch außerhalb der Wissenschaft Beachtung zu finden. In acht Portraits, aufgezeichnet anhand kontinuierlicher Interviews über einen Zeitraum von fünf Jahren (2002-2006), gibt Angelica Wehrli Einblicke in Lebenswelten, die den meisten Reisenden verschlossen bleiben. In detailreichen Schilderungen nimmt sie uns mit in die Wohnungen oder Arbeitsstätten und lässt uns teilhaben an Einstellungen und Wünschen. Vor allem aber zeigt sie unterschiedlichste Wege den Lebensunterhalt zu bestreiten und damit verbundene Veränderungen - in der persönlichen Vita der Interviewten, wie auch in der Gesellschaft.
Die jeweils vier Interviewpartner und -partnerinnen wurden nach der von ihnen angewandten Möglichkeit ein Einkommen zu generieren, ausgewählt. Vier Wege sind dabei grundsätzlich möglich: ein Gehalt als Angestellte in einem staatlichen Betrieb, ein Einkommen als selbständig Erwerbende mit Lizenz, oder illegal ohne, und der Erhalt von Rimessen, Geldüberweisungen aus dem Ausland. Diese vier Formen kommen natürlich nicht nur in Reinform vor. Sie werden in unterschiedlichsten Mischungen angewandt. Von welchen Faktoren es abhängt, wer welchen Weg zu welcher Zeit geht, analysiert Wehrli anhand der persönlichen Voraussetzungen der Porträtierten und ihrer Einbindung in die gesamtwirtschaftliche Situation auf der Karibikinsel.
Mit Hilfe der Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu zeigt sie die individuellen Möglichkeiten, die sich aus der Verfügbarkeit über ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital ergeben.
Sichtbar wird, in welche Zusammenhänge die Porträtierten eingebunden sind, welche Netze sie knüpfen (können) und welchen Einfluss diese Faktoren auf den Erwerb des Lebensunterhalts haben. Und es geht um die Veränderungen dabei.
Die befragten Personen befinden sich nicht in statischen sozialen Räumen, sondern in einem sich potentiell wandelbaren Kontext.
Wie sich die Lebensumstände der Interviewten über einen Zeitraum von fünf Jahren veränderten ist nicht nur spannend zu lesen, sondern es führt auch zu der Frage nach der Veränderung von Gesellschaft. Denn es geht um mehr als ums materielle (Über-)Leben. Persönliche Überzeugungen und Lebenskonzepte, Entwicklung und Verwirklichung eigener Perspektiven finden in einem staatlichen und gesellschaftlichen Rahmen statt, der ebenfalls Veränderungen erfährt.
Spannend ist dabei auch die Frage nach der Wechselwirkung von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen. Ob sich in den beschriebenen Strategien ein gesamtgesellschaftlicher Wandel erkennen lässt, ist eine der Hauptfragen der Studie, denn die Menschen agieren zwar innerhalb der gegebenen Bedingungen, aber dadurch, dass sie aktiv werden, tragen sie wiederum zu Veränderungen bei.
Seit der Legalisierung des Dollars 1993 bestimmte zunächst der Zugang zum Dollar (später konvertibler Peso CUC) in hohem Maße die Lebenshaltung. Damit einher geht eine Pluralisierung der Lebensstile, die auch Widersprüchlichkeiten in sich birgt. Wie lassen sich eine staatliche Anstellung, die Mitgliedschaft in FMC (Federación de Mujeres Cubanas) und CDR (Comité de Defensa de la Revolución) mit der Schwarzarbeit als Musiklehrerin vereinbaren? Wie die Diskrepanz zwischen der Entlohnung im offiziellen und im inoffiziellen Bereich?
Wie fließen diese Pluralitäten in den offiziellen Diskurs ein?
Denn zweifelsfrei birgt, wie Wehrli feststellt, die Dynamik der Ungleichheit ein Konfliktpotential. Der Frage, ob dieses Potential zu explosiven Spannungen führt, nähert sich Wehrli mit Thesen aus der Transformations- und Modernisierungsforschung. Die Gefahr der 'Explosion' ist demnach bei der Herausbildung von sich ausschließenden Parallelwelten am größten. Für ihre Untersuchung kommt Wehrli zu dem Schluss, dass zwar eine Strukturierung entlang des Pesos und des CUC vorhanden ist, die Bezeichnung Kubas als duale Gesellschaft der Komplexität jedoch nicht gerecht wird. Die beiden Bereiche greifen ineinander und lassen sich als Indiz für einen sozialen Wandel werten und nicht als Vorboten der Explosion. Da erstaunt es nicht weiter, dass in einem Ranking der besten Nationen, aufgestellt vom US-Magazin Newsweek anhand der Kriterien Bildung, Lebensqualität, Gesundheit, wirtschaftliche Dynamik und politisches Umfeld, Kuba unter den Ländern mit mittlerem Einkommen die höchste Lebensqualität aufweist.
Angelica Wehrli, Viva la creatividad! Strategien zur Existenzsicherung in Zeiten des sozioökonomischen Wandels auf Kuba, LIT Verlag 2009