Die Perspektive der lateinamerikanischen Linken werden hierzulande sehr kontrovers diskutiert und es gibt auch schon einige Bücher, besonders über die Entwicklung in Venezuela.
Doch der Hamburger Politikwissenschaftler Helge Buttkereit hat mit seinem kürzlich im Pahl-Rugenstein-Verlag erschienenen Buch "Utopische Realpolitik - Die Neue Linke in Lateinamerika" gleich in zweifacher Hinsicht Neuland betreten.
Er hat die Entwicklungen in Bolivien, Venezuela, Ecuador und die zapatistische Bewegung in Südmexiko analysiert und bei allen historischen und politischen Unterschieden die Gemeinsamkeiten herausgestellt und er versucht diese Entwicklungen auf die hiesigen Verhältnisse rück zu koppeln.
Buttgereit begründet die Auswahl der lateinamerikanischen Beispiele recht schlüssig, dass er einen "Schwerpunkt auf die Bewegungen legen will, die konkret über das derzeit möglich erscheinende hinaus orientiert sind, die also eine mehrheitsfähige utopische Realpolitik betreiben."
Für Brasilien, Chile und Uruguay treffe dieses Kriterium nicht zu, weil die Linksregierungen trotz mancher Reformen den Kapitalismus verwalten. Damit kommen sie den Intentionen der Hauptströmung der Linkspartei in Deutschland nahe, deren führende Politiker vor allem diese Länder meinen, wenn sie davon reden, dass die europäische Linke von Lateinamerika lernen solle.
Im Gegensatz dazu kann Buttkereit in den von ihm behandelten Ländern grundlegende Transformationsprozesse erkennen. Er nennt als Beispiel die Einberufung von Verfassungsgebenden Versammlungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, die bisher ausgeschlossenen Bevölkerungsteilen, wie den Indigenen oder den Barriobewohnern einbeziehen. Auch die Selbstorganisierungsprozesse an der Basis werden von ihm ausführlich dargestellt. Dabei setzt er sich im Fall Venezuela durchaus kritisch mit dem Chavez-Kult auseinander, ohne die eigenständige Organisierung an der Basis zu vernachlässigen. Auch im Fall Ecuador gibt es Berichte, dass die Interessen der sozialen Bewegungen oft genug mit den Konzepten des Präsidenten kollidieren. Es wäre also schönfärberisch auch in diesen Ländern davon zu sprechen, dass dort die sozialen Bewegungen an der Macht sind. Das aber liegt Buttkereit fern. Er liefert eine realistische Analyse und spart dabei nicht mit Kritik.
Ebenso differenziert ist Buttkereits Auseinandersetzung mit den indigenen Kommunen in Bolivien. Er benennt die repressiven Elemente in solchen Gemeinschaften, sieht aber in den durch eine neoliberale Politik verursachten sozialen Verheerungen den Hauptgrund für die Rückbesinnung auf diese alten Traditionen. Er zeigt auch an konkreten Beispielen auf, dass die Ethnisierung auch in den indigenen Gemeinschaften für die Lohnabhängigen nur Nachteile bringt.
Eine Stadt im Kapitalismus
Auch über El Alto, eine bolivianische Stadt mit großen Widerstandstraditionen, dekonstruiert Buttkereit manchen Mythos: "El Alto bleibt trotz aller kommunitärer Verfasstheit eine Stadt im Kapitalismus. Die Gewerkschaften vertreten kleine Einzelhändler, prekär tätige Träger oder Transportunternehmen und haben damit eine andere Funktion als die einer Organisation der Arbeitnehmer. Als beispielsweise 2007 Beschäftigte einer Schmuckfirma eine Gewerkschaft gründeten wurden sie allesamt entlassen und erhielten keine Unterstützung durch die Regionale Arbeiterzentrale (COR)."
Anders als viele linke Lateinamerikaspezialisten sieht Buttkereit in der zapatistischen Bewegung in Chiapas keinen fundamentalen Gegensatz zu den Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Dabei beruft er sich auf Äußerungen von Subcommandante Marcos. Der erklärte, man werde die Entwicklung in diesen Ländern genau beobachte, bevor man sich darüber klar werde, ob es für eine soziale Bewegung möglich ist, gleichzeitig an der Regierung und an der Basis aktiv zu sein.
Buttkereit macht auch deutlich, dass die von vielen Linken, wie den Lateinamerikaspezialisten Albert Sterr kritisierte, Ablehnung der sozialdemokratischen PRD durch die Zapatistas in erster Linie ganz konkrete Gründe hat. Die PRD ist besonders in Chiapas Teil des herrschenden Kartells und tritt den Zapatistas repressiv gegenüber. Daher sei die Distanz sehr rational zu begründen und kann nicht, wie es Sterr in kritischer und viele europäische Zapatistenfreunde in affirmativer Intention tun, als generelle Absage an Kooperationen mit Regierungen interpretiert werden. Buttkereit betont, dass beide Seiten der unterschiedlichen amerikanischen Linken voneinander lernen können. In den sozialen Bewegungen Boliviens, Venezuelas und Ecuadors könnten die basisdemokratischen Elemente der Zapatistas durchaus ein Vorbild sein. Umgekehrt könnte die südmexikanische Bewegungen davon profitieren, wenn sie von den fortschrittlichen Regierungen anerkannt und auch auf internationaler Ebene unterstützt werden.
Alte und neue Linke?
Im ersten Kapitel versucht der Autor den Brückenschlag zwischen der Linken in Lateinamerika und den sozialen Bewegungen in Europa über das Konzept der revolutionären Realpolitik herzustellen. Allerdings bleibt sein Konzept einer Neuen Linken, das er in Abgrenzen zu einer Realpolitik a la Linkspartei propagiert, recht vage. Es ist eben nicht so einfach, von den politischen Verhältnissen aus Lateinamerika auf Europa zu schließen. Deswegen ist Buttkereits Skepsis gegen genau durchgerechnete Großkonzepte, wie sie Heinz Dieterich in seinem vielzitierten Buch "Sozialismus des 21.Jahrhunderts" anbietet, verständlich.
Buttkereit vertritt gerade im ersten Kapitel das Konzept einer alten Linken, die mit dem Scheitern des Nominalsozialismus obsolet geworden sei und einer neuen Linken, die er mit der weltweiten 68er Bewegung verbindet. Besonders lobt er dabei neben den Philosophen Ernst Block den APO-Theoretiker Rudi Dutschke. Allerdings schweigt er über seine nationalistischen Komponenten, die besonders nach dem Abflauen der linken Bewegungen auch in Dutschkes Denken, gerade in Bezug auf die sogenannte deutsche Frage, erkennbar waren. Auch der von ihm propagierte Marsch durch die Institutionen, der schließlich bei den Grünen endete, deren Beginn auch Dutschke noch wohlwollend begleitete, hätte eine kritischere Betrachtung verdient.
Zudem ist gerade in Bezug auf Lateinamerika fraglich, ob die Gegenüberstellung alte versus neue Linke überhaupt trägt. Man muss nur das Beispiel Cuba nehmen, um diese Zweifel zu begründen. Wenn man so will, war Havanna in den 60er Jahren ein Zentrum einer neuen Linken, als Cuba auch im Widerspruch zur sowjetischen Lateinamerikapolitik eine offensive Unterstützung revolutionärer Bewegungen in Zentral- und Lateinamerika propagierte und damit auch mit der Unterordnung der kommunistischen Parteien unter die angeblich fortschrittliche Bourgeoisie brach. In den 70er Jahren aber spielten die Differenzen keine so große Rolle mehr, ohne dass beide Seiten ihre Positionen aufgegeben haben. Tatsache ist aber auch, dass es die sandinistische Revolution in Nicaragua oder die bolivarianische Entwicklung in Venezuela ohne die cubanischen Erfahrungen und ihre Weiterentwicklung so wohl nicht gegeben hätten.
Da wiederum die politische und ökonomische Unterstützung des nominalsozialistischen Blocks eine wichtige Hilfe für Cuba war, ist die einfache Dichotomie Alte versus Neue Linke schwierig.
Aktuelle Diskussion
Buttkereits Buch gewinnt an Gebrauchswert da, wo er die politischen und sozialen Prozesse in Lateinamerika mit einer grundsätzlichen Sympathie analysiert, ohne die kritischen Punkte auszublenden. Sein Buch könnte Bausteine für eine Diskussion liefern, weil in größeren Teilen der Linken Interesse für die Entwicklungen in Lateinamerika wächst. So enthält ein Text (http://turbulence.org.uk/turbulence-5/life-in-limbo/limbo-de-full/) des länderübergreifenden linken Kollektivs turbulence, der sich mit der Zukunft der globalisierungskritischen Bewegung befasst, ein Kapitel zu den Entwicklungen in Lateinamerika:
"Zur Zeit gibt es durchaus einige Beispiele für wichtige Transformationen, die es geschafft haben, sich in institutionelle Formen einzuschreiben. Die bemerkenswertesten sind zweifellos die Verfassungsprozesse in Bolivien und Ecuador. Die hier entstandenen politischen Verfassungen stehen für radikale Veränderungen, nicht nur in Hinblick auf die Geschichte des Landes, sondern auch auf das konstitutionelle Recht selbst. Dies in erster Linie, weil sie einem neuen Arrangement der Mächte eine Form geben, in denen zum ersten Mal in ihrer Geschichte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung über eine Stimme und einen gewissen Grad der Repräsentation verfügt. Mehr noch signalisieren beide aber durch das Institutionalisieren der Pluri-Nationalität einen bemerkenswerten Bruch mit modernen Vorstellungen von Souveränität, indem sie multiple, autonome souveräne Formen innerhalb des Staates selbst anerkennen sowie auch die historische Schuld des Prozesses der Kolonisierung."
Für diese Debatte liefert Buttkereits Buch nicht nur Hintergrundwissen sondern auch Thesen zum Weiterdiskutieren.
Helge Buttkereit, Utopische Realpolitik
Die Neue Linke in Lateinamerika
Pahl-Rugenstein Verlag, 2010, 162 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-89144-424-5