Kuba diskutiert seine Zukunft. Die zweite »nationale Debatte«, deren Ergebnisse der Regierung als
Fundament einer internen aktualisierten Analyse dienen werden, ist nach vier Tagen gerade zu Ende
gegangen. Praktisch macht die ungewisse Zukunft der Libreta Sorgen, die der Bevölkerung seit 1963
subventionierten Zugang zu Lebensmitteln verschafft.
Ob bei der ersten nationalen Debatte 2008 oder der zweiten 2009, ein Grundsatz blieb unangetastet:
Kubas einzige Option für die Zukunft ist der weitere Aufbau und die Perfektionierung des
Sozialismus. Vor Jahren schon wurde das nach einem Volksentscheid als Zusatz in die Verfassung
aufgenommen. Fünf Millionen Kubaner nahmen an der ersten Debatte teil, 2009 dürften es nicht
weniger gewesen sein, denn dass es Reformen bedarf, ist unumstritten.
Die Strategen der Partei sind schon längst in die Spur gegangen und arbeiten an dem Entwurf eines
»neuen Sozialismus«, der den Erfordernissen Kubas entspricht. Raúl Castro ist sicher, dass da
die Bevölkerung einbezogen werden muss. Deswegen die Umfragen. Die Leute beteiligen sich, packen
aus, sind schon längst nicht mehr beklommen, wenn sie ein delikates Problem zur Sprache bringen
wollen. Auch die Medien beteiligen sich an der Debatte. Die erst vor einigen Monaten jeden Freitag
eingerichteten zwei Seiten in der Parteizeitung »Granma« mit Lesermeinungen sind richtig spannend
geworden. Die Frage »Was wird in Zukunft mit der Libreta?« hat sich seit dem 1. November wieder weit
nach vorn in den Diskussionen platziert, nachdem Kartoffeln und Erbsen (Bohnen) für Nationalpesos
frei zu kaufen sind, also aus der Libreta herausgenommen wurden.
Die Libreta ist ein Büchlein, das 1963, vier Jahre nach dem Sieg der Revolution, eingeführt
wurde, um eine gerechte Verteilung der vom Staat enorm subventionierten lebensnotwendigen Produkte zu
sichern: Reis, schwarze oder rote Bohnen, Zucker, Öl, Brot, Kaffee, Eier, Kartoffeln und einiges
mehr. Die Libreta wird für das jeweilige Familienoberhaupt und seine Angehörigen oder
Mitbewohner ausgestellt. Pro Kopf bietet der Staat seinen Bürgern die gleichen Zuteilungen, egal
ob Parteifunktionären oder Taxichauffeuren, Müllmännern oder Berufsopponenten,
Akademikern oder Verkäuferinnen. Der Haken ist, dass die Verbraucher mit ihren Zuteilungen keinen
ganzen Monat über die Runden kommen. Was fehlt, müssen sie auf dem Schwarzen Markt dazukaufen
oder in den Devisenläden. Das war 1963 so und ist heute nicht anders, wenn auch in anderen
Dimensionen, vor allem, nachdem die Doppelwährung legalisiert wurde – anfangs. Dollar und
Nationalpeso, inzwischen der konvertible Peso CUC, der sich am Dollarwert orientiert, und der
Nationalpeso. So versucht die kubanische Führung seit 1993, ein bisschen Luft zum Atmen zu
erhalten. Sie war sich klar, dass sie damit einer Zweiklassengesellschaft den Weg ebnen würde.
Die Geister, die sie unwillig und zähneknirschend rief, wird sie nun so schnell nicht wieder los.
Nur eine Währung, das wäre schön. Aber wie? Wie die Nachfrage stillen, wenn die eigene
Industrie und Landwirtschaft doch nicht in der Lage sind, ausreichend zu produzieren?
Ähnlich ist es mit der Libreta. Kaum jemand meint, es sei möglich, sie abzuschaffen. Vor
allem Rentner sehen die reale Gefahr, dass dann die Waren teurer werden, während die Einkommen
nicht angemessen steigen. Mit ihrem Lohn von 200 Peso (Durchschnittslohn 420) könne sie ohne
Libreta nicht überleben, sagt eine Putzfrau. Eine Rentnerin formuliert ein drastisches Bild: Wenn
die Libreta stirbt, werden auch wir Hungers sterben. So etwa reagiert die Mehrheit der vom ND
Befragten. Es steht fest, dass eine der offenkundigsten Herausforderungen für die Regierung darin
besteht, den durch die Libreta zugesicherten Warenkorb zu schützen und Veränderungen auf
diesem Gebiet tropfenweise, behutsam anzupacken, ohne das Problem aus dem Auge zu verlieren. Doch
diese Gefahr besteht hier nicht.
Leo Burghardt, Havanna
14.11.2009
CUBA LIBRE 1-2010