Huffschmid Anne/Rauchecker Markus: Kontinent der Befreiung?
Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika
Projektgruppe "1968 in Lateinamerika" des Lateinamerika-Instituts der FU
256 Seiten, Berlin - Hamburg Dezember 2009, Assoziation A, 16.00 Euro, ISBN 978-3-935936-88-0
Noch immer ist unklar, wie viele Menschen ums Leben kamen, als Polizei und Militär am 2. Oktober 1968 in der Hauptstadt von Mexiko die Studentenproteste blutig niederschlugen. Diese Ereignisse haben im magischen Jahr 1968 in Europa kaum Reaktionen hervorgerufen. Für viele lateinamerikanische Linke hingegen ist das Massaker noch immer ein Trauma. "Auf Schläge und Gefängnis haben wir uns vorbereitet. Doch auf den Tod waren wir nicht vorbereitet", sagt die damalige Aktivistin Elisa Ramirez im Gespräch mit der Lateinamerikaspezialistin Anne Huffschmid. Die arbeitet am Berliner Lateinamerikainstitut in einer Projektgruppe, die sich den Spuren des linken Aufbruchs in Zentral- und Lateinamerika widmet.
Mit dem gerade im Verlag Assoziation A erschienenen Buch, das von Huffschmid mit der studentischen Projektgruppe erarbeitet hat, wird diese Arbeit auch über den universitären Rahmen hinaus bekannt.
Die Themenpalette, die in dem Buch behandelt wird, ist sehr breit. Der kolumbianische Guerillapriester Camilo Torres hat ebenso seinen Platz, wie der in Europa kaum bekannte radikale argentinische Gewerkschaftsaktivist Agostin Jose Tosco und die brasilianische Feministin Leila Diniz.
Neben der politischen Entwicklung in Lateinamerika spielt auch Kultur eine große Rolle. An den Internationalen Kulturkongress in Havanna, an dem im Januar 1968 Intellektuelle aus aller Welt teilnahmen und für eine Revolutionierung der Verhältnisse eintraten, wird erinnert. Es wäre interessant zu erfahren, wie der westdeutsche Kongressteilnehmer Hans Magnus Enzensberger heute darüber denkt.
Das in Europa kaum bekannte argentinische Kunstprojekt "Tucuman brennt" hat in Lateinamerika einen großen Einfluss bei der Herausbildung einer gesellschaftsverändernden Kunst gehabt. Im Rahmen dieses Projektes haben Ende 1968 Künstler und Gewerkschafter gemeinsam mit den Bewohnern der argentinischen Armutsregion Tucuman die Gründe für Verelendung der Menschen erforscht und künstlerisch aufgearbeitet.
Kuba war Ausgangspunkt
Die Zeitspanne der in dem Buch vorgestellten Themen reicht von Anfang der 60er bis Anfang der 70er Jahre. Dabei ist die kubanische Revolution ein zentraler Bezugspunkt für die unterschiedlichen Bewegungen auf dem amerikanischen Kontinent. In vielen Ländern forderten nicht nur Studenten sondern auch aktive ArbeiterInnen und Mitglieder linker Parteien einen offensiveren Oppositionskurs.
Der Tod Che Guevaras trägt nicht zur Niederlage sondern eher zur Radikalisierung der Bewegung bei. Erst gewaltsame Staatseingriffe, wie 1968 in Mexiko oder Militärputsche in den 70er Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern, sorgen für ein blutiges Ende des linken Aufbruchs. Nicht nur in Argentinien wird davon gesprochen, dass eine ganze Generation linker AktivistInnen zum Verstummen gebracht wurde.
Das Buch entreißt ihre Hoffnungen und Kämpfe dem Vergessen. Zugleich wird auch an die Vorgeschichte der hiesigen 68er Bewegung erinnert. Mehrere lateinamerikanische Gesprächspartner betonen, dass der Pariser Mai 68 für sie keine große Rolle gespielt hat. "In Frankreich begann alles, weil die Jungs mit den Mädchen schlafen wollten. In Brasilien gab es einen seit 1964 dauernden Kampf gegen die Militärdiktatur", betont Vladimir Palmeira aus Brasilien die Differenzen. Umgekehrt hat der Kampf und Tod Che Guevaras für die Entwicklung der europäischen 68er schon eine Bedeutung gehabt.
Dafür ist Che nicht gestorben
Doch einen Kritikpunkt sollte man nicht verschweigen, das betrifft das politische Niveau einiger Studierender der Projektgruppe, das sie im ersten Kapitel ausbreiten. Dabei geht es nicht darum zu kritisieren, dass die jungen Leute heute wenig über den linken Aufbruch vor 40 Jahren wissen, sondern dass sie glauben, eine Meinung zu haben, die sich liest, als wäre sie aus irgendwelchen Handbüchern der Bundesregierung abgeschrieben.
So formuliert Mitherausgeber Markus Rauschenecker, nachdem er anfangs lamentierte, dass sich ein Studierender in der heutigen Zeit die Lage, in der sich die 68er befanden, gar nicht mehr vorstellen könnten, folgende Weisheit "aus der Sicht eines Politikstudenten": "Verkürzt gesagt, standen den repräsentativen Demokratien in Westeuropa autoritäre Regime in Osteuropa und Lateinamerika gegenüber".
Hallo Politstudent, gab es da nicht einmal eine Unterscheidung zwischen Spätkapitalismus im Westen versus Nominalsozialismus im Osten?!
Für das Thema des Buches wäre es auf jeden Fall wichtig zu erwähnen gewesen, dass der westliche Block die Militärregime in Lateinamerika unterstützt hat, während die östlichen Staaten überwiegend auf Seiten der Oppositionsbewegungen standen.
Besonders absurd wird es, wenn Mitautorin Gintare Malinauskaite aus Litauen, die laut Autorenangaben bereits ein Praktikum beim litauischen Außenministerium absolviert hat, schreibt: "Ganz persönlich stellt das Jahr 1968 für mich ein Symbol des Kampfes gegen die sowjetische Okkupation und die kulturelle und linguistische Unterdrückung Litauens dar. 1972 verbrannte sich in meiner Heimatstadt Kaunas ein Student in der Fußgängerzone. Es war ein Protest gegen die sowjetische Besatzung des Landes."
Viele 68er und auch Che Guevara haben berechtigte Kritik am Nominalsozialismus geübt. Aber für die Interessen der reaktionären litauischen Nationalbewegung, die mit dem NS-Regime kollaboriert hat und sich beim Judenmorden von diesem nicht übertreffen lassen wollte, was erst durch die Rote Armee gestoppt wurde, ist weder Che Guevara gestorben noch ein 68er auf die Straße gegangen.
Es ist ein zweifelhafter Erfolg des nationalen Aufbruchs von 1989, dass auch Anhängerinnen des baltischen Nationalismus Teil solcher Projektgruppen sind und dann auch noch das Thema Kuba in dem Buch bearbeiten. Da darf natürlich in kaum einem Beitrag ein Hinweis auf die Verletzung der Menschenrechte in Kuba fehlen. Frau Malinauskaite analysiert in ihrer Magisterarbeit die Außenpolitik Litauens und Spaniens gegenüber Kuba.
Es wird interessant zu lesen sein, ob die ehemalige Praktikantin im litauischen Außenministerium eine Kritik an der antikubanischen Politik Litauens äußert. Dann hätte sie aus der Lektüre der Linken in Latein und Zentralamerika etwas gelernt. Deren Erfahrungen, die in dem Buch in Wort, Graphik und Bild leserfreundlich vermittelt werden, machen es zu einer angenehmen Lektüre.
Die ersten 25 Seiten, wo die Studierenden ihre unterschiedliche Zugänge zum Thema darlegen, kann der Leser auch überblättern und bei Seite 28 mit einem Beitrag über Theologie der Befreiung gleich direkt in die Materie einsteigen. Die kurzen Länderberichte ab Seite 197 sind nur bedingt interessant. Oft werden hier nur Fakten wiederholt, die schon im Buch viel ausführlicher beschrieben wurden.
Peter Nowak
CUBA LIBRE 1-2010