"Mitten im 21. Jahrhundert erleben wir, dass mehr als eine Milliarde Menschen Hunger leiden, einer
von sechs Menschen auf der Welt, 50 Millionen von ihnen in Lateinamerika", beklagte Chiles
Präsidentin Michelle Bachelet am 23. September vor der UNO-Vollversammlung in New York.
"Das ist viel mehr als eine Statistik. Das ist ein Kind, eine Mutter, die in einem Land stirbt,
obwohl in den entwickelten Ländern Überfluss herrscht. Milliarden von Dollar sind in den
vergangenen Monaten ausgegeben worden, um das Finanzsystem zu retten und die Ökonomie zu reaktivieren.
Aber das Lebensmittelprogramm der Vereinten Nationen muss in diesem Jahr seinen Haushalt um mehr als die
Hälfte einschränken. Ein trauriger Widerspruch." Nur 0,1 Prozent der in den Rettungsplänen
vorgesehenen Summe wäre nötig, um die Lebensmittelkrise in zahlreichen Ländern zu lösen,
unterstrich Bachelet.
Besonders dramatisch ist die Situation in Guatemala, wo im laufenden Jahr bereits 20 Kinder an
Unterernährung gestorben sind und Tausende Familien nach monatelanger Dürre hungern. Die Regierung
von Álvaro Colom sah keinen anderen Ausweg, als die internationale Gemeinschaft um Hilfe zu bitten.
Venezuela schickte umgehend 16 Tonnen Lebensmittel in das mittelamerikanische Land, Chile steuerte 20 Tonnen
bei, um die größte Not zu beheben. Neben der Dürre, die als Folge der weltweiten
Klimakatastrophe gilt, hat die Hungersnot in Guatemala eine ganz konkrete Ursache. Durch die weltweite
Finanz- und Wirtschaftskrise sind der Regierung die Steuereinnahmen weggebrochen, so dass der Staatshaushalt
massiv gekürzt werden musste. Deshalb seien die Mittel, um die notleidenden Familien zu unterstützen,
nach wenigen Wochen aufgebraucht gewesen, erklärte die Regierung.
Boliviens Präsident Evo Morales wies bei einer Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel darauf hin,
dass auch die Erwärmung der Erdatmosphäre kein Zufall sei, sondern die direkte Folge einer dem
Kapitalismus eigenen Lebensweise: "Der Klimawandel ist keine Ursache, sondern ein Ergebnis, er ist ein
Produkt des kapitalistischen Systems, dessen Ziel es ist, den größtmöglichen Profit zu
erreichen, ohne dabei Rücksicht auf das Leben der anderen zu nehmen." Deshalb müssten die
kapitalistischen Mächte, die großen Industrienationen, die "Klimaschuld" bezahlen, die sie
angehäuft haben.
Nach wie vor klafft in Lateinamerika eine große Kluft zwischen Reich und Arm. Allein zwischen 2008 und
2009 ist die Zahl der Hungernden auf dem Kontinent um weitere sechs Millionen Menschen angestiegen, warnte der
Generalsekretär der lateinamerikanischen Wirtschaftsorganisation SELA, José Rivera. Hauptgrund
für diese Krise sei der weltweite Anstieg der Lebensmittelpreise, die zwischen 2005 und 2008 um
durchschnittlich 40 Prozent geklettert seien. Besonders dramatisch sei der Preisanstieg bei Grundnahrungsmitteln
wie Ölen und Fetten (153 Prozent), Getreide (126 Prozent), Milchprodukten (88 Prozent) und Reis (140
Prozent).
Rivera führte diese Entwicklungen auf massive Finanzspekulationen an den Weltmärkten zurück.
Anleger hätten durch ihre Ankäufe die Rohstoffpreise immer weiter in die Höhe getrieben.
Hintergrund ist aber auch die zunehmende Verknappung von landwirtschaftlichen Anbauflächen für
Lebensmittel, weil die Ländereien für den Anbau profitablerer Biokraftstoffe genutzt werden.
Bereits in seiner ersten "Reflexion" vom März 2007 hatte Fidel Castro die Idee, die
Nahrungsmittel in Kraftstoff zu verwandeln, als "unheilvoll" und "Tragödie" bezeichnet.
"Wendet man dieses Rezept in den Ländern der Dritten Welt an, wird man sehen, wie viele Menschen unter
den Hunger leidenden Massen unseres Planeten dann keinen Mais mehr essen können. Oder noch schlimmer: Wenn
man den armen Ländern Finanzmittel zur Ethanolherstellung aus Mais oder anderen Nahrungsmitteln gibt, wird
kein Baum übrig bleiben, um die Menschheit vor dem Klimawechsel zu schützen."
Als positives Beispiel hob der SELA-Chef die Maßnahmen der
"Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas" (ALBA)
hervor, die vor fünf Jahren von Kuba und Venezuela
gegründet worden war und der mittlerweile auch Bolivien, Dominica, Ecuador, Honduras, Nicaragua, St.
Vincent und die Grenadinen sowie Antigua und Barbuda angehören. Seit April erhält Haiti, das der
Allianz nicht angehört, neun Millionen Dollar Hilfe aus den ALBA-Fonds für ein Landwirtschaftsprojekt.
Weitere zehn Projekte in acht Karibikstaaten werden mit 13 Millionen Dollar unterstützt.
Bereits seit 2005 unterstützt Venezuela die Staaten der Karibik und Mittelamerikas im Rahmen des
"Petrocaribe"-Abkommens mit Öllieferungen zu Vorzugsbedingungen. Von jedem für rund 100
Dollar verkauften Barrel Öl sollen künftig jeweils 50 Cent an Projekte zur Ernährungssicherheit,
ein regionaler Entwicklungsfonds soll mit 50 Millionen Dollar ausgestattet werden.
Deshalb ist der Dezember 2004 für Lateinamerika fast ein wichtigeres Datum als etwa der Tag des
Regierungsantritts von Hugo Chávez am 2. Februar 1999, obwohl dieser Tag eine grundlegende
Veränderung in der Region eingeleitet hat, durch die fortschrittliche Entwicklungen in vielen Ländern
des Kontinents ermöglicht wurden.
Aber im Dezember 2004, vor fünf Jahren, trafen sich Hugo
Chávez und Fidel Castro in Havanna, um eine Reihe von Kooperations- und Handelsabkommen zu unterzeichnen,
die sie auf den Namen Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) tauften. Der
Name dieser Initiative, hinter der zunächst nicht mehr steckte als die seit 1999 entwickelte Zusammenarbeit
beider Länder, ist eine Antwort auf die damals von den USA betriebene Amerikanische Freihandelszone (ALCA).
Diese von Chávez und Fidel Castro als "koloniales und imperialistisches" Projekt zur Annexion
Lateinamerikas abgelehnte Freihandelszone "von Alaska bis Feuerland" war 1991 vom damaligen
US-Präsidenten George Bush sen. initiiert worden.
Zunächst war es – außer von Kuba, das zu den
Gipfeltreffen gar nicht eingeladen worden war – von praktisch allen lateinamerikanischen Staatschefs
unterstützt worden. Die breite Protestbewegung in ganz Lateinamerika und auch die Warnungen Kubas vor einer
Annexion Lateinamerikas durch die USA schienen wirkungslos zu verpuffen. Erst als sich Chávez nach seinem
Amtsantritt 1999 an die Spitze der Kritiker setzte, änderte sich die Lage. Angesichts des wachsenden
Widerstandes aus der Bevölkerung und von immer mehr lateinamerikanischen Regierungen wurde das ALCA-Projekt
beim Amerika-Gipfel 2005 im argentinischen Mar del Plata ad acta gelegt.
Während die USA seither ihre Ziele über den Umweg bilateraler Freihandelsverträge, z.B. mit
Zentralamerika, Kolumbien und Peru, umzusetzen versuchen, hat sich ALBA aus einer erstmal propagandistischen
Losung zu einem echten Staatenbündnis entwickelt. Dabei ist ALBA ein grundsätzlich anderes Projekt,
als etwa die rein ökonomisch ausgerichteten Freihandelsabkommen oder auch traditionelle
Wirtschaftsbündnis wie der südamerikanische Gemeinsame Markt Mercosur. ALBA soll die
Souveränität der Mitgliedsstaaten stärken und die soziale Entwicklung unterstützen. Zugleich
erlaubt es ALBA seinen Mitgliedern, mit deutlich vernehmbarer Stimme aufzutreten.
Es waren vor allem die ALBA-Staaten, die im Juni 2009 in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die
Aufhebung des seit 1962 bestehenden Ausschlusses von Kuba aus der Organisation durchsetzten. Nach dem Putsch in
Honduras am 28. Juni war ALBA das erste Staatenbündnis, das sofort zu einem außerordentlichen
Gipfeltreffen zusammenkam und die Wiederherstellung der demokratischen Verhältnisse in dem Mitgliedsstaat
einforderte. Durch diese sofortige Reaktion hat die Bolivarische Allianz möglicherweise verhindert, dass
andere Bündnisse wie die OAS, die Vereinten Nationen oder die Rio-Gruppe sich auf Formelkompromisse
zurückziehen konnten, sondern Sanktionen gegen das Regime der Putschisten verabschieden mussten.
Auch nach der überraschenden Rückkehr des rechtmäßigen Präsidenten von Honduras,
Manuel Zelaya, in die Hauptstadt Tegucigalpa, gehörte ALBA zu den ersten Organisationen, die sich hinter
die Entscheidung des gestürzten Staatschefs stellten, in sein Heimatland zurückzukehren und Zuflucht
in der brasilianischen Botschaft zu suchen: "Die Rückkehr von Präsident Manuel Zelaya nach
Honduras erfüllt die von der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas, der
Vollversammlung der Vereinten Nationen, der Organisation Amerikanischer Staaten, der Rio-Gruppe und anderen
verabschiedeten Beschlüsse und ebnet den Weg für die Wiederherstellung der Demokratie in Honduras,
die durch den Putsch vom 28. Juni schwer beschädigt wurde.
Im Bewußtsein der andauernden Verletzung der Menschenrechte und der grundlegenden Freiheiten durch die
Diktatur fordern die Regierungen der ALBA außerdem die Staaten Lateinamerikas, der Karibik und der Welt,
die regionalen und internationalen Organisationen sowie die sozialen Bewegungen und Organisationen auf,
koordinierte Aktionen durchzuführen, die es der rechtmäßigen Regierung von Manuel Zelaya
erlauben, ihre Aufgaben wieder übernehmen zu können.
Abschließend bekräftigen die Regierungen der ALBA, dass die Rückkehr von Präsident Zelaya
bedingungslos und in Übereinstimmung mit dem demokratischen Willen des Volkes von Honduras, das ihn in
souveräner Weise zum Präsidenten der Republik Honduras gewählt hat, erfolgen muss."
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Putschistenregime in Honduras, das sich bei Redaktionsschluss
dieser Ausgabe noch an seine Macht klammerte und das Militär brutal gegen die Widerstandsbewegung vorgehen
ließ, bislang vor einem Austritt aus ALBA zurückgeschreckt ist, obwohl Putschistenchef Micheletti
sonst keine Gelegenheit ausläßt, Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez für alle
Übel der Welt verantwortlich zu machen. Hintergrund dieses Zögerns ist, dass sich große Teile
der Unternehmerschaft von Honduras gegen einen Austritt aus ALBA ausgesprochen haben, weil sie mit diesem
Bündnis ganz konkrete wirtschaftliche Perspektiven verbinden, die ihnen etwa von den USA oder gar den
ebenso armen Nachbarländern nicht geboten werden.
Auch an solchen Diskussionen zeigt sich, dass ALBA, wie Chávez es formulierte, "kein theoretischer
Vorschlag mehr, sondern eine geo- und machtpolitische Plattform" ist. Über den im vergangenen Juni
gebildeten Politischen Rat der Bolivarischen Allianz wurde die politische Flanke des Bündnisses weiter
gestärkt, um ein Abrutschen der Allianz in einen Ökonomismus zu verhindern werden. Davor hatte
Ecuadors Präsident Rafael Correa mit Blick auf die Entwicklung anderer Integrationsprozesse in der Region
wie der Andengemeinschaft CAN gewarnt.
Aber auch wirtschafts- und finanzpolitisch hat ALBA der Region einiges zu bieten. Im November 2008, auf dem
Höhepunkt der Finanzkrise, vereinbarten die Präsidenten der ALBA-Staaten die Schaffung einer
gemeinsamen Währung sowie einen Finanzausgleich zwischen ihren Ländern. Der Name der neuen
Währung ist Sucre. Das ist nicht nur der Name eines südamerikanischen Freiheitskämpfers, der
gemeinsam mit Simón Bolívar für die Befreiung seiner Heimat von der spanischen Kolonialherrschaft
kämpfte, sondern auch der Name der früheren Währung Ecuadors, die im September 2000 zugunsten
des US-Dollars abgeschafft worden war. Offiziell ist es hingegen die Abkürzung für "Einheitliches
System für Regionale Kompensation".
Zunächst soll der Sucre, dessen Entwicklung bei weiteren Gipfeltreffen und Beratungen von Fachleuten in
den vergangenen Monaten weiter konkretisiert worden war, eine virtuelle Rechnungseinheit sein, wie es einst der
ECU in der Europäischen Gemeinschaft gewesen war. Aber wie dieser den Weg zum Euro geebnet hatte, soll
längerfristig aus dem Sucre tatsächlich eine echte Währung werden. Dadurch könnte sich
Ecuador dann aus der Abhängigkeit vom Dollar ebenso befreien, wie dies Kuba Perspektiven bei der
Überwindung der mit der Existenz von zwei Währungen auf der Insel verbundenen Probleme eröffnen
würde.
"Wir werden nicht mit verschränkten Armen darauf warten, dass diese Leutchen vom IWF und der Weltbank
unsere Probleme lösen", hatte Chávez bei dem damaligen Gipfeltreffen betont. Und der kubanische
Vizepräsident Ricardo Cabrisas hatte darauf hingewiesen, dass man sich nicht nur einer Finanzkrise
gegenüber sah, sondern es sich um eine allgemeine Krise handele, die auch die Bereiche der Energie, der
Lebensmittelversorgung, der Umweltzerstörung und der sozialen Bereiche umfasse. Die Rettungspakete der USA
und Europas richteten sich vor allem an die Spekulanten und Großbanken, hatte Cabrisas kritisiert. Sie
seien jetzt in der Lage, drei Billionen Dollar in eine zusammengebrochene Struktur zu pumpen, während sie
jahrzehntelang nicht fähig waren, ihre Verpflichtung zu erfüllen, 0,7 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts als Entwicklungshilfe auszugeben. Auch 30 Milliarden Dollar für die Entwicklung der
Landwirtschaft in der Dritten Welt oder 20 Milliarden für alle Menschen erreichende Bildungsprogramme waren
den mächtigen Ländern zu viel. Daraus leite sich die Bedeutung von ALBA als einer auf Solidarität,
Zusammenarbeit und gegenseitigen Vorteilen basierenden Gemeinschaft ab.
André Scheer
Fotos: Impressionen aus Havanna, Claudia Schröppel
CUBA LIBRE 4-2009