Der uruguayische Autor Raúl Zibechi widmet sich der sozialen Bewegung im bolivianischen El Alto und wird zum Verteidiger eines indigenen Kommunitarismus.
Im Oktober 2003 übernahmen die Bewohner von El Alto (Bolivien) durch Nachbarschaftsräte oder andere Instanzen die Stadtteilregierungen und ersetzten damit die staatlichen Strukturen, die ihre Legitimität verloren hatten. Der uruguayische Autor Raúl Zibechi untersucht die Aufstände, Rebellionen und Mobilisierungen, die zum Aufstand im Oktober 2003 geführt haben, der mit dem Sturz des neoliberalen Präsidenten Losada endete und letztendlich zum Wahlsieg von Evo Morales führte.
Er gibt einen guten Überblick über die recht junge Geschichte der Stadt El Alto, die oberhalb der bolivianischen Hauptstadt La Paz liegt und in der jüngeren Geschichte eine wichtige Rolle bei den Aufständen gespielt hat. Er beschreibt, wie sich in dieser Stadt in mehreren Wellen Menschen niedergelassen haben, die aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen Naturkatastrophen aus anderen Teilen des Landes vertrieben worden waren. Die Menschen siedelten sich in El Alto in separaten Stadtteilen an. Dort gab es einen besonders großen Zusammenhalt, der noch verstärkt wurde, weil in der Stadt fast sämtliche Infrastruktur fehlte. Hinzu kommt, dass die BewohnerInnen, als sie in die Stadt kamen, unterschiedliche Kampferfahrungen mitbrachten. So gehörten kampferfahrene Bergleute, die keine Arbeit mehr bekommen hatten, zu den Bewohnern von El Alto. Dieser große Bezug auf den Stadtteil, der zum ständigen Lebensmittelpunkt der Bewohner wurde, kombiniert mit früheren Kampferfahrungen könnte natürlich eine gute Erklärung für die Widerständigkeit der Bewohner sein.
Doch Zibechi verfolgt diese naheliegende Argumentation nicht. Er sieht in den indigenen Charakter und deren besonderen Begriff der Gemeinschaft vieler der Bewohner von El Alto einen Schlüssel zur Erklärung. Er macht sich dabei zum Verteidiger eines indigenen Kommunitarismus, der die Gemeinschaft gegen den Staat stellt. Dabei blendet er die negativen Erscheinungen solcher vorstaatlichter Gemeinschaften weitgehend aus. So erwähnt er, dass in einer Gemeinschaft jede Aktivität als Pflicht und Dienst am Ganzen verstanden wird. Trotzdem setzt er sie positiv von politischen Bündnissen, Gewerkschaften, Parteien und Bauernorganisationen ab, weil die zu einer Trennung von Basis und AktivistInnen geführt hätten. Dass eine solche Trennung durch Rätemodelle überwindbar sein kann, diskutiert Zibechi nicht. Warum es emanzipatorischer sein soll, als Mitglied einer Gemeinschaft Dienst zu tun, statt sich freiwillig und auf Grund eigener Interessen in einer politische, sozialen oder gewerkschaftlichen Organisation zu engagieren, ist nicht nachzuvollziehen.
Zumal er die Bedeutung des indigenen Kommunitarismus auch unbegreiflich ausweitet. Das ein Zusammenhalt im Stadtteil auch durch eine soziale Organisierung möglich ist, hat sich in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oft genug gezeigt. Die Art der Blockaden mit Steinen, die Zibechi auch als Pluspunkt der indigenen Gemeinschaftsidee zuschreibt, wird doch wohl auch in anderen Kontexten angewandt. Sie ist eine Folge einer politischen Taktik und nicht einer westlichen oder indigenen Sichtweise.
Verwestlichte Intellektuelle
Dabei ist sich Ziebechi sogar nicht zu schade, verwestlichte Intellektuelle zu schelten, die in den indigenen Familienbetrieben einen Ort der Ausbeutung von Arbeitskraft sehen. "Ohne die Familienwirtschaft und den Familienbetrieb wären die in die Stadt emigrierten Aymara an einen Arbeitsplatz in einen Großbetrieb oder einer privaten Behörde geraten. Viele würden das zwar als ein Privileg ansehen, jedoch auf Kosten der Zerstörung der eigenen Kultur".
Diese Kritik an der Verwestlichung kombiniert mit der Warnung der Kulturzerstörung durch die Großindustrie ist ein Topos des reaktionären Antikapitalismus. Es ist besonders merkwürdig, wenn solche Argumente von einem Mann kommen, der sich ständig auf Toni Negri, Deleuze und andere französische Postmoderne bezieht. Letztlich wird das Elend eines Postmodernismus deutlich, der noch für alle regressiven Erscheinungsformen Verständnis aufbringt, wenn sie nur von einer scheinbar ursprünglichen Kultur stammen. Dagegen wird alles Progressive am Kapitalismus, zum Beispiel die Zerstörung dieser Art von Kultur und Gemeinschaft und natürlich auch einer modernen Linken eine Absage erteilt.
Verständnis für kommunale Lynchjustiz
Besonders deutlich wird die Nähe zur Verteidigung der Regression bei Zibechi im Kapitel über die kommunitäre Justiz in El Alto. Auf Schildern in dem Stadtteil wird "Tod den Dieb gefordert" und Puppen mit umgeknickten Köpfen säumen die Straßen. "In einigen Fällen werden die von den Nachbarn überraschten und identifizierten Delinquenten tatsächlich umgebracht", schreibt Zibechi, und betont, dass er diese Methoden weder be- noch verurteilen möchte. Denn es könne nicht bestritten werden, dass die Bewohner von El Alto unter schweren Sicherheitsproblemen leiden. Nur mit dem Sicherheitsproblem wird überall in der Welt hartes Durchgreifen, Lynchjustiz und die Todesstrafe verteidigt. Dass in einem Buch, für das der bekannte libertäre Theoretiker und Verteidiger des mexikanischen Neozapatismus John Holloway das Vorwort geschrieben hat, soviel Verständnis für den kurzen Prozess kommt, wenn er nur von den indigenen Kommunen ins Werk gesetzt wird, müsste überraschen, wenn man nicht wüsste, dass die libertär-postmoderne Ablehnung und des Staats die Aufkündigung von Rationalität nicht selten mit einem großen Verständnis für die unmittelbare Gewalt von unten korrespondiert.
So muss ein sehr gespaltenes Resümee des Buches erfolgen. Dem Autor, der für mehrere linke Zeitungen in Lateinamerika schreibt, kommt das Verdienst zu, einen guten Einblick in die sozialen Bewegungen von El Alto gegeben zu haben. Sein großes Manko ist, dass er zu ideologisch an die Thematik herangeht und die Kämpfe lediglich durch die postmoderne Brille zu betrachtet und dabei alle anderen Erklärungsmöglichkeiten nicht nur ausschließt, sondern explizit ablehnt. Allerdings hält er bei der Bewertung der gegenwärtigen bolivianischen Regierung im letzten Kapitel seinen strikt antistaatlichen Blickwinkel nicht durch. Er konstatiert, dass es sehr wohl positive Veränderungen für die Bevölkerungsmassen durch die Linksregierung von Evo Morales gegeben hat. Seine Warnungen vor einer Verstaatlichung der sozialen Bewegungen hingegen ist sehr konkret, und kann auch für alle anderen Teile der Welt auch gelten. Zum Verteidiger des indigenen Kommunitarismus braucht man deswegen nicht zu werten.
Raúl Zibechi, Bolivien Die Zersplitterung der Macht
Mit einem Vorwort von John Holloway
Deutsche Erstausgabe, Aus dem Spanischen übersetzt von Horst Rosenberger, Hamburg 2009,
EDITION NAUTILUS, Broschur, 192 Seiten, € 15,90 ISBN 978-3-89401-591-6