Lindebaugh Peter und Rediker Marcus
Die vielköpfige Hydra Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik
ISBN 978-3-935936-65-1; 432 Seiten; Berlin-Hamburg 2008; 28.00 €; Verlag Assoziation A
Edward und Catherine Despard oder Robert Wedderburn – diese Namen dürften kaum noch bekannt sein.
Doch diese Menschen haben in ihrer Zeit gegen Unterdrückung und Ausbeutung gekämpft und
geschrieben, wurden verfolgt und gefoltert. Die drei gehören zu der Vielzahl von Menschen des
afrikanischen und amerikanischen Kontinents, die die US-amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und
Marcus Rediker in ihren historischen Buch "Die vielköpfige Hydra" einer größeren
Öffentlichkeit bekannt gemacht haben. Der Untertitel "Die verborgene Geschichte des
revolutionären Atlantik" charakterisiert den Inhalt des Buches treffend. Dem Verlag Assoziation
A ist es zu verdanken, dass es jetzt in einer Übersetzung von Sabine Bartel auch den
deutschsprachigen Lesern zugänglich ist. Anhand konkreter Biographien entwickeln die Autoren ein
Panorama der Lebensumstände der Armen des 16. und 17. Jahrhundert. Hier ist die Zeitspanne zwischen
der bei uns weitgehend vergessenen Englischen Revolution und der viel bekannteren Französischen
Revolution gemeint. Für das Autorenduo war es eine Ära der ersten frühkapitalistischen
Globalisierung. Ihr Zentrum war aber nicht Europa sondern die Karibik, die zu jener Zeit das Zentrum des
Handels und des Transportwesens war. Tausende Auswanderer waren dort auf der Suche nach einem besseren
Leben in den aus europäischer Sicht "neuen" Kontinenten. Gleichzeitig wurden auf der
Karibik die afrikanischen Sklaven von Afrika zum amerikanischen Kontinent gebracht. Andere Schiffe
brachten die Produkte ihrer Sklavenarbeit, Bodenschätze aller Art, nach Europa und sorgen, wie der
US-Soziologe Eduardo Galeano in seinem Bestseller "Die offenen Adern Lateinamerikas"
nachgewiesen hat, für den ersten frühkapitalistischen Aufschwung in Europa. Lindebaugh und
Rediker zeichnen nun die Spuren von Widerständigkeit und Aufruhr nach, mit denen sich die Menschen
wehrten.
Vielfältiger Widerstand
Das beginnt mit der Flucht vieler Sklaven in das Hinterland der karibischen Inseln. Viele schließen
sich dort zu regelrechten Kommunen zusammen und machen der Seefahrt mit Piraterie das Leben schwer. Wenn
man sich vergegenwärtigt, dass die Seefahrt zu dieser Zeit das wichtigste Transportwesen war, wird
erst deutlich, welchen Schrecken die Männer mit der Piratenfahne bei den europäischen Politikern
und Kaufleuten auslöste. Im Buch wird auch gezeigt, wie die ersten europäischen
Militäraktionen gegen die Piraterie vorbereitet wurden, die schließlich soweit dezimiert wurde,
dass sie für die europäische Wirtschaft keine Gefahr. mehr bedeutete.
Ausführlich werden die Revolten der Plantagenarbeiter von Virginia 1663 – 1676, der gescheitere
Aufstandsversuch der New Yorker Unterklassen 1741 und der Sklavenaufstand von Haiti 1791- 1804
geschildert. Im Buch werden auch erste Vorstellungen einer klassenlosen Gesellschaft entwickelt, die
Sklaven und europäische Arme oft gemeinsam entwickelten. Schließlich war ihre Situation gar
nicht so unterschiedlich. Oft fanden sie sich gemeinsam in den Kasematten der Zucht- und
Arbeitshäuser wieder und entwickelten selbst unter den widrigsten Bedingungen Visionen von einem
"freien und gleichen Menschengeschlecht", die in dem Buch vorgestellt werden.
Spuren dieses Kampfes um die Freiheit findet sich an unerwarteten Stellen, beispielsweise im
Theaterstück "Der Sturm" von William Shakespeare. Es geht auf Augenzeugenberichte nach
einem Schiffbruch der Sea-Venture im Juli 1609 zurück. Das Schiff sollte sowohl europäischer
Auswandere als auch afrikanische Sklaven in die neu eroberte Welt bringen. Nach dem das Schiff auf einer
Insel gestrandet war, machten die Sklaven und das Schiffspersonal Schluss mit der Klassengesellschaft auf
dem und errichteten die Keimform einer egalitären Gesellschaft, die erst durch eine Intervention aus
Großbritannien beendet wurde.
Gegenrevolution und Entstehung des Rassismus
Erst Ende des 18. Jahrhundert entwickelten sich Reaktion auf diese "vielköpfige Hydra" des
Aufstandes rassistische Weltsichten, so die an vielen Beispielen belegte These des Autorenduos. Dabei
begreift das Autorenduo den Rassismus nicht nur als ein Werkzeug der Herrschenden zur Spaltung der
Unterdrückten. Auch unter den weißen Unterklassen begann das Rassekonzept an Bedeutung zu
gewinnen. Schon in den Jahren 1764 und 1765 verwandelte sich die New Yorker Sektion der einst
revolutionären Sons of Liberty in Garanten der Ordnung und bekämpften den Aufruhr, aus dem sie
einst selbst hervorgegangen waren. Auch die Erfahrung des Aufstands der Sklaven von Haiti hat dazu
beigetragen, dass sich das Lager der Gegenrevolution formierte. Dass sich diese Menschen eigenständig
erhoben haben und nicht auf die pateranalistische Unterstützung der "wohlmeinenden"
Weißen warteten, trieb auch manchen vormals Radikalen ins Lager der rechten Ordnungspartei. Mit dem
Rassekonzept konnte dieser Übergang besser bemäntelt werden. "Als die Zahl der Opfer der
britischen Feldzüge gegen Haiti in den Jahren 1795/90 immer größer wurde, machte sich
Panik und Rassismus in der Gesellschaft breit", schreiben die Autoren.
Das Buch ist ein wahres Anti-Geschichtsbuch, das den europäischen Blick hinter sich lässt und
noch dazu spannend zu lesen und auch heute noch verdammt aktuell ist.
Peter Nowak
CUBA LIBRE 4-2008