Kubanische Stimmen: Die Revolution im Interview

Im angelsächsischen Raum längst als eigene Methode der Geschichtswissenschaft etabliert, führt Oral History, also das Führen von Interviews mit Zeitzeugen zum Zweck des historischen Erkenntnisgewinns, bei uns noch immer ein Nischendasein, dem zudem der Ruch der Unwissenschaftlichkeit anhaftet. Der Verdacht ist unbegründet, zeigen doch mehr oder weniger ernst zu nehmende Quellen von der Konstantinischen Schenkung (1) bis zur "Emser Depesche", dass Schriftlichkeit und Glaubwürdigkeit nicht gleichbedeutend sind.

Vielmehr bietet das direkte Gespräch mit Zeitzeugen, die systematische Vorgehensweise nach bewährten Prinzipien – wissenschaftstechnischen wie ethischen – der Interviewführung, die einzigartige Möglichkeit, die offizielle Sichtweise historischer Ereignisse um die Sicht ihrer Teilnehmer auf einfacherer Ebene zu ergänzen. Umso mehr muss es wundern, dass dieser Versuch auf Kuba bisher kaum unternommen wurde; umso mehr zu bedauern ist es, dass ein von einem US-amerikanischen Forscherteam in den 70er Jahren unternommener Versuch eines Oral History Projekt auf Kuba von kubanischer Seite gestoppt wurde – und vor allem ist es umso mehr zu begrüßen, dass nun in britisch-kubanischer Zusammenarbeit doch noch ein Oral History Archiv zur kubanischen Revolution entstanden ist.

Voces Cubanas

(Kubanische Stimmen) ist der Versuch, durch intensive Interviews mit über 100 zeugen der Ereignisse der kubanischen Geschichte seit 1959, in Gesprächen mit bis zu 30 Stunden, ein Stimmungsbild einzufangen, wie die Kubaner ihre Geschichte, ihre Revolution, und nicht zuletzt ihren Alltag sehen. Eines der Ergebnisse ist, je nach Sichtweise, überraschend unspektakulär: "Die meisten US-Amerikaner halten Kuba für einen Gulag", sagte die Projektleiterin Elizabeth Dore bei der Vorstellung ihres Projekts im US-basierten Latin American Institute. "Das System funktioniert wohl eher durch Zustimmung als durch Zwang", fügte sie hinzu: "Die Kubaner wünschen sich keinen Kapitalismus und Privateigentum, sondern wenn überhaupt einen sicheren Arbeitsplatz". Abgesehen von der Tatsache, dass sich über das Fehlen an Letzterem kaum ein Kubaner zu beklagen braucht, ist dieses Ergebnis zunächst mit US-amerikanischen Vorstellungen zu Kuba so wenig in Einklang zu bringen wie der Heroismus, den Fidel Castro seinen Landsleuten gelegentlich in ihrer Bereitschaft, den Sozialismus zu verteidigen, nachsagt.

Auf wesentlich kleinerer, informellerer Ebene und ohne Team hatte ich zeitgleich (und ohne von Voces Cubanas zu wissen) Gelegenheit, auf Kuba ebenfalls Oral History Interviews zur kubanischen Revolution zu führen, (2) Im Großen und Ganzen sind meine Ergebnisse mit denen aus Voces Cubanas kompatibel: die meisten Kubaner sähen in einer Wiederkehr des Kapitalismus keinen Vorteil. Sie sind sich der für die Region einzigartigen medizinischen Versorgung, verschwindend geringen geringen Arbeitslosigkeit, Bildungschancen und sozialen Sicherung durchaus bewusst. Gleichzeitig aber fordern insbesondere die Jüngeren den Wegfall bürokratischer Hürden. (3), leichteren Zugang zu Konsumgütern sowie die Liberalisierung der Presse, welche auf Kuba nach wie vor von den Regierungspostillen dominiert wird. Weitere Verbesserungen im Bildungssystem sowie die steigenden Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten sind hingegen Gebiete, für die nicht nur die interviewten Personen, sondern auch offizielle kubanische Stellen längst Handlungsbedarf erkannt haben.

Zwar lassen sich kubanische Gehälter mit europäischen Standards nur schwer vergleichen, und eine Pizza an einem Straßenstand kostet tatsächlich max. 30 Euro Cent, aber auch die müssen bei einem Monatseinkommen von umgerechnet weniger als 20 Euro erst einmal berappt werden. (4) Dies soll einfach nur verdeutlichen, warum eine der befragen Personen auf die Frage, was er sich für die Zukunft Kubas wünsche, antwortete: "dass die Leute es ein bisschen einfacher haben." Ein Wunsch, der sich sicher über Kuba hinaus verallgemeinern lässt.

Hier mag ein überraschender Erkenntnisgewinn auf für diejenigen liegen, die die kubanischen Verhältnisse nicht nur aus den Mainstreammedien kennen, denn die Interviews zeigen nicht zuletzt eines: Kuba ist ein Land wie andere auch, mit Menschen, die alltägliche Sorgen haben. Sicher schafft der Sozialismus einzigartige Bedingungen, bedeutende Fortschritte, deren Erhalt den Kubanern nur zu wünschen ist. Aber weder ist Kuba ein Gulag noch eine Insel der Glückseligen, sondern eine sicher bemerkenswerte Gesellschaft, deren Mitglieder gerne Aufschluss über ihr Selbstverständnis geben. Wie dieses unter den Bedingungen des 50. Jahrestages der kubanischen Revolution aussieht, darüber gibt Voces Cubanas Aufschluss, und hoffentlich auch die kritische Auswertung, die dem Projekt in den nächsten Jahren folgen wird.

1) Mit der Konstantinischen Schenkung versuchte die Kurie, vermittels eines nachweislich gefälschten Dokuments, ihren Anspruch auf die Oberhoheit über das Kaisertum zu legitimieren.

2) Der erste Aufenthalt im März/April 2007 hätte sich ohne mein Stipendium, der zweite im Januar 2008 ohne den zusätzlich geleisteten Auslandszuschlag nicht finanzieren lassen. Mein besonderer Dank gilt daher auch an dieser Stelle der Hans-Böckler-Stiftung.

3) Zwar können Kubaner nicht ohne Weiteres reisen, mit Weiterem aber schon. Entgegen verbreiteter Vorstellung ist es für Kubaner durchaus möglich, einen Auslandsbesuch abzustatten, so lange dieser bezahlt ist. Allerdings ist die derzeitige Visavergabepraxis insbesondere der deutschen Behörden für Kubaner sehr restriktiv. Die USA hingegen halten sich seit vielen Jahren nicht an das von Fidel Castro und Ronald Reagan ausgehandelte Migrationsabkommen, indem sie deutlich unter den 10.000 zugesicherten Visa für Kubaner bleiben.

4) Zum Vergleich: 0,30 Euro von einem Lehrergehalt von ca. 18 Euro entspricht 1,67%. Legt man ein europäisches Nettogehalt von 1.000 Euro zugrunde (ohne Miete und Nebenkosten), wäre das, als würde bei uns eine kleine Pizza 16,70 Euro kosten. Ein kleiner Kaffee in einem einfachen Café kostet dann 2,50 Euro, während Luxusartikel wie Bier oder Deodorant bereits mit 5% eines Monatseinkommens einschlagen.


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Nick Williams

CUBA LIBRE 4-2008