Ein Geschlecht haben wir alle

Interview mit Mariela Castro Espín, Direktorin von CENESEX, Cuba

"Ein Posten, von dem Einfluss auf die Jugend ausgeübt werden kann, darf nicht mit einem Homosexuellen besetzt werden", so máximo lider Fidel Castro in einem Interview 1965. Ein Homosexueller könne zwar eine politisch korrekte Einstellung haben, doch niemals ein echter Revolutionär sein. Traurige Konsequenz dieser Haltung waren die UMAP (Unidades Militares de Ayuda a la Producción), Zwangsarbeitslager für Homosexuelle und andere "sozial auffällige" Personen. Gut 40 Jahre später hat sich auf der revolutionären Insel zum Glück einiges getan. UMAP gibt's schon lange nicht mehr, seit 1979 auch nicht mehr den Paragraphen, der Homosexualität unter Strafe stellte. Spätestens mit dem Film Erdbeer und Schokolade (1994) setzte eine kulturelle schwullesbische Perestroika auf der Insel ein. Auch die Einstellungen der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft wandeln sich langsam – trotz hartnäckigem Machismo, der selbst von sozialistischen Regimes nie überwunden werden wollte. Zu diesem Wandel hat auch Fidel Castros Nichte Mariela Castro Espín mit ihren Initiativen beigetragen. Die Tochter des amtierenden Präsidenten Raúl Castro Ruz ist Direktorin des Zentrums für Sexualerziehung CENESEX (Centro Nacional de Educación Sexual) und sorgte erst kürzlich für Aufsehen mit dem Vorschlag, das öffentliche Gesundheitssystem für Geschlechtsumwandlungen von Transsexuellen aufkommen zu lassen. Neben ihren vielen Aktivitäten fand die Politikerin, die als Rebellin in der Familie gilt, dankenswerterweise auch etwas Zeit, um unsere Fragen zu beantworten.

Wie ist die aktuelle Situation der Schwulen/Lesben/Transgender/Bisexuellen (LGTB) auf Cuba?

Die aktuelle Situation der LGTB auf Cuba ist genauso vielgestaltig wie die der heterosexuellen Bevölkerung auf Cuba und weltweit. Allerdings gibt es nicht so viele Übergriffe wie in vielen anderen gut dokumentierten Fällen in sowohl entwickelten als auch unterentwickelten Ländern. Die Homophobie auf Cuba ist auch nicht so grausam. Hassverbrechen kommen sehr selten vor – wenn es zu so etwas kommt, werden sie von Bevölkerung und Behörden als zutiefst ungerecht empfunden. Dementsprechend wird darauf reagiert. Das heißt aber nicht, daß es nicht auch andere Formen von Diskriminierungen gibt, die auf subtile oder offensichtliche Art und Weise weiterhin in unserem Alltag und allen unseren Institutionen existieren.

Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen Schwulen, Lesben und Transgender?

Ja, der Schwule gehört immer noch dem dominanten Geschlecht an und benutzt die gleichen Codes. Die Lesbe macht auf ihrem Weg des empowerment die gleichen Höhen und Tiefen wie die gesamte weibliche Bevölkerung der Insel durch. Transgender werden als etwas Seltsames wahrgenommen, da sie die kulturellen Normen noch mehr in Frage stellen. Für sie ist deshalb eine Gesetzgebung, die ihre soziale Integration und eine spezialisierte Betreuung im Gesundheitswesen ermöglicht, noch wichtiger.

Die Haltung gegenüber LGTB hat sich in Cuba verändert – woher kommt das? Spielt der Tourismus dabei eine – positive oder negative – Rolle?

Ja, sie hat sich verändert. Meiner Meinung nach hängt das vor allem von tief greifenden revolutionären Veränderungen ab, die unweigerlich auch Wertesysteme, Lebensprojekte und Paradigmen verändern – indem die Geschichte neu interpretiert wird, die zwischenmenschlichen Beziehungen sich wandeln und das allgemeine Bildungsniveau der Bevölkerung erheblich steigt. Einige Prozesse vollziehen sich schneller, andere langsamer.

Der Tourismusboom war eine notwendige ökonomische Lösung, als sich unser Land in einem seiner schwierigsten Momente der jüngsten Geschichte befand. Er erlaubte uns zu widerstehen und unser soziales Projekt am Leben zu halten. Gleichzeitig waren wir uns dessen bewusst, dass diese Entwicklung zum Verlust vieler sozialer Werte beiträgt. Der Tourismus leistete seinen wirtschaftlichen Beitrag, aber unter diesen schmerzhaften, prekären Bedingungen hat er auch dazu geführt, dass verschiedene und auch bedauernswerte Formen von heterosexueller und homo-bisexueller Prostitution entstanden sind. Das betrifft nicht nur LGTB. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Situation kann man deshalb nicht abschließend feststellen, ob der Tourismus eine positive oder eine negative Rolle gespielt hat.

Der verbesserte Lebensstandard und das höhere Bildungsniveau, die in den vorhergehenden Jahren erreicht worden waren, eine Politik, die auf gleiche Rechte für Frauen abzielt, sowie das Nationale Programm für Sexualerziehung sind ohne Zweifel die wichtigsten Faktoren, die hinter den positiven Veränderungen stehen.

Homophobie hängt sehr eng mit Machismo zusammen – wie kann das verändert werden? Brauchen wir ein neues Modell des "neuen Menschen"?

Die Führer der Cubanischen Revolution haben niemals vom "neuen Menschen" vor dem Hintergrund von stereotypen oder vorgefertigten Realitäten gesprochen. Dennoch gab es Funktionäre und "Ideologen" des Sozialismus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Machismo und Homophobie in die angeblichen Werte ihres doch sehr schematisierten Modells vom neuen Menschen aufgenommen haben.

Homophobie kann am besten mit Hilfe einer Gesetzgebung bekämpft werden, die LGTB ihre vollen Rechte gewährleistet; mit Hilfe von Erziehungsmaßnahmen sowie anderer politischer Mechanismen, die dazu beitragen können, gerechtere kulturelle Werte zu etablieren.

Warum gibt es kein spezielles Antidiskriminierungsgesetz für LGTB?

Die Verfassung der Republik schützt alle Personen, unabhängig von ihrem Geschlecht, schließlich haben wir alle ein Geschlecht. Zu dem Zeitpunkt ihrer Verabschiedung wurde dies als gerecht empfunden, doch die Wirklichkeit hat uns gelehrt, dass das nicht ausreicht. Unsere Gesetzgebung muss über explizitere juristische Mechanismen verfügen, die den LGTB ihre Rechte sichert und homophoben Verhaltensweisen unverrückbare Grenzen setzt. Zur Zeit arbeiten wir an der Modifizierung des Familiengesetzbuches, das 1975 per Volksbefragung angenommen wurde. (1) Damals war es sehr revolutionär, doch heute benötigt es Reformen, die oben genannten Absichten Genüge tun.

Gibt es Daten über die Situation der LGTB auf dem Arbeitsmarkt?

Darüber haben wir keine Daten. Als CENESEX und die Cubanische Frauenföderation ihren letzten Zensus erhoben, schlugen wir vor, einige Fragen diesbezüglich mit aufzunehmen, doch die Entscheidungsträger fanden dies schikanös und irrelevant.

Glauben Sie, dass Minderheiten stärkende Maßnahmen wie z.B. affirmative actions oder Quoten dazu beitragen könnten, die Situation der LGTB zu verbessern?

Ich glaube nicht. Die Praxis hat im Hinblick auf die ethnische und die Geschlechterfrage gezeigt, dass das nicht weiterhilft. Lieber unterstütze ich ein Projekt der sozialen Integration, das alle einbezieht und alle verteidigt – ohne jegliche Diskriminierungen oder Unterscheidungen.

Können Sie sich vorstellen, dass eines Tages eine homosexuelle Person in der Führung der Partido Comunista de Cuba (PCC) sein wird?

Das brauche ich mir nicht vorzustellen. Ich nehme an, dass es bereits einige gibt. Wo Menschen sind, gibt es Vielfalt.

Einige Polizeikräfte haben immer noch Schwierigkeiten mit der Anwesenheit von LGTB in der Öffentlichkeit (z. B. 2004 mit travestis in La Habana) – woher kommt das und wie kann dem begegnet werden?

Das liegt an der fehlenden Gesetzgebung sowie der fehlenden expliziten Politik zum Thema. Deshalb bündeln wir gerade alle unsere Kräfte, um in dieser Richtung etwas zu ändern. Nichtsdestotrotz ist unsere Gesellschaft viel entspannter, es gibt mehr Verständnis und Interesse daran, wie diesen Lebenswelten begegnet werden kann – sowohl von Seiten der Familien als auch der Ordnungskräfte. Dazu gibt es Initiativen, die von bestimmten Institutionen mit Hilfe der Medien entwickelt worden sind.

In welchem gesellschaftlichen Bereich werden LGTB am meisten akzeptiert – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Sport, Kultur oder Familienleben?

Für eine Antwort auf diese Frage verfüge ich über keine Daten, aber in allen diesen Bereichen gibt es herausragende LGTB-Persönlichkeiten, die sehr respektiert werden. Im Sport gibt es wahrscheinlich die meisten Schwierigkeiten, die wirkliche sexuelle Orientierung entspannt und offen zu leben, doch ich glaube, dass auch die homophoben Anforderungen des internationalen Sportbetriebs diese Einschränkung verursacht haben.

In Santa Clara gibt es das Kulturzentrum El Mejunje, das auch viele LGTB anzieht – gibt es etwas Ähnliches in Havanna?

El Mejunje ist ein sehr originelles Kulturzentrum, das aus dem Zusammenkommen verschiedener künstlerischer, politischer und wirtschaftlicher Talente aus Santa Clara entstanden ist. Das Programm ist für die ganze Bevölkerung und für alle Altersstufen; außerdem gibt es dort eine exzellente Gesundheitsaufklärung und Sexualerziehung. Aufgrund seiner Arbeitsweise ist es einzigartig für das ganze Land, dabei hat der künstlerische Leiter eine besondere Rolle gespielt. In anderen Städten gibt es Initiativen, die eher mit der HIV/AIDS-Prävention zu tun haben. Keine wird wie El Mejunje sein, sie müssen ihr eigenes Profil finden.

Welches sind die nächsten Projekte, die Sie als vorrangig ansehen?

Die nationale Strategie zur Betreuung Transsexueller sowie die vorgeschlagenen Abänderungen des Familiengesetzbuches, in das zum ersten Mal ein Artikel zur Geschlechtsidentität und zur sexuellen Orientierung aufgenommen wird – über beides wird im Parlament abgestimmt.
Des weiteren Modifikationen von anderen Gesetzen. Außerdem Erziehungskampagnen, die wir mit Hilfe der Medien entwickeln. Ebenso wollen wir die wissenschaftliche Forschung zum Thema voranbringen. Und schließlich eine Verlagspolitik, die zur Bildung der Bevölkerung beiträgt.

Das E-Mail-Interview mit Mariela Castro führte Britt Weyde im April 2007.

1) Darin gibt es sogar ein Gesetz, das Männer dazu verpflichtet, Hausarbeit und Kindererziehung mit der Partnerin zu teilen. Als geistige Urheberin des Familiengesetzbuches gilt Mariela Castro Espíns Mutter Vilma Espín Guillois, die seit 1960 Vorsitzende der Cubanischen Frauenföderation FMC ist.

CUBA LIBRE
Ila 305, Mai 2007

CUBA LIBRE 4-2007