Claudio Abbado hat ein lateinamerikanisches Jugendorchester gegründet.
Gustav Mahler und Havanna, deutsche Spätromantik und karibisches Temperament – eine
ungewöhnliche Paarung: Möglich wird sie durch Claudio Abbado. Der Stardirigent weiß,
dass Kuba noch anderes zu bieten hat als alte Autos und den Buena Vista Social Club: einen
erstklassigen musikalischen nachwuchs. Seit seinem Abschied von den Berliner Philharmonikern hat
Abbado Lateinamerika entdeckt. Soeben hat er das Lateinamerikanische Jugendorchester gegründet,
mit Sitz in Venezuela und Kuba.
Wie kommt der Maestro ausgerechnet auf Kuba? "Ich hatte gehört, dass Erich Kleiber hier
viele Jahre lang Musikdirektor gewesen ist. Und dass es eine ungeheuer interessante Musikszene
gibt", sagt Abbado. "Das war der Beginn meiner Begegnung mit dem musikalischen Leben hier.
Und es stimmt: die Menschen haben den Glauben an die Musik bewahrt. Sie sind noch nicht verdorben. Im
Gegenteil, sie besitzen einen Enthusiasmus wie wenige sonst."
Neue Perspektiven durch Musik
Auf den Strassen Havannas
Bei der Jugend auf Havannas Strassen hat sich die Liebe zur Klassischen Musik noch wenig
herumgesprochen. Wie in den meisten Metropolen siegen hier die Rapper aus den Slums über die
symphonischen Meister aus Deutschland. Doch Projekte wie Abbados Orchester holen die Jugendlichen von
der Straße. Durch die Musik sehen sie in ihrem Leben wieder eine Perspektive. Leuchtendes
Beispiel für die Kids ist die Blitzkarriere des blutjungen GUSTAVO DUDAMEL. Dieser sieht ein
gravierendes Problem nicht allein in Venezuela, sondern auf der ganzen Welt: "Die Jugendlichen
interessieren sich nicht für Kultur. Heutzutage beschäftigen sie sich mit Tausenden anderen
Dingen. Gerade deshalb ist es so wichtig, sie für neue Kulturprojekte zu begeistern – und das
geschieht hier in Kuba auf allerhöchstem Niveau."
Mit nur 23 Jahren leitet Dudamel bereits die großen Orchester der Welt, in Havanna etwa das
Mahler Chamber Orchestra – kein Einzelfall. Eine Flut von musikalischen Wunderkindern kommt derzeit
aus seiner Heimat Venezuela, dank einem weltweit einzigartigen System von Kinder- und Jugendorchestern.
Musikausbildung groß geschrieben
Aldo Aguirre
Auch in Kuba wird die Ausbildung des Nachwuchses groß geschrieben – nicht nur an den staatlichen
Konservatorien. Mehr als in Europa ist Musik Bestandteil der allgemeinen Schulbildung von der
Grundschule an. Was die Jugendlichen besonders motiviert, ist die Aussicht auf eine internationale
Karriere. "Man kann vielleicht ein guter Arzt oder Ingenieur sein" sagt Algo Aguirre, erste
Geige der lateinamerikanischen Jugendphilharmoniker. "Aber nie wird man dadurch so populär
wie ein guter Musiker, der kann ausreisen, sich in der Welt zeigen und vielleicht sogar berühmt
werden. Von Kind an sehen wir im Fernsehen die großen Stars. Wer wäre nicht gerne auch so
wie sie? Das ist in der Musik nicht anders als im Sport."
Kubas einziges Ensemble für alte Musik: Ars Longa
Dank Claudio Abbado spielt auch Ars Longa, Kubas einziges Ensemble für Alte Musik, auf
europäischen Festivals. Heimat von Ars Longa ist das herz von Habana Vieja, der verrufenen und
lärmenden Altstadt Havannas. Der tägliche Sprung von 17. Jahrhundert in die
spätsozialistische Wirklichkeit ist eine Gratwanderung, aber längst kein Widerspruch.
"Für uns ist das sehr bereichernd", sagt Teresa Paz. Leiterin des Ensembles Ars Longa.
"Man muss hier nur herumblicken: Wir kommen aus unserer probe und auf der Strasse sieht man die
Kinder Salsa tanzen. Im selben Viertel findet man aber auch Kinder, die Latein singen und alte Musik
spielen. Das ist Spitze. Was unser Land am meisten kennzeichnet, sind die Kontraste."
Straßenkinder inspirieren den Altmeister
Kuba von Compay Segundo bis Claude Debussy: wie selbstverständlich kubanische Kinder mit Musik
aufwachsen, hat Abbado zutiefst beeindruckt. Glaubt man dem Maestro, ist das lateinamerikanische
Modell inzwischen richtungsweisend für Europa, die Wiege der klassischen Musik. "Wenn man
davon lernen kann, dann besonders in Frankreich und Spanien", erklärt Abbado. Sicherlich hat
sich dort die Situation ein wenig gebessert. Inzwischen gibt es etwa das Mahler-Jugendorchester. Aber
das sind ausnahmen. Es existiert nicht diese musikalische Unterstützung, gerade in den
ärmsten Gegenden, Städten und Schichten. Hier schon: die Musik ist der Beweis, dass es
bessere Wege gibt, Kriminalität, Drogen und Terrorismus zu bekämpfen."
Ausgerechnet Lateinamerikas Strassenkinder inspirieren den Altmeister. Die blutleere Trennung von
E- und U-Musik ist diesen Jugendlichen erfrischend fremd. "Wir brauchen diese künstliche
Unterscheidung nicht", sagt Robert Chorens, Direktor der Kubanischen Nationalsymphoniker.
"Derselbe Musiker, den man hier im Jugendorchester sitzen sieht, spielt genauso Salsa." Wie
gut, das zeigen die Jugendlichen nach dem Konzert. Kaum ist der Schlussakkord verklungen, siegt das
karibische Temperament.
Paul Moor
CUBA LIBRE 3-2005