Carlos d'Estefano ist tot - Nachruf

Manche der Leserinnen und Leser mögen sich noch an das Editorial der Ausgabe 2002-1 ("Behinderte auf Cuba") erinnern, das ich damals schrieb und dabei etwa die Hälfte des Textes darauf verwendete, über ihn persönlich zu berichte.

Anfang vergangenen Jahres kam zu seiner Polio eine vermeintliche Darmzyste hinzu, die sich bei der Operation als Krebs im fortgeschrittenen Stadium entpuppte. Er wusste bis zuletzt nichts davon. Seine Schwiegereltern, die ihn aufopferungsvoll pflegten, hatten uns heimlich eingeweiht, und wir schafften es bei unseren letzten Besuchen irgendwie, uns nichts anmerken zu lassen. Wir kannten ihn genug, um ohne den Schatten eines Zweifels zu wissen, dass ihn die Kenntnis von seinem hoffnungslosen Zustand zum frühestmöglichen Zeitpunkt umbringen würde.

Tatsächlich sah er am Neujahrstag, an dem wir ihm zum allerletzten Mal begegneten, besser aus als im Sommer zuvor. Gut, er hatte abgenommen, aber seine Hautfarbe war wesentlich frischer und seine Stimmung spürbar aufgekratzter. Ich erinnerte mich daran, dass in meinem Familien- und Freundeskreis gleich zwei Fälle vorgekommen waren, in denen sich Karzinome spontan zurückgebildet und die Betroffenen noch über zehn Jahre von geborgter Zeit gelebt hatten. Warum sollte es bei Carlos nicht genauso sein können! Als wir uns am 1. Januar gegen 22 Uhr von ihm verabschiedeten, war ich seltsam ruhig. Seine Zukunftspläne reduzierten sich diesmal ganz vernünftig darauf, erst einmal wieder gesund zu werden, und mein einziger Plan war eigentlich der, ihm für das nächste Mal die Bob-Marley-Kassette aufzunehmen, um die er mich gebeten hatte.

Ich könnte nicht die Hand dafür ins Feuer legen, woher ich den Satz habe, aber ich glaube, es war der mexikanische Film "Amores Perros", wo es an einer Stelle heißt: "Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann erzähl ihm deine Pläne."

Carlos starb in den frühen Morgenstunden des 15. Februar – nicht langsam und qualvoll, wie wir befürchtet hatten, sondern an einem Herzinfarkt. Und ohne seine Diagnose je gekannt zu haben. War es besser so? Oh ja, sagen wir, die wir so oft zu wissen meinen, was für andere besser ist. Doch was wissen wir schon wirklich?

Wenn wir einfach "nur" einen persönlichen Freund verloren hätten, würde ich nicht die CL für Trauerarbeit zweckentfremden. Aber er wird eben nicht nur uns fehlen. Er war ein Typ, der Cuba fehlen wird. Seine Tatkraft stand im umgekehrten Verhältnis zur Begrenztheit seines geschundenen Körpers. Er war blitzgescheit, humorvoll und hatte Organisationstalent. Er war überdies ein Mensch, der die seltene Fähigkeit besaß, aus jeder Blüte Honig zu saugen. Sogar seinen Zustand in den letzten Monaten verkehrte er in etwas Positives, indem er einmal, als wir allein mit ihn zusammensaßen, lächelnd meinte, dass es ihm so schlecht gehe, sei gut für seine (psychisch labile) Frau; seine Schwäche und Hilflosigkeit fordere sie heraus, Stärke zu zu zeigen. Und wenn wir auch ein wenig geschockt waren über diese Äußerung, so mussten wir doch zugeben, dass sie sich mit unseren eigenen Beobachtungen deckte.

Außer mit Lourdes war Carlos mit der Revolution verheiratet. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er je eine Fidel-Rede verpasst hat – es sei denn auf einem OP Tisch unter Vollnarkose. Er konnte bis zur Erschöpfung über politische Entwicklungen diskutieren. Er nahm an vielen Kongressen teil und nicht nur an solchen des der Freundschaftsgesellschaft nahe stehenden cubanischen Behindertenverbandes ACLIFIM, dessen Historiker er war.

In dieser Funktion trat er auch mehrere Male im Fernsehen auf. Er unterhielt rege Brieffreundschaften in den USA, Kanada und lateinamerikanischen Ländern und exportierte auf diese Weise cubanische Innen- und Außensicht, warb um Verständnis für das Gesellschaftssystem, in dem er lebte und wurde so zum Botschafter seines Landes von seinem Rollstuhl aus.

Eine besondere Affinität empfand er für Deutschland. Etliche Jahre seiner Kindheit und Jugend verbrachte er im Osten Berlins, wo er in der Charité ungefähr ein dutzend mal operiert wurde. (Panische Angst vor Spritzen hatte er bis zu seinem Ende.) Er lernte die deutsche Sprache; vor allem aber lernte er dort liebe Menschen kennen, die sich um ihn kümmerten. Manche dieser Freundschaften hielten bis in die Gegenwart. Auch finanziell wurde er von den Treuesten bis zuletzt unterstützt.

Unsere Gedanken sind bei seinen angehörigen.

Es wird noch viele kleine Abschiede geben, und jeder einzelne davon wird weh tun. Dann, wenn wir uns an ganz konkrete Situationen erinnern. Dann zum Beispiel, wenn ich mir klar mache, dass er nie mehr mit mir über Fußball schwadronieren wird oder dass ich nie mehr Pasta für ihn kochen werde.

Carlos wurde 38 Jahre alt. Etwa neun davon hatten wir das Glück, mit ihm befreundet zu sein.

Cuba ist ohne ihn ein Stück ärmer geworden.

CUBA LIBRE Ulli Fausten

CUBA LIBRE 2-2004