Wer kennt ihn nicht, den kultigen Sylvesterabend-Sketch "Dinner for One" mit der rüstigen Jubilarin und ihrem tüdeligen Butler! Wer ihn im Laufe seines Lebens 15 bis 20 mal gesehen hat (und das dürfte ein realistischer Bundesdurchschnitt sein), der könnte ihn mittlerweile selber drehen. Mit dem Film verbindet sich ein doppeltes Ritual: Erstens macht er den Ritus ewig gleicher Abläufe zu seinem Thema und zweitens ist es für viele eine rituelle Handlung, ihn sich einmal pro Jahr anzusehen, obwohl man mit jeglichem Detail vertraut ist.
Die diesjährige Verurteilung Cubas vor der Menschenrechtskommission in Genf wurde mit 24:20 Stimmen einmal mehr erfolgreich durchgefochten. Das Prozedere ist hinlänglich bekannt: Die USA (als einzige Nation der Welt, die an diesem Vorgang wirklich interessiert ist) suchen sich ein Land aus, das einigermaßen druckempfindlich, das stellvertretend für sie den Antrag einbringt und dabei so tut, als wäre das Anliegen sein eigenes. Im vorigen Jahr war es Uruguay, in diesem Peru. Im kommenden ist es vielleicht Burkina Faso oder Bangladesh. Nicht, dass es eine Rolle spielte! Kein Mitgliedsland misst der Angelegenheit große Bedeutung bei, weil natürlich jeder weiß, was tatsächlich abgeht, aber formal ist es so in Ordnung und das Unvermeidliche geht mittels Bestechung und Erpressung seinen demokratischen Gang.
Da den Vereinigten Staaten die hohe Kunst der diplomatischen Feinfühligkeit nicht eben in die Wiege gelegt wurde, hält sich auf dem Rest unseres Planeten ihre Beliebtheit gerade noch so in Grenzen. Dies hat nicht nur zur Folge, dass der Stimmenkauf teuer kommt. Man sah sich im Laufe der Jahre außerdem gezwungen, den Text des Papiers derart moderat zu formulieren, dass er einer Schmeichelei eher ähnelt als einer Verurteilung. Nichtsdestotrotz ist dies eine Zumutung, gegen die Cuba immer wieder – und (fast) immer wieder vergeblich – Sturm läuft.
Die oben erwähnten 24:20 zuungunsten Cubas waren das offizielle Ergebnis der diesjährigen Abstimmung. Es fanden aber (Cuba betreffend) noch zwei weitere statt, von denen kaum jemand etwas weiß, und die waren recht spannend:
Zum einen bemühte sich Cuba um eine Verurteilung der USA für deren Blockadepolitik. Aber das wurde entgegen den Gesetzen der Logik ein Schuss in den Ofen. Denn obgleich die Vereinigten Staaten – neben Israel und den Marshall Inseln – das einzige Land sind, das eine Aufrechterhaltung dieser Maßnahme befürwortet, fand sich eine große Mehrheit, welche die USA deswegen noch lange nicht als verurteilungswürdig ansah.
Zum andern fielen die umstrittenen Strafgerichtsurteile auf der Insel genau in die Zeit der abschließenden Beratungen ebendieser Menschenrechtskommission, und die USA versuchten, die Gunst der Stunde zu nutzen und Akzeptanz für einen viel schärfer gehaltenen Entwurf durchzubekommen, der die aktuellen hohen Haftstrafen gegen einen Teil der vermeintlichen Dissidenten sowie die drei ausgeführten Todesurteile mit einbezog. Und hier war in der Tat Schlimmes zu befürchten, denn die unpopulären Entscheidungen der cubanischen Regierung führten – zumindest kurzfristig – zu einem dramatischen Aufleben der internationalen Anti-Cuba-Propaganda.
Es kam also zur Abstimmung über jenen erweiterten Anklagetext. Und was passierte? Das Ergebnis lautete 31:15 ZUGUNSTEN Cubas! Wie um alles in der Welt konnte das zugehen? Ich bilde mir ein, die Antwort zu kennen (und hier sind wir auf Umwegen wieder bei unserer Miss Sophie und ihrem Butler James): "Ritual" ist das Schlüsselwort. Die USA hatten gegen die Spielregeln des Rituals verstoßen!
Was meine ich damit?
Solange sich die Vorhaltungen gegen Cuba im Allgemeinen bewegten, war es stets einigen Ländern der Dritten Welt – und hauptsächlich um deren Stimmen geht es letzten Endes bei dieser alljährlichen Zeremonie! – möglich zuzustimmen. Zumindest dann, wenn man seine Selbstachtung nicht überstrapazierte und seine eigentliche Bewunderung für die cubanische Revolution einmal im Jahr über handfesten Interessen vergaß. Und schließlich: Was spricht grundsätzlich dagegen, Parteienpluralität, uneingeschränkte Pressefreiheit und dergleichen einzufordern? Sind doch alles gute Sachen! Dass man diese Forderungen verabsolutiert und nicht in den Kontext setzt, in den sie fairerweise hineingehörten, ist zwar irgendwie blöd, aber wer kann schon riskieren, dass ihn die USA beim IWF anschwärzen. Solange sich die Nötigung in diesem Rahmen bewegte, funktionierte sie. Zwar meist mit knappen Mehrheiten, aber, immerhin, sie funktionierte.
Die USA warfen ihre Macht in die Waagschale. Sie drohten, sie beschworen und sie zahlten – und bekamen für gewöhnlich ihren Willen. Peitsche und Zuckerbrot hatten sich in diesem Zusammenhang bewährt. Diese Sprache wurde verstanden.
Die eklatante Niederlage der Vereinigten Staaten bei der erweiterten Abstimmung erklärt sich daraus, dass sie den Automatismus des Vorgangs durchbrachen. Sie gaben sich nicht mehr mit der gebetsmühlenartigen Wiederholung eines Larifari zufrieden, an das sich die Kommission gewöhnt hatte, sondern taten plötzlich so, als gehe es bei der Verurteilung Cubas um konkrete Inhalte. Anders gesagt: Sie verlangten, ernst genommen zu werden.
Nun kann man sich im Umgang mit den USA gewiss einige vernünftige Attitüden vorstellen: Sie zu fürchten, ergibt Sinn. Ihr Geld zu nehmen, wenn sie es einem denn partout aufdrängen wollen, mag – unter gewissen Umständen – auch Sinn ergeben. Aber sie ERNST nehmen? Ach, du meine Güte!
Was soll man von einem Land halten, das hohe Gefängnisstrafen für bezahlte Kollaborateure des Feindes auf Cuba als diktatorisch anprangert und selber Menschen, deren Nasen ihm nicht passen, wie reife Beeren einsammeln und aufgrund eines obskuren "Patriot Act" ohne Rechtsbeistand ad infinitum wegsperren kann. Oder Kriegsgefangene auf ausländischem Territorium blind, gefesselt und geknebelt in Hundezwingern hält. Was soll man von einem Präsidenten halten, der die Exekution dreier skrupelloser Krimineller in Havanna geißelt und selber während seiner Zeit als Gouverneur von Texas ich weiß nicht wie viele Leute auf den elektrischen Stuhl brachte nach dem Motto: "Keine Ahnung, ob die alle schuldig sind, aber eine harte Hand kommt immer gut für die Statistik!"?
Die USA begingen den Fehler, sich mit ihrer zweiten Initiative lächerlich zu machen und jeder Drittweltstaat, der ihnen dabei gefolgt wäre, hätte Anteil an dieser Lächerlichkeit gehabt. Da es für die meisten ihrer Vertreter ohnedies schon schwer genug ist, eine "proamerikanische" Haltung vor dem eigenen Volk zu rechtfertigen, war hier für eine bemerkenswert große Anzahl von ihnen die Schmerzgrenze erreicht. Sich so verbiegen lassen wollten viele denn doch nicht.
Machen wir vom Stichtag aus einen Zeitsprung ein paar Wochen zurück – zum 21.März, dem Tag, an dem wir aus allen Himmelsrichtungen per Auto, Reisebus, Eisenbahn oder Luftschiff in Genf eintrafen, um vor dem Gebäude der UNO- Menschenrechtskommission unsere Kundgebung abzuhalten.
Manche von uns mögen im Vorfeld der Veranstaltung verhalten optimistisch gestimmt gewesen sein im Hinblick darauf, was dieses Mal bei der Abstimmung herauskommen würde. So schlecht standen die Zeichen auch nicht.
Das Monate andauernde Säbelrasseln der USA hatte längst angefangen, selbst bürgerlichen Medien aufs Gemüt zu schlagen, die angestrebte zweite Resolution gegen Saddam Hussein war soeben den Bach hinunter gegangen und die Regierung der Vereinigten Staaten befand sich auf internationaler Ebene in einem Selbstdarstellungsnotstand, den man so gravierend lange nicht mehr erlebt hatte. Was sich allerdings für uns als unglückliches Timing erwies, war die Tatsache, dass just am Tag zuvor der Krieg der Alliierten gegen den Irak begonnen hatte. So blieben wir deutlich unter der Zahl von Teilnehmern, die wir uns alle erhofft hatten. Entweder waren die Leute, die noch hätten kommen sollen, anderweitig, etwa durch Anti-Kriegs-Demos gebunden oder sie hingen fatalistisch vor dem Fernseher, um den "embedded journalists" zu lauschen.
Der Place des Nations ist – gemessen an seinem pompösen Namen – geradezu verblüffend klein. Er wird optisch beherrscht durch einen riesigen (sicher an die 10 Meter hohen) Stuhl mit einem zerborstenen Bein. Dieser symbolisiert die Ächtung von Landminen, die oft noch weit über kriegerische Auseinandersetzungen hinaus zu tausendfachen Verstümmelungen an der Zivilbevölkerung führen. Eine verstörende, beeindruckende Plastik!
Man traf Freunde und Bekannte, auch manche, von denen man gar nicht gewusst hatte, dass sie kommen würden. Man begrüßte, umarmte, fotografierte einander.
Die MitstreiterInnen von der Schweizer Cuba-Solidarität hatten netterweise einen Stand mit Gratissäften organisiert. Am Nachmittag, in der prallen Sonne, wurde es ziemlich warm. Von der Berliner Botschaft war Jesus Sierra da, vom ICAP hatten sich Elio Gamez und Gabriel Benitez eingefunden. Aleida Guevara war da. Die Ehefrauen von zweien der Miami Five, Gerardo und René, waren da. Und last, not least war ein Team des cubanischen Fernsehens vor Ort. Es wurde eine schier unerschöpfliche Menge von Grußbotschaften aus aller Herren Länder verlesen. Am Ende der Kundgebung wurde mitgeteilt, die geplante Demonstration müsse kraft einer Last-Minute-Verfügung der Genfer Polizei leider ausfallen. Begründet wurde das Verbot mit dem Kriegsausbruch. Die Ordnungskräfte seien sich zu sehr im Unklaren, ob und wie etwaige Spontanmanifestationen verkehrstechnisch aufgefangen werden könnten.
Auf unsrem Fußmarsch vom Place des Nations zum Salle Faubourg gingen wir die gleiche Route auf Bürgersteigen, die wir unter normalen Umständen auf der Straße gegangen wären. Nur eben nicht als kompakter Block, sondern mehr als chinesischer Drache – also weit auseinandergezogen mit allerlei nicht mehr ganz legalem Fahnengeflatter.
Der Salle Faubourg, wo unter Teilnahme des cubanischen Außenministers Felipe Pérez Roque die Abschlussveranstaltung stattfinden sollte, ist ein großer, düster wirkender, holzvertäfelter Saal, der durch viele bunte Transparente aufgehellt wurde.
Der cubanische Außenminister Felipe Pérez Roque betrat den Saal, er ist dynamisch, intelligent, ein guter Rhetoriker und für sein Amt, das er seit einigen Jahren innehat, mit Mitte/Ende Dreißig erstaunlich jung. Felipe nahm am langen Tisch auf der Bühne Platz, flankiert von zwei Übersetzerinnen, einem eidgenössischen Gewerkschaftsfunktionär (der die Begrüßungsansprache hielt), Ches Tochter Aleida sowie den Frauen von Gerardo und René.
Letztere beiden hatten bereits auf dem Place des Nations gesprochen, aber der Saal füllte sich jetzt zusehends, so dass eine Menge Leute da waren, die die Kundgebung am Nachmittag nicht mitbekommen hatten. Gerardos Frau berichtete eindringlich von den skandalösen Bedingungen, die ihr Mann und seine vier Gefährten in der wieder einmal völlig willkürlich verhängten Isolierhaft in US-Gefängnissen auszuhalten hatten. (Dass diese schikanöse Maßnahme entgegen zunächst anderslautenden Drohungen inzwischen wieder aufgehoben worden ist, dazu hat vielleicht auch das Bombardement an Protestbriefen beigetragen, dem die entsprechende Behörde über Wochen ausgesetzt war.)
Währenddessen wuselte Renés 4jährige Tochter Yvette von der Kinderfrau auf die Bühne zu ihrer Mutter, von der weiter zu Aleida und so fort.
Felipe sammelte Fragen aus dem Publikum, und arbeitete sie dann der Reihe nach ab. Der offizielle Teil endete gegen 21 Uhr. Der Saal war mittlerweile wirklich gut gefüllt. Die Salsa-Band, die nun auftrat, verbreitete schnell karibische Stimmung und war ungewöhnlich ausdauernd bis das Programm nach Mitternacht allmählich ausklang.
Ulli Fausten
CUBA LIBRE 2-2020