Aufschrei der Intellektuellen

Alles begann mit José Saramago. Als der portugiesische Nobelpreisträger für Literatur sein, "Bis hierhin bin ich mitgegangen. Von nun an muss Cuba seinen Weg ohne mich gehen" in die Welt setzte, brachte er eine Lawine ins Rollen. Intellektuelle aus aller Welt sahen sich gezwungen, Position zu beziehen und es entstand eine leidenschaftliche Debatte, die wochenlang das Internet beherrschte und noch immer nicht zum Erliegen gekommen ist.

Der nächste, der sich sofort zu Wort meldete, war Eduardo Galeano, der Autor des berühmten Buches "Die offenen Adern Lateinamerikas". Mit seinem Artikel "Cuba duele" (Cuba tut weh) hat einer der angesehensten Schriftsteller Lateinamerikas viele Intellektuelle der Linken verwirrt. Dass er daraufhin plötzlich von der einzig verbliebenen Supermacht gefeiert wird, hat ihn sicherlich erschreckt. Dass im Eifer des Gefechts viele Kritiker zu Beleidigungen und Diffamierungen griffen, ist sicherlich zu bedauern. Galeanos unbestrittene Verdienste für die Befreiung Lateinamerikas kann auch ein Artikel, der niemals hätte geschrieben werden dürfen, nicht zunichte machen. Nichts desto trotz ist es unbegreiflich, warum ausgerechnet Galeano für die heftigste anticubanische Kampagne, die von den USA nach dem Irakkrieg dirigiert wird, mit seinem Rundumschlag von demokratischer Öffnung, Pressefreiheit und Mehrparteiensystem die Partitur liefert.

Auch Mario Benedetti, der bekannte Schriftsteller aus Uruguay, wendet sich gegen die Todesstrafe, sieht aber nicht die Zeit für gekommen, Cuba die Unterstützung aufzukündigen. Er ist der Meinung, dass auch eine progressive Regierungen sich irren kann und das sei eben in diesem Fall geschehen, wobei er den Irrtum ausdrücklich auf die Todesurteile und nicht auf die Urteile in den "Dissidenten" Prozessen bezieht. Dass die Regierungen, die die Invasion im Irak unterstützt haben und "sich jetzt entrüstet auf ihre demokratische Brust klopfen", bezeichnet er als "widerliche Heuchelei". Als letzter der Großen Lateinamerikas meldet sich der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez zu Wort. Vielleicht hätte er es gar nicht getan. Aber als Susan Sontag, die, keiner weiß warum, der US-Linken zugerechnet wird, Sätze aus einem Interview, das Márquez ihr einmal gegeben hat, verfälscht wiedergibt und gegen Cuba verwendet, kann er nicht länger schweigen. Er warnt alle, dass "die vielen Erklärungen zur Situation in Cuba, auch wenn sie ehrlich gemeint sind, genau das liefern können, das die Vereinigten Staaten brauchen, um eine Invasion in Cuba zu rechtfertigen". Damit liefern sie das Bild, das die USA gern verbreiten würde: eine cubanische Revolution, die von den Künstlern und Intellektuellen der Welt verurteilt wird. Der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel appelliert an die Lateinamerikaner: "Es muss verhindert werden, dass die USA in Cuba einmarschieren, einem Land, das sich so brüderlich und solidarisch Lateinamerika gegenüber verhält."

Die Debatte nimmt einen immer leidenschaftlicheren Verlauf. Inzwischen haben sich auch die cubanischen Intellektuellen von dem Schock und dem Unverständnis etwas erholt, die die Reaktion der "Freunde aus der Ferne" bei ihnen hervorgerufen hatte.

Jesús Arboleya, Professor und Buchautor bringt dieses Gefühl der Fassungslosigkeit am beindruckendsten zu Papier. Er zählt alles auf, was Cuba durchgemacht hat, die Zeiten ohne Strom, wenig zu essen, nur noch Fahrräder, die Auswirkungen der Blockade, des Helms-Burton-Gesetzes, die terroristischen Anschläge, die Bereitstellung von Millionensummen für die Opposition unter der Leitung der US-Diplomatie – alles das müsse sich Cuba gefallen lassen. "Es ist wie mit dem Gladiator in der Geschichte.", meint Arboleya. "Sie werfen ihn an Händen und Füßen gefesselt in die Arena und wenn er dann den Löwen beißt, rufen alle: >Betrug<."

Homero Munoz meint, man könne mit einigen dieser Schwarz-Weiß Feststellungen durchaus einverstanden sein, die die Medien bis zum Umfallen wiederholen. Aber mitten im Krieg könne man dem Feind nicht noch mehr Waffen geben, als er ohnehin schon hat. "Und ich höre sie sagen: Die Waffen haben die Cubaner geliefert durch ihr Handeln. Und dann beeilen wir uns zu versichern, dass wir Lateinamerikaner solche Handlungen nicht unterstützen. Für wen sind diese Erklärungen? Für den Leser, für den Feind, für sie selbst?

Wenn wir glauben, die Cubaner hätten den Gringos Waffen geliefert, gehen wir denn hin und liefern ihnen noch ein paar dazu?

Es gibt zwei Seiten, unsere und die des Imperiums. Ja, Kriege sind so. So hat sie uns Mr. Bush dargestellt. Auch mir gefallen die Grautöne besser, aber es gibt Augenblicke in der Geschichte, in denen das Grau die Dunkelheit nur verschlimmert."

Maria Poumier, französische Universitätsprofessorin, sieht die Reaktionen der Presse im Rahmen einer großen Kampagne. Sie zeigt dabei besonders die Rolle der in Frankreich beheimateten Organisation "Reporter ohne Grenzen" auf. "Während in Cuba die Künstler und Intellektuellen wie nie zuvor die Möglichkeit haben, mit den Cubanern im Ausland in Dialog zu treten, lanciert "Reporter ohne Grenzen" (RSF) eine durch enorme Geldmittel getragene Kampagne mit dem Thema "Cuba, das größte Gefängnis der Welt". "RSF demaskiert sich heute als Propagandaorgan zur Vorbereitung der Invasion Cubas durch die USA und als Speerspitze der globalisierten Zensur in einer ihrer modernsten Ausführungen: Überfülle von Publikationen, die dieselben entstellten Informationen verbreiten, um so die Bereitschaft eines Widerstandes in der Bevölkerung zu lähmen."

James Petras, der Soziologieprofessor aus den USA, stellt in einer Rede in Buenos Aires fest, dass jetzt die Zeit gekommen ist, Position zu beziehen. Linker Tourismus, Festivals, Feiern, Essen und Trinken, das sei etwas für die Freunde, die nur in guten Zeiten Freunde sind – jetzt gehe es um Leben und Tod, um Kampf und Kriege und Auseinandersetzungen. Er bedauert, dass Galeano, Saramago, Chomsky und andere, von denen man glaubte, sie seien Freunde der cubanischen Revolution, in dieser Situation dem Druck nicht standgehalten hätten.

Michael Leibowitz von der Abteilung Ökonomie der Simon Fraser Universität in Burnaby, B.C., Kanada gibt zu bedenken, dass die Handlungsweise Cubas im Kontext des Krieges der USA gegen den Irak gesehen werden muss. Die Entscheidung der USA, ihren Plan trotz der Anti-Kriegs Demonstrationen historischen Ausmaßes weltweit durchzuziehen, habe deutlich gemacht, dass Demonstrationen im Augenblick einen Aggressor nicht von einer Aggression abhalten könnten, auch wenn sie möglicherweise auf lange Sicht gesehen Wirkung hätten. "Das heißt, dass immer wenn der Angriff eine Frage von aktuellen Strömungen ist und für den Angreifer keine hohen Kosten bedeutet, kein Land vor dieser Gefahr geschützt ist. Deswegen sprechen die Cubaner von der Gefahr eines Nazi Faschismus, der die Welt bedroht." Er ist der Meinung, dass Cuba für eine eigene "shock and awe" Version optiert hat, indem es die Identität seiner infiltrierten Agenten bekannt gegeben und so den USA die Fähigkeiten des cubanischen Sicherheitssystems demonstriert hat. Gleichzeitig habe Felipe Pérez Roque verkündet, dass nur ein kleiner Teil ihrer Erkenntnisse enthüllt worden seien. Am Ende seines offenen Briefes stellt Leibowitz den Kritikern der cubanischen Regierung die Frage, warum sie glaubten, sie könnten die Bedrohungen besser einschätzen als die cubanische Regierung und was sie denn entschlossen seien zu tun, um Cuba bei seiner Verteidigung zu helfen.

Zum Abschluss dieses Querschnitts durch die Intellektuellenszene soll noch der Brief einer cubanischen Mutter an die Welt stehen. María Córdova, Professorin der Kunsthochschule in Havanna und Mutter zweier Kinder kann angesichts ihrer Fassungslosigkeit über das Verhalten von einigen Intellektuellen, die in Cuba hohes Ansehen, ja Verehrung genießen, nicht schweigen. Auch wenn Professor Heinz Dietrich bereits richtig gesagt habe, um was es eigentlich gehe, möchte sie, um ihren inneren Frieden zu finden, noch einmal ihre Wahrheit der Welt verkünden.

Sie beschreibt dann die fürchterliche Zeit zu Beginn der Sonderperiode mit fast nichts zu essen, ohne Strom, Seife, Waschmittel, Betttücher, Handtücher – alles in Auflösung begriffen, da man nur mit Salz waschen konnte, ohne Papier, Bleistift, Medizin. Als man aufs Land ging, um Feuerholz zu sammeln, um eine Suppe zu kochen, aber trotzdem alle hungrig blieben, weil es regnete. María Córdova beschreibt im Foucaultschen Stil Hunderte solche Episoden und fragt immer wieder dazwischen: Haben diejenigen, die uns kritisieren, einen einzigen Tag ihres Lebens so gelebt wie wir?

Dann fragt sie, ob sich die Kritiker jemals gefragt hätten, warum die Cubaner dieses alles ausgehalten hätten. Ob sie glaubten, sämtliche Cubaner seien Masochisten.

Und in Abwandlung eines neuen arabischen Sprichwortes, welches besagt "Gesegnet seien, die Erdöl besitzen, denn man wird über sie herfallen" sagt sie auf Cuba bezogen: "Gesegnet seien die Originellen, die Schöpfer, die Rebellen, die Verrückten, die Verliebten, die Ungehorsamen, die Träumer, denn auch sie werden bestraft. Und wie!!!"

"Aber", sagt sie, "wir werden weiter verrückt und verliebt, ungehorsam, rebellisch sein, einfach deshalb, weil es uns für alles entschädigt. Das ist der große Sinn unseres Lebens. Und das Einzige, was noch fehlt, ist, dass sie uns den Tod bringen. Aber auch damit sind wir schon so oft konfrontiert worden, dass auch er seine mysteriöse Transzendenz verloren hat."

Leidenschaftlich fragt sie, ob denn ernsthaft jemand glaube, dass nach all dem, was sie durchgemacht hätten, sie es achtzig Individuen, die nie im Leben Entbehrungen ertragen hätten, gestatten würden, das friedliche Leben ihrer Kinder aufs Spiel zu setzen. Wer oder was habe ihnen dazu das Recht gegeben, wenn man das wissen dürfte? "Wer so etwas wagt", sagt sie, "der muss nicht nur mit dem Staatsrat rechnen, mit den Streitkräften, mit den Rechtsanwälten und Richtern Cubas. Er muss auch, und das sollten sie nie vergessen, mit den Müttern und Vätern dieses Landes rechnen."

"Im Laufe unseres Lebens", so fährt sie fort, "haben uns die Yankis eine tragische Lektion gelehrt: Der kleinste Fehler, die geringste Unaufmerksamkeit kann das Leben eines unserer Kinder oder Schüler kosten. Wir haben unsere Lektion gelernt. Und deswegen ... das wissen diejenigen nicht, die uns kritisieren und die zu ihrem Glück nie diese "Strafe" erdulden mussten."

Zum Schluss bedankt sie sich bei allen Freunden auf der ganzen Welt. Zuerst bei denen, die in bescheidenen Verhältnissen leben aber auch bei denjenigen, "die immer diese verrückten Träumer, Rebellen, Ungehorsamen und "Gestraften" respektiert haben. Bei denen, die uns verstehen. Die sich nicht von uns verabschiedet haben. Die uns Mut zusprechen. Die uns außerdem Kleider, Schuhe, Bleistifte, Seife, Bücher, Transportmittel, Computer, Dollars und Medizin schicken und die uns noch viel mehr geschickt haben: Liebe, Verständnis, und wichtige moralische Unterstützung in den schwersten Stunden, die, wie es scheint, die Stunden in diesem Sommer 2003 werden könnten. Für euch alle sind wir heute hier und werden es weiter sein."

CUBA LIBRE Renate Fausten

CUBA LIBRE 2-2020