"In einem Hinterhof wird ein Mensch von einer Horde schwer bewaffneter Männer bedrängt. Einer tritt und würgt ihn. Seine Krawatte verrutscht. Die Nachbarn, die zuschauen und auch die Presse anderntags werfen aber nur dem Menschen vor, seine Krawatte sitze schief." Eine ähnliche Metapher wurde vor zwei Jahren vom Hauptreferenten eines internationalen Kuba-Kongresses gezeichnet. Er meinte damit die extrem einseitige Sichtweise der bürgerlichen Staaten und die verzerrte Berichterstattung der Medien über Demokratie und Menschenrechte in Kuba.
Dieses Bild trifft die jüngsten Entwicklungen innerhalb Kubas in exemplarischer Weise. Akuter Anlass für die jüngste Berichterstattung waren die im März vorgenommenen Verhaftungen und die anschließenden Verurteilungen von 75 Bürgern in Kuba. Die von den US-dominierten Nachrichtenagenturen darüber weltweit verbreitete Desinformation kolportierte das Klischee, der ergraute Castro habe als kommunistischer Diktator und im Schatten des Irakkriegs die Opposition eingesperrt. - Somit wurde über die schiefe Krawatte hergezogen, nicht aber über die Gangster im Dunkeln. Oder um Brecht in seiner unübertroffenen Klarheit zu zitieren: "Über die Gewalt: Der reißende Strom / wird gewalttätig genannt / Aber das Flussbett, / das ihn einengt, / nennt keiner gewalttätig."
Zu einem angemessenen Gesamtbild über Kubas heutige Lage gehören allerdings nicht Klischees, sondern vier Faktorenkomplexe: Defizite des kubanischen Gesellschaftssystems; Wegfall des RGW und damit 85% der Außenmärkte; Kubas in einer Dritte Welt-Position in der globalen Wirtschafts- und Machtstruktur; die seit 1959 feindselige US-Politik (Invasion in Schweinebucht, Drohung mit Atomkrieg, unzählige Sabotage- und Terroraktionen und Attentatsversuche, Isolation und Destabilisierung in allen Bereichen).
Der letztgenannte Komplex hat seit Amtsantritt von US-Präsident Bush und seiner von Neokonservativen und Falken (PNAC etc.) dominierten Administration besonderes Gewicht erhalten. Unilaterale und aggressive Politikmuster haben die Oberhand - auch gegenüber Kuba. Und das von Exilkubanern dominierte Florida spielte bei seiner Ernennung zum Präsidenten eine besondere (unlöbliche) Rolle. Zu Bushs Unilateralismus gehören extreme Versionen der notorischen Selbstherrlichkeit der USA (Sendungsbewusstsein), die sich in Ignoranz gegenüber Völkerrecht und UN, in "Arroganz der Macht" (US-Senator Fulbright 1965, kürzlich von Senator Byrd angesichts Bushs Irak-Aggressionen aufgegriffen) und in "Torheit der Regierenden" (Barbara Tuchman) artikuliert. Geltung hat nun die nach dem 11.9. postulierte Nationale Sicherheitsstrategie - hierzu gehören auch die postmoderne Variante des "Blitzkrieges" als neue militärische Doktrin ("Revolution in Military Affairs") und sicherlich eine entsprechende Überarbeitung der militärischen "Contingency Plans" gegen Kuba.
Die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen durch Bush hängt konkret mit der Ernennung reaktionärer Exilkubaner in Regierungsämter zusammen. Beispiel ist die am Kongress vorbei vorgenommene Einsetzung von Otto Reich als Chef der US-Lateinamerikapolitik. Er war aufgrund seiner Verwicklungen in US-Interventionen in Lateinamerika unter Reagan (inkl. Iran-Contra-Skandal) höchst umstritten. Bush schuf sogar eine "Cuba Dissidence Task Group", um regierungsfeindliche Personen in Kuba zu unterstützen, und proklamierte in einer Rede im Mai 2002 eine "Initiative für ein neues Kuba", während ein hochrangiger Außenamtsbeamter (John Bolton) Kuba vorwarf, Biowaffentechnologie herzustellen und an Terrorstaaten zu liefern.
Nun ist seit September 2002 der erfahrene rechtskonservative Militärexperte James Cason Chef der US-Interessenvertretung in Havanna. Schon vor Amtsantritt hatte er angekündigt, die Opposition in Kuba stärken und vereinen zu wollen. Und dies tat er, reiste über 6.200 Meilen in Kuba, traf sich mit zahlreichen kleinen Oppositionsgruppen (etwa 300 Bürger), verteilte "staatsfeindliche" Materialien (Bücher, Broschüren etc.), verschenkte Radioapparate zum Empfang der kubafeindlichen US-Sender, gab erhebliche infrastrukturelle Unterstützung (PC, Internetzugang, Kopierer, Fotoapparate, Videorekorder etc.pp.) und führte sogar in seiner Residenz Treffen mit Oppositionellen durch. Ein weiterer eklatanter Verstoß gegen diplomatische und völkerrechtliche Grundsätze besteht darin, dass die Kubaner von den USA für ihre Tätigkeit reichlich bezahlt wurden - das gilt weltweit als Spionage und Söldnertum. Aufgrund des Helms-Burton-Gesetzes der USA stehen für derartige subversive Aktionen jährlich zig Millionen US$ zur Verfügung, die an diverse NGOs verteilt und nach Kuba kanalisiert werden. Für diese Kollaboration mit einem erklärten, gefährlichen Feind der kubanischen Gesellschaft wurden die 75 Oppositionellen bzw. Söldner nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und in öffentlichen Verfahren (jeweils ca. 100 Menschen anwesend) verurteilt.
Casons subversive Tätigkeit könnte auch zu den jüngsten bewaffneten Entführungen zweier Flugzeuge und der versuchten Entführung eines Schiffes nach Florida beigetragen haben. Aufgrund der Erfahrungen mit früheren Destabilisierungsaktionen der US-Geheimdienste gegen missliebige Regierungen in "ihrem Hinterhof" erscheint diese Befürchtung höchst plausibel. Die drei Schiffsentführer wurden wegen der Schwere ihres Verbrechens zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Durch die vehemente Destabilisierung Kubas soll entweder die Aufkündigung der geringfügigen Beziehungen, oder aber eine offen aggressive, ggf. militärische Vorgehensweise durch die USA provoziert werden. Vermutlich wähnen sich die Falken in Washington und Miami nach den militärischen "Erfolgen" in Afghanistan und Irak omnipotent, denn von führenden Beamten gab es Äußerungen, dass "nun endlich Kuba dran sei"! Zwar ist dies wenig wahrscheinlich, doch z.B. in Beiträgen in einer US-Fachzeitschrift wurde auf Grundlage der Einschätzung, das Militär in Kuba habe neben der militärischen auch eine wirtschaftlich und gesellschaftlich große Bedeutung, unverhohlen die künftige Rolle des US-Militärs skizziert: "Wie auch immer das Mix der Verantwortlichkeiten und Teilziele zwischen den [US-] Ministerien und Behörden bei einer Kampagne zur Beeinflussung von Kubas Zukunft aussieht, die US-Armee wäre für seine Interaktionen mit dem kubanischen Militär genauso wichtig wie für seine Fähigkeit, das kubanische Militär unter Druck zu setzen." ("Cuba's Transition" in: Military Review, May-June 2001) Außerdem trainieren exilkubanische Terroristen in Südflorida (Alpha 66, Comandos F-4 etc.) und werden von der Bush-Regierung geduldet bzw. unterstützt. Auch werden entführte Flugzeuge oder Schiffe von den US-Behörden (trotz internationaler Obligation) nur selten nach Kuba rückgeführt, die meist gewalttätigen Entführer werden nur selten verurteilt, geschweige denn nach Kuba überstellt. Einseitig werden unzählige bilaterale Abkommen gebrochen; z.B. ist seit 1997 geregelt, dass die USA jährlich 20.000 Visa ausstellen sollen, in diesem Jahr sind bislang lediglich 750 Visa ausgestellt worden! Zugleich werden die Kubaner mit dem einmaligen "Angebot" gelockt, sie würden bei Betreten der USA als Immigranten anerkannt und die Staatsbürgerschaft erhalten (unter diesen Umständen wären z.B. Mexiko und Haiti menschenleer). Das US-Militär hält immer noch das Gebiet "Guantánamo" auf Kuba besetzt, führt dort Militärübungen durch, und hat dort seit über einem Jahr sogar 650 des Terrorismus verdächtigte Menschen (unter unmenschlichen Bedingungen) interniert. Über all dem schwebt die Wirtschaftsblockade, die trotz der zehn in der UN-Vollversammlung fast einstimmig beschlossenen Resolutionen zur Beendigung von den US-Administrationen ignoriert wird.
Was in den meisten Presseartikeln über die Verhaftungen ignoriert wird ist der Fakt, dass Kuba keinerlei Interesse an einer Verschlechterung der Lage hat und spätestens seit dem Zusammenbruch des RGW an der Verbesserung der Beziehung zu anderen Staaten, insb. zu EU und auch den USA höchst interessiert ist. Hier können positive Schritte und Erfolge verzeichnet werden. Die EU hat ein Büro in Havanna eröffnet, die Bundesregierung plant dort ein Goethe-Institut, der EU-Außenminister Nielson lud Kuba zur Mitgliedschaft in das "Cotonou-Abkommen" (früher Lomé-Abkommen) ein. In den USA wiederum regen sich in US-Kongress, Wirtschaft und Zivilgesellschaft starke Kräfte in Richtung eines schrittweisen Abbaus der aggressiven US-Politik gegen die Karibikinsel. So sind seit kurzem Handelsabkommen für US-Agrarprodukte mit mehreren US-Bundesstaaten in Kraft. Immer wieder aber scheitert eine Lockerung des US-Embargos an unzureichenden Mehrheiten im Kongress und der verbohrten Haltung der Bush-Administration.
Mit den Provokationen beabsichtigt Bush eine reale Destabilisierung Kubas, eine Verschlechterung der Handlungsbedingungen, eine Zuspitzung der internen Widersprüche und Probleme (vgl. dazu Bunder in den Blättern 5/03). Diese Eskalation kam für Bush auch deshalb zum "richtigen" Zeitpunkt, weil in Genf die UN-Menschenrechtskommission tagte und er wieder versuchte, Kuba rügen zu lassen. Und dies trotz der Tatsache, dass selbst konservative Kräfte – wohlgemerkt: rückblickend! - konstatieren, dass sich die Situation der Menschenrechte in Kuba im Laufe der letzten Jahre weiter verbessert habe, aber jetzt... Dass der Druck durch die USA gegen Kuba auf dem Feld der Menschenrechte ausgeübt wird, ist besonders pervers, denn gerade die Bush-Administration verübt mit Selbstverständlichkeit Verletzungen von Bürger- und Menschenrechten. So ist der Umgang der US-Sicherheitskräfte mit den Gefangenen und Verschleppten auf dem US-Stützpunkt in Guantánamo (auf Kuba!) von der UN-Flüchtlingskommissarin, vom IRK, von amnesty international und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert worden - ohne Reaktion der USA: 650 Menschen sind nach über einem Jahr immer noch ohne rechtlichen Beistand, ohne Zugang ihrer Angehörigen, ohne fairen Prozess, ja sogar ohne präzise Anklage unter menschenunwürdigen und rechtsverletzenden Umständen in Käfigen unter enormer Hitze festgehalten! Daher begeht die US-Administration in "ihrem" Militärstützpunkt seit 15 Monaten mehr und ungleich schrecklichere Menschenrechtsverletzungen, als in ganz Kuba seit der Revolution von 1959.
Zudem scheint das von Bush seit dem "11.9." in extenso für alle seine Völkerrechts- und Menschenrechtsversetzungen angeführte Recht auf "nationale Selbstverteidigung" für Kuba nicht zu gelten. Und leider haben auch die bürgerlichen Medien hier trotz aller Meinungsfreiheit große Scheuklappen. Schon jetzt lässt sich durch die von der Bush-Regierung betriebenen neuesten Aggressionen in Kuba einiger Schaden absehen:
- die betroffenen 78 Familien müssen die Verhaftungen (und die drei Exekutionen) verkraften und ihre Haltung zum Regime dürfte nicht positiver geworden sein;
- Sicherheitsvorkehrungen in Kuba werden erhöht und entsprechende Kosten entstehen, da sie von Seiten Bushs mit Allem rechnen müssen;
- zugleich dürften daher womöglich Streichungen in ökonomischen, sozialen und ökologischen Bereichen vorgenommen werden;
- die politische Pluralisierung in der kubanischen Gesellschaft wird weiterhin beschränkt bleiben, Misstrauen und Angst auf allen Seiten dürften steigen;
- innerhalb der Solidaritätsbewegung gibt es wegen der Desinformation bei einigen Mitstreitern Unmut, Viele sind erschüttert und frustriert;
- liberale und unvoreingenommene Sympathisanten dürften mangels wirklicher Information über die Vorkommnisse abgeschreckt werden (die berühmtesten Beispiele sind wohl J. Saramago und C. Fuentes). Fazit: gerade in einer Zeit gestiegener Bedrohung durch die Bush-Regierung werden durch die akuten subversiven Aktivitäten und die Desinformationskampagne der USA in Kuba Angst und Zwietracht gesät, wird das hohe internationale Ansehen Kubas geschwächt. Die negativen Klischees über Kuba sind nach den US-Kriegen gegen Afghanistan und insbesondere Irak bedeutungsvoll, weil sie bei Erreichen einer bestimmten Intensität und Situation (z.B. große Ausreisewelle aus Kuba) den Vorwand für noch aggressivere oder gar militärische Angriffe bieten könnten.
Es ist an der Zeit, dass sich sowohl Bundesregierung, EU und UN, als auch jene Kreise, die sich wegen Menschenrechten in Kuba sorgen, vehement für eine umgehende Zivilisierung oder aber Verurteilung der US-Politik gegen Kuba einsetzen müssen, bevor Bush in der Karibik womöglich ein "neues (Blut-Öl)Fass" aufmacht. Linke Kräfte jedenfalls haben diese dringende Aufgabe.
Autor: Dr. Edgar Göll, geb. 1957 in Wetzlar, Sozialwissenschaftler und Zukunftsforscher in Berlin, seit 1993 in der Kuba-Solidaritätsbewegung tätig.
CUBA LIBRE 2-2020