Aqua Salud, sauberes Wasser, heißt die Metrostation, die von vielen Menschen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas bei Einbruch der Dunkelheit gemieden wird. Denn nur wenige Meter weiter beginnt das Barrio 23 de Enero. Von den wohlhabenden Schichten der venezolanischen Metropole ist das Stadtviertel wegen seiner kämpferischen Tradition zu Recht gefürchtet. Schließlich wurden die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts erbauten Wohnblocks nach dem Sturz des Diktators Marco Jimenez im Jahre 1959 von ärmeren Teilen der Bevölkerung einfach besetzt. Seitdem war das Viertel immer eine Hochburg der venezolanischen Linken. Sogar Guerillagruppen sollen dort eine Basis haben. Tatsächlich weht am Dach eines der Häuserblocks die Fahne einer kleineren, im Ausland kaum bekannten Guerillagruppe. 1989, als es in der Regierungszeit des sozialdemokratischen Präsidenten Perez zu spontanen Aufständen gegen Preiserhöhungen bei den Grundnahrungsmitteln kam, tobten um das Viertel die Kämpfe mehr als zwei Wochen.
Für die Hauptstadtpolizei ist das Barrio 23 de Enero noch immer der Hort der Subversion. Das zeigte sich erst am 11. April 2002, als die venezolanische Finanzwelt im Verein mit rechten Militärs gegen die linke Chavez-Regierung putschte. An diesem Tag erschoss die Polizei im Barrio den bekannten linken Aktivisten Alexis Gonzalez.
Im sandinistischen Nicaragua hatte er bei der Bildungskampagne mitgeholfen. Erst wenige Monate vor seinem gewaltsamen Tod war er mit seiner nicaraguanischen Frau nach Caracas zurück gekehrt, um sich an der Umwälzung als Basisaktivist zu beteiligen. Nach seinem Tod haben sich weder die städtischen Behörden noch die Regierungsvertreter um seine Witwe gekümmert. Es waren Mitglieder der Coordinadora Simon Bolivar, die für den Unterhalt der Hinterbliebenen sorgten.
Die linke Stadtteilinitiative wurde nach dem Aufstand von 1989, dem sogenannten Caracasso, von einer kleinen Gruppe von Leuten gegründet, die schon länger in der Kultur- und Stadtteilarbeit aktiv waren. Ihr erklärtes Ziel ist die Verbindung von revolutionärer Politik mit den Alltagsinteressen der Barriobewohner.
Ob es um die Reparatur eines nicht funktionierenden Aufzuges geht, um die Realisierung von ökologischen Projekten oder um die Durchführung von Sport- und Spielaktivitäten für die Kinder im Barrio. Die Stadtteilinitiative ist immer an vorderster Stelle involviert.
Dabei wird das politische Ziel hinter der Beschäftigung mit den Alltagssorgen vom Coordinadora-Aktivisten Juan Contreras gar nicht verschwiegen: "Das Einsetzen für die unmittelbaren Belange ist Teil der politischen Strategie. Es geht um Selbstorganisierung und um die politische Bewusstwerdung der Menschen im Stadtteil." Regelmäßig werden Vollversammlungen im Veranstaltungshaus des Barrio einberufen. Durch persönliche Gespräche können aus Interessierten neue Mitglieder der Coordinadora Simon Bolivar werden. Bisher ist ihre Mitgliederzahl noch bescheiden. Doch Anerkennung und Respekt hat sie für ihre Arbeit im Barrio längst gefunden.
Dass Kiezarbeit und große Politik keine Widersprüche sein müssen, sieht der Besucher des Barrios 23 de enero schon an den Wänden. Befreiungskämpfe aus verschiedenen Teilen der Welt sind dort verewigt. Einen besonderen Stellenwert hat die Solidarität mit dem baskischen Befreiungskampf. Die drückte sich vor einigen Monaten auch praktisch aus. Aus Protest gegen die von der venezolanischen Regierung verfügte Ausweisung mehrerer baskischer Aktivisten, die jahrelang im Exil in Caracas gelebt hatten, traten Bewohner des Barrios in den Hungerstreik.
Allerdings erfolglos. Der Druck der spanischen Regierung war so stark, dass die Chavez-Regierung dem Auslieferungswunsch aus Madrid stattgegeben hat. Es ist nicht der einzige Fall, dass ein politischer Dissens zwischen der Chavez-Regierung und den politischen Aktivisten der Coordinatora Simon Bolivar deutlich wird. Dabei machen die Mitglieder der Stadtteilinitiative allerdings immer wieder deutlich, dass sie mit den Vorwürfen gegen einen angeblichen Diktator Chavez, wie sie auch in deutschen Medien zunehmend verbreitet werden, nichts anfangen können.
"Früher standen wir mit unserer Arbeit immer am Rande der Kriminalisierung. Seit Chavez an der Macht ist, wird unsere Arbeit toleriert und teilweise unterstützt", meint ein Mitglied der Stadtteilinitiative.
Anders als Chavez, dem persönliche Integrität und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Basisinitiativen zugestanden wird, kommen die meisten seiner Mitarbeiter nicht so gut weg. Ihnen wird administrative Politik im alten Stil und Ignoranz der Basisaktivitäten vorgeworfen. Doch auch der Präsident selbst bleibt von Kritik nicht verschont. Der Geschichtslehrer Carreras bringt diese auf den Punkt: "Wir unterstützen Chavez weniger für das, was er macht, als für das, was er sagt". Bei aller Kritik machen die Coordinadora-AktivistInnen ihre Entschlossenheit deutlich, die Regierung Chavez gegen Angriffe von Rechts zu verteidigen.
Schließlich waren sie schon bei der Abwehr des rechten Putschversuchs im April 2002 an vorderster Front dabei. Doch wie man reagiert, wenn statt eines Militärschlags eine Abwahl des Präsidenten mittels eines in der Verfassung verankerten Referendums erfolgt, ist unklar. "Dann machen wir alle Massenselbstmord, weil wir nicht genug zur Unterstützung getan haben", lautet eine im ernsten Ton vorgetragene Erklärung eines älteren Mannes. Doch wahrscheinlich wird die Coordinadora Bolivar mit ihrer Basisarbeit weitermachen, wie seit 1989. Nur würde diese Arbeit dann wieder unter viel erschwerteren Bedingungen und dem ständigen Repressionsdruck erfolgen, so wie in den Jahren vor der Präsidentschaft von Chavez.
Peter Nowak
CUBA LIBRE 2-2020