Fahnen, ein Meer von Fahnen ! Das ist es, was seit dem 11. September die Besucher in USA anscheinend am meisten beeindruckt. Kein Laden, fast kein Auto oder auch Mensch ohne Fahne, Fähnchen oder wenigstens ein Reversabzeichen mit den Sternen und Streifen.
Das ist nicht allzu überraschend. Im Vergleich mit anderen Ländern war das Land immer sehr "fahnenbewusst"; man konnte öfters in den Vororten Männer sehen, die allmorgens ihre private Fahne auf dem privaten Fahnenmast vor dem Haus hissten, meist mit quasimilitärischer Ehrenbezeichnung.
Nun, wo sich das Land getroffen fühlt wie niemals seit dem 7. Dezember vor sechzig Jahren, als Pearl Harbour angegriffen wurde – oder vielleicht noch stärker, denn diesmal fand der Angriff nicht weit entfernt im Pazifik und gegen Militärziele gerichtet statt, sondern mitten in New York und im berühmten Pentagon. Beides sind allen bekannte Symbole; er ereignete sich vor aller Augen am Bildschirm und riss viele Zivilisten in den Tod. Ja, ein Bedürfnis nach Zusammenhalt, ein Gefühl der Heimatliebe und auch der Wut gegen die unbekannten Täter war recht verständlich, auch für jene, die nicht allzu viel von "flag-waving" halten, vom Fahnenwedeln.
Nur gehen mit der Betroffenheit, der Einigkeit und dem gesteigerten Patriotismus leider große Gefahren Hand in Hand, die man mit einem Wort „Bush“ oder noch knapper mit „W“ zusammenfassen könnte. So erschreckend tragisch die Ereignisse vom 11. September waren, sie kamen für manche wie bestellt. Vor diesem Tag war das Recht von George W. Bush auf das Präsidentenamt noch umstritten, der schlechte Nachgeschmack von Florida – und das Ignorieren der Wünsche von vielen Tausenden, ja von der Mehrheit, die für Gore gestimmt hatte, noch längst nicht überwunden. Die vielen Versprechungen der Wahlkampagne wurden immer deutlicher in ihrem wahren Wesen erkannt; als riesige Geschenke an die reichsten Millionäre und Milliardäre – trotz der kleinen Steuergeschenke, die auch Leuten der Mittelschicht zufielen. Langsam kamen die echten Probleme zum Vorschein – erst recht wegen der immer schwächer werdenden Wirtschaft.
Nun schienen alle Zweifel, alle Missgeschicke, sogar alle Sprachschnitzer verschwunden und vergessen. Nach den ersten Stunden, in denen er sich gut versteckt hielt, wurde dann Bush zum Helden des Tages, und teilte diesen Ruf nur ein wenig mit dem unerwartet beliebt gewordenen autokratischen Bürgermeister Giuliani von New York. Das Besorgniserregende dabei war, dass sich Bush nun traute, die sowieso schon riesige Macht eines amerikanischen Präsidenten noch auf ein fast unkontrollierbares Maß zu erweitern, auf Kosten der Gerichte, auf Kosten des Kongresses und vor allem auf Kosten der Bevölkerung.
Am schlimmsten dran waren Nichtstaatsbürger, erst recht wenn sie dunkelhäutig waren, irgendwie nahöstlich aussahen, die falsche Kleidung trugen oder gar zu Allah beteten. Sie wurden von den "patriotischen" Fanatikern überall gemieden, angegriffen, von Flugzeugpassagierlisten entfernt und in mindestens zwei Fällen getötet.
Es könnte noch schlimmer kommen: Präsident Bush will sich jetzt das Recht einräumen, Nichtstaatsbürger – also alle Menschen der Welt, die keinen US-Pass haben – zu verhaften, auch im Ausland, sie auf unbestimmte Zeit und auch heimlich einzusperren – ohne das Recht auf Unterstützung durch einen Anwalt – und sie schließlich vor ein geheimes Militärtribunal zu stellen, welches bestimmen soll, ob sie kriminelle Terroristen sind oder nicht. Nicht mal Einstimmigkeit der Richter soll nötig sein (wie sonst bei Militärtribunalen), sondern nur Zweidrittel der Richtenden genügen, keine schlüssigen Beweise werden verlangt, und es wird nicht mehr im Zweifelsfall für den Angeklagten entschieden. Es kann sogar die Todesstrafe verhängt werden!
Und das alles, die Auswahl der festzunehmenden "Terroristen", wie die Auswahl der Richter, wird von einem Mann entschieden – von George W. Bush, dem Mann, der als Gouverneur von Texas die allermeisten Todesstrafen in den USA zu verantworten hatte. Dies sei nötig für den Fall, dass Osama bin Laden oder ähnliche Terroristen gefangen werden, so heißt es, und um Geschworene – wenn sie für schuldig entscheiden – nicht dadurch zu gefährden, dass sie bekannt sind.
Wer sind den nun Terroristen, gegen die weiterhin Krieg geführt und eventuell Geheimtribunale geführt werden? Nicht mehr nur bin Laden und seine Leute, heiß es. Und auch nicht mehr nur die Taliban-Kämpfer, die sich ihn nicht preisgeben wollten. Nein, alle, die George W. Bush nicht gefallen! Sind es auch PLO-Mitglieder? Sind es Irakis? Sind es Guerilleros in Kolumbien? Es könnten Basken sein, oder Iren (von einer oder gar beiden Seiten?), auch Korsen vielleicht? Mandelas Kämpfer, nun Regierungsmitglieder, galten in den USA einst als Terroristen. Terroristen, scheint es, sind eben die, die gerade missliebig sind. Unter rechtsreaktionären Kräften braucht man sie nicht intensiv zu suchen! Bush spielt eben Gott.
Zu alledem gehören viele andere Maßnahmen, die Bush im eigenen Land durchführt, wie die Erweiterung der Rechte von FBI und CIA, das "Recht" auf das Anzapfen von Telefonen, auf Hausdurchsuchungen, auf Verhaftungen. Mindestens 1.000 Ausländer sollen schon in Gefängnissen sitzen, völlig isoliert und ohne Hilfe. Bush ist dabei, weitgehend die schon schwachen Kontrollbefugnisse des Kongresses weiter auszuhebeln, er maßt sich eine Machtfülle an, die mindestens seit dem zweiten Weltkrieg nicht ihresgleichen hatte. Und da bisher die Gegner der Demokratischen Partei – mit wenigen Ausnahmen – kaum den Willen oder den Mut fanden, etwas dagegen zu machen – es könnte womöglich als "unpatriotisch" angesehen werden, da steht der Präsident triumphierend grinsend da, zusammen mit seiner kleinen Bande von Beratern und Unterstützern.
Das ist äußerst gefährlich, im Inland wie im Ausland. Wie der recht konservative Tim Lynch vom Cato Institute sagte: "Die Macht, die Präsident Bush heute besitzt, ist wahrlich atemberaubend. Ein Einziger wird entscheiden dürfen, ob der Krieg auf den Irak ausgebreitet wird. Ein einziger Mensch wird darüber entscheiden, wie viel Privatleben amerikanische Bürger noch behalten dürfen."
Nur langsam merken manche Amerikaner, dass die Fahrt nicht nur gegen bin Laden oder andere Terroristen gilt, die das Unglück vom 11. September geplant haben. Einige, bisher besonders Studenten, Dozenten und ein paar Gewerkschaftsgruppen, demonstrieren. Sie – und hoffentlich bald noch viele mehr – merken: Es geht jetzt um nichts anderes als um ihre eigenen schwer erkämpften Rechte und es geht zunehmend auch um den Frieden in der Welt.
Bill Rogers
CUBA LIBRE 1-2002