Ein Reisebericht besonderer Art

Mit dem Rollstuhl auf Kuba

Ein Krüppel als Kanzler? Ja, diese Frage muss man (wieder) stellen. Obwohl Rollstuhlfahrer Wolfgang Schäuble diese Frage 1997 im Stern selber so schnörkellos sachlich formulierte, um auf die Folgen seines körperlichen Handicaps für seine politische Zukunft hinzuweisen, kochten die Emotionen der Leserschaft hoch..

Bodenlos geschmacklos. Sei das, menschenverachtend und behindertenfeindlich, politisch infam.

Behinderte Jugendliche in einer Klasse mit Nichtbehinderten? Welche Folgen hat das für den Lernerfolg? Behindert das die Nichtbehinderten oder fördert das die Behinderten? Um solche Zukunftsfragen zwischen Integration und Ghettoisierung streiten sich Eltern, Lehrer, Schüler mit Politikern und Bürokraten in unserem Land.

Diese und andere Erfahrungen im Gepäck, beschlossen ein Rollstuhlfahrer und zwei Mitglieder eines Göttinger Behindertenvereins nach Kuba zu fliegen, um an einer internationalen Konferenz über die Rechte Behinderter teilzunehmen und Einrichtungen der Behindertenhilfe zu besuchen. Ein Reisebericht von Gunnar Siebecke und vielleicht auch ein Reisetipp für Wolfgang Schäuble.

Nach Kuba zu fliegen, war der Beschluss, ein Abenteuer zu wagen. Wir wussten, dass wir in ein Land der 3. Welt fliegen, das viele Sorgen und mit Sicherheit nicht die wirtschaftlichen Mittel hat, sich flächendeckend um die rollstuhlgerechte Gestaltung von Städten und Verkehrsmitteln zu sorgen. Und wir waren gespannt auf das, was da auf uns zukam. Zuerst einmal die leidigen Formalitäten über den Transport von Hilfsmitteln klären, wie sie ein Tetraplegiker nun einmal benötigt. Dann einen geeigneten Sitzplatz im Flugzeug finden, das keine behindertengerechten Sitze hat. Die Flugzeug-Crew half, diese Hürde zu überwinden. Von da an war es ein unkomplizierter Flug mit bestem Service, kubanische Rhythmen und dem ersten Mojito beim Zwischenstop in Santiago de Cuba eingeschlossen.

Vor dem Konferenzbesuch in Havanna hatten wir Gelegenheit eine Woche lang die verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe in der Provinzhauptstadt Mantanzas zu besuchen: eine Schule für hörbehinderte Kinder, eine Schule in der sehbehinderte Kinder integriert werden, ein heim für mehrfach körper- und geistigbehinderte Kinder und Erwachsene, eine Augenklinik, ein Waisenhaus, eine Behindertenwerkstatt, Ein Rehabilitationszentrum. Wir führten Gespräche mit Vertretern der kubanischen Behindertenverbände. Es gibt je einen eigenen Verband für Körperbehinderte, Sehbehinderte und Blinde, Schwerhörige und Taube sowie in der Gründungsphase einen Verband von Angehörigen und Freunden geistig Behinderter. Wir sprachen mit dem Verantwortlichen für "Essen auf Rädern" in Mantanzas und zahlreichen Menschen mit verschiedenen körperlichen Handicaps. Jeden Morgen wurden wir von einem Bus abgeholt, der eine Hebeeinrichtung für Rollstühle hatte. Eine Seltenheit in Kuba, allerdings auch ohne Festschnallvorrichtung. Wenn der Bus anderweitig benötigt wurde, kam der Rollstuhl in den Kofferraum eines PKWs. Behindertengerechte Taxis gibt es nicht. Aber wenn der Kofferraum geöffnet bleiben musste, weil der Rollstuhl herausragte, nahm niemand Anstoß daran.

Alle Eindrücke dieser anstrengenden Woche im einzelnen wiederzugeben, sprengt den Rahmen eines kurzen Reiseberichts. Eine Tatsache war nicht zu übersehen: Wir sind mit unseren Fragen und unserem Interesse überall mit offenen Armen empfangen worden. Wir haben Sympathie und Freundlichkeit erfahren. Wir haben erlebt, das Humanismus und menschlicher Umgang mit behinderten Menschen nicht allein eine Frage des Geldes und der wirtschaftlichen Möglichkeiten ist. Wie kuba seinen behinderten Menschen unter den schwierigsten ökonomischen Bedingungen eines Entwicklungslandes, das zudem unter einer fast vollständigen Handelsblockade der USA leidet, bestmögliche Versorgung und Rehabilitation gewährleistet ist einmalig in der Welt. Diese Leistungen müssen den Vergleich mit den reichen Industrieländern nicht scheuen. Und den mit anderen Entwicklungsländern erst recht nicht. Das System der Vorsorge, Behandlung und Rehabilitation steht jedem Menschen in Kuba zur Verfügung. Es gibt für alle Bürger ein dichtes Netz von Familienarztpraxen in unmittelbarer Nachbarschaft, die in der Regel Tag und Nacht erreichbar sind. Diese Familienärzte leisten mehr als reine Hausarzt-Arbeit. Sie sind auch verantwortlich für flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen, Schutzimpfungen usw. Sie erarbeiten sich einen Überblick über die im jeweiligen Gebiet lebenden körperlich oder geistig Behinderten und überweisen sie in geeignete Förder- und Behandlungseinrichtungen. Wird ein behindertes Kind geboren, weiß so die betreffende Schule am Ort bereits vier oder fünf Jahre vorher, dass sie einen Neuzugang bekommt. Entsprechend kann z.b. geplant werden, wie viel(e) Lehrer, Klassen und Förderunterricht benötigt werden, um zu garantieren, das tatsächlich jedes Kind zu seinem Recht kommt. Dieses System wurde unmittelbar nach der Revolution von 1959 eingeführt und bis zum heutigen Tag weiterentwickelt und den Erfordernissen – aber auch den ökonomischen Möglichkeiten – angepasst. Und es ist selbstverständlich für alle Menschen kostenlos. Ziel all dieser Anstrengungen ist, behinderte Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, indem sie in der Familie weiterleben können, in dem sie einer Arbeit nachgehen können, indem sie am gesellschaftlichen, kulturellen Leben teilnehmen können.

Seit drei Jahren wird in Mantanzas auch die schulische Integration stärker vorangetrieben. Wir besuchten eine Regelschule, vergleichbar mit einer achtklassigen Grundschule, an die ein Sonderschulzweig für Sehbehinderte angegliedert ist. Hier wird intensiv experimentiert, welche Unterrichtsstunden gemeinsam gegeben werden können und welche zusätzlichen Fördermaßnahmen für sehbehinderte SchülerInnen notwendig sind. Bei der Integration in die Gesellschaft spielen nicht nur die Behindertenverbände eine Rolle, sondern auch die Gewerkschaften, andere Organisationen sowie die Werkstätten. Dort arbeitende Behinderte verdienen ca. 50 Prozent des kubanischen Durchschnittslohnes, eine Größenordnung von der WerkstattmitarbeiterInnen in der Bundesrepublik nur träumen können. Die Behindertenverbände spielen bei der Integration die größte Rolle. Sie haben eigene Ärzte, Therapeuten und forscher, die mit allen Einrichtungen der Behindertenhilfe zusammenarbeiten. Sie sind die Interessenvertretung der Betroffenen und organisieren die Betreuung in den Stadtteilen. Auch die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) tragen zur Integration im Stadtteil bei, indem sie sich um die Lösung anstehender Probleme kümmern.

Der Dreh- und Angelpunkt der Integration ist aber die Familie, die in der Regel zusammen wohnt und zusammenhält. Das bei uns vorhandene Phänomen der Isolierung und Vereinzelung ist in Kuba weitgehend unbekannt. Es ist eher Selbstverständlichkeit, dass sich die Familie zusammen mit Nachbarn z.b. um die Mobilitäsbedürfnisse Behinderter kümmert. Natürlich gibt es aus Rollstuhlfahrersicht noch viele Defizite. Vor allem im Städtebau. Fast jedes private oder öffentliche Gebäude ist nur über einige Treppenstufen zu erreichen. Abgesenkte Bordsteine sind so gut wie unbekannt, sehbehindertengerechte Ampeln gibt es nicht. Aber Kuba kann auch hier nicht mit einem der reichsten Länder der Welt verglichen werden. Unser Abschied von Mananzas war eine kubanische Nacht. Nachdem wir uns einen Tag im Urlaubsparadies Varadero vergnügen konnten, wo es selbstverständlich behindertengerechte Hotels mit allen erdenklichen Service gibt, wo wir zusammen schwimmen konnten, starteten wir in die "noche cubana" Essen, Trinken, Plaudern mit neugewonnenen Freunden und tanzen zu kubanischen Rhythmen, jeder wie er konnte. Die Woche in Mantanzas war eine eindrucksvolle praktische Erfahrung vor der Konferenz in Havanna. Rund 250 Menschen aus 16 Ländern nahmen daran im Palacio de las Convenciones teil. Meist unterschiedlich Behinderte aus fast allen Staaten Süd- und Mittelamerikas, eine Gruppe aus den USA, die Paraplegikerassoziation aus Kanada, ein Behindertenverband aus Spanien und 13 Teilnehmer/innen aus verschiedenen Vereinen und Einrichtungen der Bundesrepublik. Das viertägige Vortrags- und Diskussionsprogramm sowie der Erfahrungsaustausch untereinander waren überwältigend.

Herausragend wurden zwei Themen diskutiert: die Probleme der individuellen, ganz persönlichen Assistenz behinderter Menschen. Hier verwiesen die kubanischen Teilnehmer/innen auf ihr Modell der Integration in die Familie, in die Gesellschaft, wo Assistenzfragen anders gelöst werden können als unter Bedingungen der Isolation und Ghettoisierung. Das andere Thema drehte sich um Fragen der Sexualität Behinderter. Hochinteressant waren auch die Beiträge, die sich mit den verschiedenen Formen der Behandlung, der Therapie und der Eingliederung in die Arbeitswelt befassten. Selbstverständlich wurden die Beiträge im Plenarsaal von einer Gebärdendolmetscherin übersetzt.

Der Abschlussabend in Havanna, noch einmal eine "noche cubana" war für unsere kleine Gruppe aus der Bundesrepublik ein besonderes Erlebnis. Das Kongress-Essen war kaum beendet, die ersten heißen Rhythmen kaum angestimmt, da rollten und rannten die Teilnehmer/innen auf die Tanzfläche und schwoften was sie konnten. Wir nannten die Abschiedsfeier "Der Kongress tanzt!" Solch ausgelassene Stimmung, solch eine Selbstverständlichkeit, dass Behinderte und Nichtbehinderte zusammen ein Fest feiern, kannten wir aus der europäischen Kälte kommend bisher nicht.

Fazit: Mit dem Rollstuhl nach Kuba reisen? Auf jeden Fall! Wer nicht in eins der behindertengerechten Hotels oder zur Therapie in eins der Reha-Zentren fährt, die es in Varadero und anderen Orten gibt, sondern Kuba als Individual-Tourist erkunden möchte, der braucht allerdings starke Arme und Helfer. Die vielen Treppen und Schlaglöcher und weitere Hindernisse erfordern einfach Kraft. Ausgeglichen wird die Anstrengung allerdings vollkommen durch die Gastfreundlichkeit, das natürliche und menschliche Klima und die Erfahrung, dass menschlicher Umgang mit Behinderungen, Förderungen von Behinderten im sozialistischen Kuba kein Privileg der Reichen ist, sondern zum Alltag aller gehört.

CUBA LIBRE
Gunnar Siebecke

CUBA LIBRE 1-2002