Geistig-Behinderten-Pädagogik in Cuba: Auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung ...

Werden Romeo und Julia heiraten?

La Castellana

Betreuung und Erziehung anderer Menschen ist eine Aufgabe für die es der Liebe bedarf, mehr noch, wenn es sich um geistig Behinderte handelt.


Genauso wie Romeo seine Julia liebte, liebt Ernesto Tanja. Sie ist zärtlich, liebenswert und eingebildet. Nie fehlt ihr eine Mohnblume als Haarschmuck und sie kann bezaubern, wenn sie tanzt oder ihre Übungen in rhythmischer Gymnastik macht, die ihr 1995 eine Goldmedaille bei speziellen Olympischen Spielen in den USA einbrachten.

Er legt seinen Arm um ihre Schultern und zieht sie an seine Brust, um ihr Wärme und Zärtlichkeit zu geben. Immer sucht er sie, bewacht sie, verteidigt sie. Alle Zeit der Welt scheint ihnen zu kurz um sich ihre Liebe zu zeigen und zusammen zu sein. Deshalb wollen sie heiraten … Aber wie die Montescos und die Capuletos sind ihre Familien dagegen. Die Verliebten sind gezeichnet dadurch, dass sie geistig zurückgeblieben sind und genauso dadurch, dass sie überbehütet werden und so potenzieren sich die vorhandenen Vorurteile gegenüber einem für sie möglichst normalen Leben. Doktor Emelia Icart, Direktorin des Heimes La Castellana, Zentrum für Medizin und Psychopädagogik für schwer geistig Behinderte, sagt dass weltweit in diesem Fall Medikamente verabreicht werden, um die sexuellen Äußerungen zu unterbinden. Es gibt keine wissenschaftliche Studie die Anleitung geben könnte, ihnen die Freiheit dieser menschlichen Neigung zu lassen, die vielleicht dazu beitragen könnte, ihr Leben zu bereichern.

Ein Beruf der Liebe

Doktor Emilia Icart war gerade 25 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal dieser Welt der großen Fragezeichen aussetzte. Sie hatte ihre Spezialausbildung in Psychopädagogik für diese Art von Beeinträchtigung gerade in Ungarn abgeschlossen und als sie zurückkam, sagte man ihr, sie sei zu "weich" für einen derart schweren Beruf, ohne nennenswerte Vorarbeiten in Cuba. Das Heim El Castellana, untergebracht in einer alten spanischen Einrichtung, war ein Krankenhaus, wo man ohne Rücksicht auf unterschiedliche klinische Erscheinungsbilder, geistig Behinderte untergebracht hatte, die als unheilbar galten. 1967 erfolgte eine Einteilung in die unterschiedlichen Krankheitsbilder und das Zentrum widmete sich weiterhin ausschließlich geistig schwer zurückgebliebenen Menschen.

Die Erfahrung von Doktor Rafael Crespo, der früher eine Privatklinik für Behinderte der sozialen Elite hatte, und das psychopädagogische Wissen von Doktor Silvia Haz waren eine außerordentliche Hilfe. Zu den ersten Aufgaben in La Castellana gehörte es, diejenigen anzuziehen, die die ganze Zeit liegend im Schlafanzug verbrachten. Ebenso dazu gehörte, einen Speiseraum einzurichten und ihnen zu zeigen, wie sie sich bei der Nahrungsaufnahme ihrer eigenen Kräfte bedienen konnten. Genauso wichtig war es, durch eine personalisierte Erziehung die sensorischen, motorischen und intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln.

"Viele hatten die Hände zu Krallen verkrampft" erinnert sich Emelia "sie konnten weder ihre Kleidung zuknöpfen noch Schnürsenkel binden. Um Fortschritte zu erzielen, mussten wir anfangen, ein auf den Umgang mit Behinderten spezialisiertes personal aufzubauen und Ärzte und Krankenschwestern passend für diese Aufgaben zu suchen." 31 Jahre nach diesen Anfängen gibt es im Land 26 Einrichtungen, in denen das nationale Programm für schwer geistig Behinderte entwickelt wird. Viel ist bisher erreicht worden. Aber immer noch gibt es Unerforschtes, da jeder Fall Überraschungen birgt.

Auf Besuch

Mayegüe ist wie ein Gastgeber in La Castellana. Er zeigt sich wissend und kennt sie Speisenfolge des Tages. "Schauen Sie" sagt er, zum Frühstück hatten wir Joghurt und Brot, zur Brotzeit gab's Mandarinen und das Mittagessen ..." und während er mir so den den Mund wässrig macht, verwickelt er mich in ein endloses Gespräch. Jemand anders klopft an meine rechte Schulter und bewegt sich ungeduldig mit einer deutlich ins Gesicht geschriebenen Bitte. "Sie müssen bis zehn zählen", erklärt man mir. Ich mach es, der junge Mann beruhigt sich und geht zufrieden seines Weges. Auf dem Weg zur Werkstatt sehe ich einige Schüler den Rasen mähen, andere sind mit Arbeiten im Gemüsegarten beschäftigt, andere sind in die Proben für einen kulturellen Auftritt vertieft.

Aliáin Méndez spielt Tumbadora und singt sehr gut. Sein größter Wunsch ist es, eines Tages mit Juan Formell und Los Van Van zusammen spielen zu können.

In der Werkstatt, einzigartig im Land, werden Arbeiten von großem ökonomischen Nutzen hergestellt. Dort werden Ständer gefertigt, die später dazu eingesetzt werden, das Gemüse zu schützen. Dieser Artikel wird vom Unternehmen Carisombra gut bezahlt und der Gewinn fließt in die Aktivitäten des Zentrums ein. Die daran arbeitendem Schüler erhalten Lohn. Schon denken viele von ihnen daran, sich Kleidung, Schuhe oder Kassettenrekorder zu kaufen, ihre Familien zu unterstützen oder sich zu verheiraten, wie Ernesto und Tanja.

Aber der eigentliche Zweck der Werkstatt ist nicht der finanzielle Gewinn, sondern der humanitäre. Der Wissenschaftler Roberto Novoa, spezialisiert auf Geistig-Behinderten-Pädagogik erzählt mir über die ständigen Aktivitäten: "Im Vordergrund stehe das Interesse, jeden einzelnen seine eigene Arbeit entwickeln zu lassen, ohne ihn durch Vorurteile einzugrenzen. Ich behandle sie wie normale Arbeiter und in der Praxis kann ich sehen, wer welche Aufgaben übernehmen kann. Natürlich ist es nicht einfach, ihre Aufmerksamkeit über Stunden bei einer Sache zu halten, deshalb werden die Tätigkeiten nach einer Weile gewechselt und so ist es weniger schwer, dass sie erfolgreich sind. Ein Versagen ist furchtbar, es deprimiert sie sehr stark."

Von der Gewalt zur Umgänglichkeit

Es gibt einige, die sich sehr gewalttätig zeigen und mit diesen muss man sehr geduldig arbeiten. Roberto akzeptierte weder Witze noch Kritik und wurde sehr aggressiv, wenn man ihm nicht sofort zuhörte. Grundlegend für ihn war die Gruppentherapie.

"Durch eine Art Versammlung des Nachstrebenswerten zeigten wir die negativen Formen, Zuerst den Gelehrigsten, die ihre Fehler erkannten und Besserung versprachen. Danach kamen wir zu den Gewalttätigen. Wir sprachen viel darüber, wir sagten, dass jemand anderen zu schlagen nicht das Beste sein, sondern dass es intelligenter wäre zu jemandem, der einen nicht beachtet, zu sagen, dass er schlecht erzogen wäre. Das verletzt mehr. Dem Jungen gefiel diese Lösung und er begann sie umzusetzen."

Der Wissenschaftler Novoa arbeitet acht Jahre im Vorstand des Heimes Rubén Martínez Villena, das sich ebenfalls geistig Behinderten widmet; er war in der Arbeitserziehung im normalen Erziehungssystem tätig; entwickelte Aufgaben mit Körperbehinderten im Krankenhaus Frank País, aber nichts hat ihm so gut gefallen, wie seine gegenwärtige Arbeit. Seine Werkstatterfahrung war sehr wertvoll für das nationale Psychopädagogische Programm, um geistig Zurückgebliebenen zu helfen, sich Schritt für Schritt in nützliche Wesen zu verwandeln, weg von der früheren Ansicht, dass ihnen nicht zu helfen sei.

"Dies ist eine faszinierende Welt" sagt er, "wie geschaffen dafür, eines Tages ein Buch mit rührenden Anekdoten über sie zu veröffentlichen. Ich erinnere mich an den Fall eines Jungen, der nie ein Wort gesprochen hatte. Als er in die Werkstatt kam und ihm dort die Möglichkeit zuteil wurde sich nützlich zu fühlen, geschah das Wunder. Er begann seine Lippen zu bewegen und begann zu sprechen. Niemals werde ich diesen Moment vergessen."

Ein mutiges Vorhaben

In Cuba ist es nicht weiter bemerkenswert einen Blinden unbefangen durch die Straßen gehen zu sehen, eine Unterhaltung in Gebärdensprache zu beobachten oder zu wissen, dass jemand, dem ein Bein fehlt, eine Goldmedaille bei den Paralympics gewonnen hat. Aber meist verleugnet man die geistig Behinderten im sozialen Leben. Einige fürchten sie, andere haben Mitleid und die meisten wollen weiter nichts mit ihnen zu tun haben. Diese Situation kennt Georgina Veulens, deren Sohn am Down-Syndrom leidet, sehr gut. Und sie kennt auch die Sorgen anderer Eltern über das mangelnde soziale Verständnis ihren Kindern gegenüber. Aber sie gibt nicht auf. Kürzlich hat sie in ihrem Viertel eine Kulturveranstaltung mit einer Gruppe aus La Castallano organisiert, die sie mit ihren Familien besuchten.

Am Ende applaudierten sie und waren begeistert von der Aufführung. Ich glaube, dass mehr Öffentlichkeit zu einem größeren Verständnis führen würde. "Unser Kinder sind Personen, die das Recht haben, so behandelt zu werden wie du und ich und so zu leben wie du und ich!"

In diesem Sinne gibt es überall in Cuba Fortschritte. Es wurden bereits Olympische Spiele für geistig behinderte organisiert und Cuba war bei internationalen Veranstaltungen vertreten, wo Behinderte mit Sport, Kunst und anderen Aktivitäten bewiesen haben, dass sie sich zur Geltung bringen können.

Doktor Icart, heute Abgeordnete der Nationalversammlung spricht mit Stolz von diesen Fortschritten und ganz besonders davon was Tanja Alvarez – unsere Julia – erreicht hat, vor allem in Bezug auf ihre Körperbeherrschung und ihr unerwarteten artistischen Fähigkeiten. Vielleicht gelingt es ihr auch eines Tages zu heiraten. Emilia glaubt mehr als jemand anders an die Kraft der Liebe.

CUBA LIBRE
Aus Bohemia (Übersetzung: Karin Schrott)

CUBA LIBRE 1-2002