Autismus
Geben ist besser als nehmen, aber auch der Behinderte hat das Recht etwas beizutragen. Cuba kann von sich sagen, dass 98% aller Kinder mit physischen und mentalen Schäden betreut werden. Der Erfolg ist nicht gering zu schätzen, auch wenn es noch manche Schlacht zu gewinnen gilt.
Mehr als einmal habe ich mich dabei überrascht, wie ich mitleidig einen Blinden, einen Gehörlosen, einen Invaliden oder einen geistig Zurückgebliebenen betrachtete. Der Knoten im Hals wurde unerträglich, wenn es sich dabei um ein Kind handelte. Aber dann fange ich an nachzudenken und habe Schuldgefühle wegen dieser ungewollten Geste des Mitleids. Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die glauben, dass die, die wir als behindert betrachten, von uns kein Mitleid sondern Solidarität brauchen.
Auch wenn Mitleid oft als Tugend angesehen wird, so kann es aus diesen Menschen, feindselige, in sich zurückgezogene, abhängige Individuen ohne Selbstbewusstsein machen.
Es ist nicht unser Mitleid, das aus den Behinderten glückliche und erfüllte Menschen macht. Wenn eine fromme Hand einem Blinden ein Almosen gibt, befreit sie ihn damit nicht von dem traurigen Zustand des Bettelns, noch verhindert das Mitfühlen, dass eine deformierte Person zur Hauptattraktion oder gar zur Lachnummer eines Wanderzirkus wird.
Erbarmen und milde Gabe genügen nicht. Der Beweis liegt darin, dass die UNESCO die Situation von ¾ der Bewohner des Planeten mit einer physischen oder mentalen Behinderung als äußerst prekär bezeichnet. Die Gesellschaft kann sich von keinem ihrer Mitglieder abwenden, und im Falle eines Behinderten bedeutet ihn nicht seinem Schicksal zu überlassen mehr als eine karitative Geste oder die Zuwendung von Pensionen oder einer anderen Art von materieller Hilfe, die im größten Teil der Fälle nichts anderes ist, als eine Verurteilung zu lebenslänglicher Nutzlosigkeit.
Besser ist es, ihn auf ein verantwortliches Leben vorzubereiten, ihn zu einem aktiven Menschen zu machen, der geben und nehmen kann, seine eigenständige Entwicklung soweit wie möglich voranzutreiben, ihn zu lehren, sich wertzuschätzen, ihm zu erlauben, ein würdiges Leben zu leben, ihn in die Gesellschaft zu integrieren.
Das sind die Ziele der Sondererziehung in Cuba und zur Zufriedenheit seine Einwohner kann man sagen, dass 95% der behinderten Kinder diese besondere Erziehung heute genießen. Wenn man von den Erfolgen der Sonderschulerziehung in Cuba spricht, kann man behaupten, dass sie eines der wirklichen Werke der Revolution darstellt, denn vor 1959 gab es nur so an die zehn Institutionen, durch Patenschaften und durch die eine oder andere private Spende finanziert, zu denen kaum 150 Kinder Zugang hatten.
Dies waren fast ausschließlich in der Hauptstadt konzentriert, und von einem über das ganze Land gespannten Netz von Sonderschulen und einer Sonderschulpolitik, die ein gemeinsames für alle anzuwendendes Konzept verwirklichen sollte, wagte man noch nicht einmal zu träumen.
Heute gibt es 425 Sonderschulen: 100 für geistig zurückgebliebene Kinder, 80 für Kinder mit psychischen Entwicklungsstörungen und Lernbehinderungen, 30 für Jugendliche mit Verhaltensstörungen, 20 für Gehörlose und Schwerhörige, 7 für Blinde und Sehbehinderte, 13 für Fehlsichtige und an die 10 für Kinder mit schweren Sprachstörungen sowie eine nationale Schule für physisch-motorisch Behinderte.
Dieser Ziffer muss man noch 160 gemischte, hauptsächlich Primarschulen, hinzufügen, die von Kindern mit verzögerter physischer Entwicklung und Lernschwierigkeiten besucht werden und andere, ebenfalls Sonderschulen, zu denen letztere und Kinder mit geistiger Behinderung gehen. Zum einen, weil die Integration ein Ziel ist und zum zweiten, weil es wichtig ist, die eingerichteten Kapazitäten zu nutzen, sind viele Zentren auf mehr als eine Behinderung ausgerichtet.
Zu diesen Sonderschulen gehen 85% der behinderten Kinder des Landes und um den Rest zu erfassen wendet man Modalitäten an, wie individuelle Betreuung durch besonders ausgebildete Fachleute. Es gibt besonders ausgebildetes Personal für Kinder, deren Rehabilitation während des gemeinsamen Lernens zusammen mit anderen in einer Schule erreicht werden kann.
Das System der Wanderlehrer ist eine weitere Variante. Die Aufgabe dieser Erzieher (260 im ganzen Land) ist es zu verhindern, dass Kinder, die lange Zeit im Krankenhaus verbringen müssen, Unterrichtsstoff versäumen und die Verbindung zu ihrem Klassenverband verloren geht, bis sie wiederhergestellt sind. Aber sie vermitteln auch Kindern, deren physische oder geistige Behinderung so stark ist, dass sie keine Klasse besuchen können und auch nicht mit anderen zusammen in einem Lernzentrum leben können, Zugang zum Lernen. Davon sind 509 Kinder betroffen.
In den 425 Sonderschulen arbeiten ca. 14.000 Lehrer. Zusätzlich gibt es 3.000 Dozenten für Sonderpädagogik und 4.500 Arbeiter, die nicht direkt mit dem Lern- und Lehrvorgang in Beziehung stehen.
Die Lehrer werden darauf vorbereitet mit behinderten Kindern zu arbeiten. Es gibt Logopäden, Psychologen, Psychotherapeuten, Psychopädagogen, Musik-, Sport- und Werkarbeitslehrer.
In einer ähnlichen Situation befinden sich Kinder mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen in ihrem sozialen und familiären Umfeld. Auch Kinder, denen es aus bestimmten Gründen, obwohl sie ein normales, intellektuelles Niveau haben, nicht gelingt, sich auf dem gleichen Level und im gleichen Rhythmus wie ihre Altersgenossen zu entwickeln.
In diesen Sonderschulen, die sowohl Primar- als auch Sekundarschulen sein können, erlernt jeder Schüler einen seinen Möglichkeiten entsprechenden Beruf, was nicht bedeutet, dass er später nicht weiterstudieren oder die Universität besuchen kann, wenn dies seinen Fähigkeiten entspricht.
Jedem die Grundausbildung und eine Berufsausbildung zu vermitteln, ist das wichtigste Ziel. In der Arbeitsunterweisung hat die Sondererziehung große Aufgaben: Sie muss einmal das Beschäftigungsprofil erweitern, aber auch die Besonderheiten des Wohnortes beachten, in dem der Schüler lebt, um ihm, wenn die Stunde gekommen ist, in einen Beruf einweisen zu können. Nur so kann man gewährleisten, dass er eine Beschäftigung bekommt und eine reale Arbeitsaussicht für die Zukunft hat.
Das Personal und die Ausstattung dieser Schule sind von erster Güteklasse und es gibt viel gutes über diese Schulen zu erzählen, aber auch, was man noch besser machen könnte. Ende der 80er Jahre startete die cubanische Regierung ein Sonderprogramm um das alte Mobiliar, die Einrichtungen und die Gebäude durch neue zu ersetzen.
Der extreme Einschnitt in die Wirtschaft nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa , die Auflösung der Sowjetunion und die Verschärfung der nordamerikanischen Blockade, zwang uns diese und viele andere Projekte auf Eis zu legen. Es war nur noch möglich 46 Schulen zu bauen. 4 davon wurden in den östlichen Provinzen bereits mitten in der Krise zwischen 1992 und 1995 fertiggestellt.
Sonderschulerziehung ist ein kostspieliges Lehren. Hier werden jedes Jahr ungefähr 65 Millionen Pesos des Staatshaushalts investiert. (1Dollar entspricht 1 Peso im offiziellen Wechsel). Da in Cuba die Schule absolut gratis ist, kann man behaupten, dass im Schuljahr 1998-1999 sich die durchschnittlichen Kosten für einen Schüler auf 1.226 Pesos belaufen. In einigen Provinzen jedoch höher. Das hängt mit der Menge der Schüler und anderen Besonderheiten zusammen.
Diese 65 Millionen Pesos sind ausschließlich für Löhne, Lernmaterial, Transport und Ernährung der Schüler und deren Internatsunterbringung bestimmt. Bau und Ausstattung der Schulen sind darin nicht eingeschlossen. So benötigte man z.B. allein 324 Millionen Dollar um die nationale Schule für Körperbehinderte zu bauen.
Diese Zeiten sind hart für Cuba, trotzdem hat keine Schule geschlossen und die Lebens- und Lernbedingungen haben sich unverändert erhalten, sowohl was die allgemeine, als auch was die Sondererziehung angeht.
Cuba zählt nicht zu den Ländern mit einer erhöhten Rate an behinderten Kindern. Das liegt an den Gesundheitsprogrammen, der besonderen Zuwendung, die man der Frau vom ersten Augenblick der Schwangerschaft an zukommen lässt. Damit werden Gefährdungen verhindert und frühzeitig entdeckt.
Die Bedeutung, die wir der Sonderschulerziehung zukommen lassen, misst sich nicht an der Anzahl der Schulen, Schüler und Lehrer. Sie misst sich vielmehr daran, dass eine wirksame präventive Arbeit es uns erlaubt, weniger Schüler und Schulen zu haben und einzig und allein die Kinder eine solche Schule besuchen zu lassen, die ihrer wirklich bedürfen und zwar nur so lange, wie es unbedingt nötig ist. Je besser die Arbeit in einer solchen Schule, desto schneller kann eine Rehabilitation stattfinden.
Aber, wie viele es auch immer sein mögen, diese Schulen sind der unwiderlegbare Beweis, was Liebe, Solidarität und Respekt dem Menschen gegenüber vermögen.
Ende 1997 wurde in Cuba der 35 Jahrestag des Beginns der Sonderschulerziehung gefeiert. Havanna war Schauplatz des II. Iberoamerikanischen Kongresses in dieser Disziplin. Am Ende des Kongresses wurde das karibische Land zu seinen großen Fortschritten und Leistungen auf diesem Gebiet beglückwünscht. Gleichzeitig informierte der Kongress, dass in Lateinamerika 16 Millionen Kinder einer besonderen Erziehung bedürfen, aber nur 2% von ihnen irgendeine Form von Betreuung erhalten.
Ungefähr eines von acht Kindern in der Region leidet unter einer Form der Behinderung, während das Verhältnis in Cuba 5% beträgt, ein Indikator wie in den entwickelten Ländern.
Maria Elena Alvarez
Sonderausgabe der Nationalen Presseagentur AIN
(Übersetzung: R. Fausten)
CUBA LIBRE 1-2002