Das Thema "Behinderte" ist heikel, besonders dann, wenn - wie in diesem Fall - ein Nichtbehinderter über Betroffene schreibt.
Ich kenne nur weenige cubanische Behinderte persönlich; einer von ihnen ist mein Freund Carlos, der vor vielen Jahren das Pech
hatte, eines der letzten Polio-Opfer auf der Insel zu werden. bevor dort die allgemeine flächendeckende Schutzimpfung eingeführt
wurde. Er wurde seinerzeit als Kind in die DDR geflogen und in die Obhut der Ostberliner Charité verbracht.
Die Behandlung war kompliziert und langwierig und brachte 12 oder 13 Operationen mit sich. Als er nach cuba zurückkehrte, war er
ein junger Mann. Er spricht übrigens immer noch flüssig und praktisch akzentfrei deutsch. Nun ist Carlos in gewisser Weise nicht
repräsentativ. Er ist nämlich einer der aktivsten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Er ist Historiker des ACLIFIM, er
überträgt die Hunderte von Seiten langen Manuskripte seines Vaters, eines berühmten Rechtsprofessors, in computerisierte und
damit buchtaugliche Form, er ist "Militante del Partido" und düst mit seinem Rollstuhl von einer Konferenz zur nächsten, er
führt ein Eheleben, er korrespondiert per Post und Internet mit Gott und der Welt, er liebt Musik, lacht gern, isst viel,
raucht und ist auch dem Rum nicht abgeneigt.
Wenn ich bei ihm bin, muss ich mich wirklich unheimlich am Riemen reißen, um mir seine Behinderung zu vergegenwärtigen. Ich
merke es meistens dann, wenn ich ihm eine Zigarette anbiete und dieser verdammt leere Raum entsteht zwischen meinem hingehaltenen
Päckchen und seinem verkrüppelten Arm. Und ich beschimpfe mich im Stillen: "Idiot! Nimm gefälligst deinen Hintern hoch! Er
reicht nicht ran." Carlos ist ein Schwerstbehinderter, und ich vergesse es andauernd.
Für Rollstuhlfahrer und Blinde ist Havanna die Hölle. Selbst als gesunder Mensch muss man aufpassen wie ein Schießhund,
dass man sich auf den Schlaglochpisten, die sich Straßen oder Bürgersteige nennen, nicht die Gräten bricht. (1995 gelang mir
das nicht. Ich brach mir im Dunkeln auf der Calle Colon den rechten Fuß und brachte nach kostenloser Behandlung im
Volkskrankenhaus "Fructuoso Rodríguez" einen original cubanischen Gips mit nach Hause. Die beigestellten Krücken habe ich heute
noch.)
Aber zurück zum Thema: Für ein Land, dem von außen her alle erdenklichen Knüppel zwischen die Beine geworfen weren, damit
hinterher großspurig behauptet werden kann: "Haben wir`s nicht gleich gesagt? Sozialismus funktioniert nicht!", tut Cuba eine
ganze Menge für deine körperlich Behinderten, wenn auch Ebenerdigkeit und Rampen in erforderlicher Dichte und Anzahl nicht
gewährleistet werden können. Dies allein würde den cubanischen Staatshaushalt, der auch noch einer Masse anderer Sorgen gerecht
werden muss, rettungslos überfordern.
Geistig Behinderte erfreuen sich in der Regel intensiver Therapie und Pflege. Hier hat die Forschung einen Ehrgeiz entwickelt,
dessen Ergebnisse sich hinter denen keines reichen Landes verstecken müssen.
Ein gewisser Unterschied zwischen cubanischen und deutschen Verhältnissen mag im Stand des öffentlichen Diskurses über das Thema
"Behinderte" bestehen. Hier hat man manchmal den Eindruck, als ob Cubaner eher geneigt wären, mit körperlichen oder geistigen
Handicaps Behaftete aus dem Blickwinkel naiven Staunens zu betrachten, der zwar kaum je unfreundlich oder gar gewollt
diskriminierend ist, jedoch bisweilen etwas unsensibel.
Allerdings sollte man, wenn man bedenkt, dass hierzulande ganze Bürgerinitiativen aus dem Boden gestampft werden, um gegen die
Einrichtung einer forensischen Klinik in guter Wohnlage Zeter und Mordio schreien, diesen Unterschied nicht allzu hoch hängen.
Und verglichen mit anderen Ländern Lateinamerikas und der restlichen Dritten Welt kann Cuba sowieso auch im Bereich
"Behinderte" mit Fug und Recht als vorbildlich bezeichnet werden.
Ulli Fausten für die Redaktion der Cuba Libre
CUBA LIBRE 1-2002