Vor vielen Jahren sah ich einen Dokumentarfilm, der mir die Tränen in die Augen trieb; es ging um Kinder in Bogota, um Straßenkinder.
Sie rannten zwischen den Wagen auf der belebten Avenida umher, boten irgendwelche billigen Gegenstände an oder bettelten einfach. Sie rannten am Bürgersteig an einem Obsthändler vorbei und griffen schnell einen Apfel oder Apfelsine und waren schon weit als der erboste Händler hinausrannte. Sie suchten sich irgendein Schlafplätzchen mitten in der Stadt, sie sehnten sich nach etwas Wärme neben den anderen Kindern, stritten und schlugen sich, schnüffelten Büroleim um ihre Umwelt kurz auszusperren – und waren schon als Kinder verurteilt, fast alle von ihnen, bettelarm und früh zu sterben, ohne Schulbildung, ohne Gesundheit, ohne Freude. Ohne Hoffnung.
Später sah ich wieder einen Dokumentarfilm über Straßenkinder, diesmal, glaube ich, in Lima. Der Film war etwas hoffnungsvoller, denn einige Erwachsen versuchten, das Misstrauen der Straßenkinder zu überwinden und sie in einem schön gestrichenen Haus schlafen zu lassen und sie, wenn erforderlich, ärztlich behandeln zu lassen. Es war ein gut gemeinter Versuch, doch beschränkt auf ein paar Dutzend Kinder, und er dauerte nur so lange wie private Geldspender großzügig blieben.
Ich sah damals viele Dokumentarfilme bei den jährlichen Filmfestivals in Leipzig; in einem – über meine eigene (jetzt so schwer getroffene) Heimatstadt New York – ging es wiederum um Kinder. Vierzehn- oder Fünfzehnjährige, die aus armen, zerbrochenen oder von Alkohol und Gewalt beherrschten Familien oder aus Heimen wegliefen und in der Großstadt schließlich auf den Straßenstrich gingen, um zu überleben.
Bei einer Mexiko-Reise zu Verwandten traf ich dann selbst Straßenkinder, Indios zumeist, die Kleinigkeiten verkauften oder bettelten. Das war oft lästig; wenn es mehrere waren musste man um sein Portemonnaie Angst haben – und doch durfte man nie die tiefe, die bittere Tragik übersehen oder vergessen! Einige ausländische BesucherInnen sammelten, um wenigstens einen Teil dieser Kinder in eine Schule schicken zu können.
Wie tragisch diese Situation sein kann, wurde erst neulich deutlich! In Honduras, so besagte eine Nachricht, klagte eine Menschenrechtsgruppe, dass in organisierter Art und Weise Straßenkinder getötet werden. Es sind paramilitärische Gruppen, hieß es, die vermutlich schon mehrere Hundert solcher Kinder auf dem Gewissen haben. Wie bei den Gruppen, die aktive Gewerkschafter und Linke seit eh und je in Lateinamerika ermorden, sind es oft Polizisten außer Dienst. Die Kinder, hauptsächlich aus den Gegenden, die von dem Orkan Mitch verwüstet wurden, sind Waisen oder haben Eltern, die keine Felder und somit kein Einkommen mehr haben, nur hungern und vielleicht froh sind, wenn ein Esser weniger satt zu machen ist. Aber solche Kinder sind in der Großstadt den guten Bürgern überaus lästig; sie sind zerlumpt, sind mit wer weiß was infiziert, sie stehlen und schaden dadurch ganz sicher such dem Tourismus. Wozu sind sie also gut?
Die gleiche Lösung, wie ich mich erinnern kann, wurde massenweise in Brasilien verbreitet. Und wird sie nicht vielleicht in vielen anderen Großstädten Lateinamerikas angewendet, in denen es ebenfalls eine Zuwanderung von Armen und Hungrigen gibt?
In allen nicht! Ein Land zumindest, auch arm und gewiss von mehr als genügend sorgen und Problemen gebeutelt, kennt solche Kinder und solche Lösungen nicht! In Havanna wurde ich auch manchmal von Kindern angebettelt – vor allem um Schreibgeräte und Kaugummi. Doch das Bild, das ich von Cubas Kindern bekam, war das von einer fröhlichen Schar meist relativ gut gewaschener Kinder, oft in ordentlicher Schulkleidung – oder Teilen davon. Sie alle gingen kostenfrei in die schule und wenn nötig ebenso kostenfrei zu einem Arzt oder Zahnarzt. Nicht nur bei akuten Krankheiten, sondern vor allem zu Vorbeugung, wie z.B. Impfungen.
Sogar die Experten der Weltbank haben festgestellt, dass in den für die Bevölkerung so schicksalswichtigen Fragen der Schulbildung und der medizinischen Versorgung, vor allem von Müttern und Kindern, das arme Cuba nahezu eine Spitzenstellung einnimmt – und zwar nicht nur unter den anderen „unterentwickelten Ländern“ sondern unter allen Ländern, einschließlich er hochentwickelten europäischen Staaten oder den USA.
Mir gefielen in Cuba nicht die durch die Not erzwungenen Reklametafeln – sie ärgerten mich sehr viel mehr als die manchmal klischeehaften politischen Tafeln und Losungen. Doch besonders eine von den letzten bleibt mir in Erinnerung: &aquot;Millionen von Kindern in der Welt müssen schwer arbeiten; kein einziges von ihnen ist cubanisch!"
Und ich wusste, dass hungrige, bettelnde und klauende Kinder, so zahlreich in so weiten Teilen von Lateinamerika – und in etlichen anderen Gegenden auch – in Cuba nicht in Ladenstrassen, an Fahrdämmen unsichere Schlafverstecke aufschlagen müssen und im Elend verkommen.
Wenn ich über all das nachdenke, dann frage ich mich, wie es kommt , dass Brasilien und Honduras, Mexiko und El Salvador, sogar Guatemala und Paraguay alle in der Kategorie der "demokratischen" und "freien" Staaten geführt werden, niemals vor Menschenrechtsgremien angeprangert werden und immer zu Hemisphärentreffen in Washington oder sonst wo eingeladen werden. Cuba dagegen gilt bei vielen als unfrei, undemokratisch. Ohne Menschenrechte,ja, es wird manchmal sogar zu den so genannten gefährlichen "Schurkenstaaten" gezählt und andauernd für seine angebliche Unfreiheit mit Embargos und Diskriminierung bestraft.
Die Kinder der verschiedenen Länder Lateinamerikas kennen sich wohl kaum und können schwer Vergleiche anstellen. Aber wer fragt sie überhaupt? Doch wenn sie einmal reisen dürften und ihre Länder darin vergleichen könnten, wie für das Wohl der Kinder gesorgt wird, ob sie die Länder auch in diesen Kategorien einstufen würden? Sollten nicht auch andere über solche Kategorien nachdenken müssen?
Victor Grossmann
CUBA LIBRE 4-2001