Beim Studium dieser Thematik kann man drei Ebenen erkennen. Eine erste Ebene liegt in der Praxis der aktuellen Politik, eine zweite ist die sozial-philosophische und eine dritte ist die Darstellung der Problematik der Zivilgesellschaft in Cuba. Diese drei Aspekte sind stark miteinander verbunden, aber ich glaube, dass der sozio-philosophische der am meisten vernachlässigte ist.
Ich werde mich kurz auf die erste Ebene beziehen, das heißt auf die Praxis der aktuellen Politik. Ich bin der Meinung, dass es in dem universellen Modell, das man heute vorhat der Welt aufzuerlegen, drei Schlüsselelemente gibt: Die Demokratie in der Mitte zwischen Zivilgesellschaft und Markt. Diese drei Elemente sind im Zentrum des Modells, dass man einführen möchte. Das, was man in Cuba vorhat zu tun, ist schon in Fällen wie Portugal und Spanien versucht worden, wo es einen „friedlichen“ Übergang hin zur Demokratie gab, und wo natürlich keine Option in Richtung Sozialismus bestand, sondern wo es ein Festhalten an der kapitalistischen Gesellschaft innerhalb der Margen einer bürgerlichen Demokratie gab.
Dieses Modell wurde auch in einigen lateinamerikanischen Ländern ausprobiert, und eines der naheliegendsten Beispiele war Chile, d.h. Chile stellt ein Beispiel für einen friedlichen Übergang zur Demokratie dar und das für uns traumatischste Beispiel ist das von Nicaragua, ein Szenario, das ähnlich wie das unsere ist: eine Revolution an der Macht, die auf zwei Wegen gestürzt wird: auf dem Weg des friedlichen Übergangs und durch den Weg der inneren Subversion, der Blockade letztendlich mit allem, was das System kaputtmachen konnte. Und natürlich schon an vielen Schauplätzen ausprobiert ist das, was heute in der politischen Literatur in Bezug auf Cuba als friedlicher Übergang zur Demokratie zirkuliert. Es beinhaltet als wichtigste Punkte die "Schaffung" einer Zivilgesellschaft, das Mehrparteiensystem und die Einführung einer repräsentativen Demokratie; aber, es handelt sich dabei nicht um einen Regierungswechsel sondern um einen Wechsel des sozialen Systems, und das ist etwas ganz Anderes.
Ich werde mich auf die sozio-philosophische Ebene konzentrieren. Zunächst ist das Konzept der Zivilgesellschaft direkt verwandt mit dem Konzept der Freiheit. (…) Gerade die bürgerliche Gesellschaft, von der wir hier sprechen, in der sich die Zivilgesellschaft herausbildet, enthält dieses Freiheitskonzept als Doktrin und es enthält notwendigerweise alles, was mit der Tatsache zu tun hat, dass die Marktgesetze das Verhalten und die sozialen Beziehungen in dieses Gesellschaft regulieren.
Marx – und ich glaube, das ist der Schlüssel um die aktuellen Prozesse zu verstehen und uns in die Thematik zu vertiefen – gerade Marx ist es, der in seinem Jugendwerk einen Gegenvorschlag zu diesem Freiheitsverständnis und der Verwirklichung des Menschen in sozialer Hinsicht macht.
Marx geht das Problem nicht aus institutioneller Sicht an, sondern aus einer humanen Sichtweise, ausgehend von der Beziehung Individuum – Staat, und ich glaube, dass viele unserer Antworten in seinen Ausführungen gefunden werden können. Ich habe eine klare Auswahl dieser Ausführungen getroffen, die, wie ich glaube, das eigentliche Problem darstellen.
Für Marx war eine der Errungenschaften der sozialen Revolution das Ende des Dualismus zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen öffentlichem und privatem Leben.
Für Marx stellte sich die wirkliche Demokratie nur durch die Verschmelzung zwischen Arbeiter und Bürger dar, durch die Annäherung der Existenz des Volkes an das Politisch, und dort entsteht bereits das Konzept der Volksbeteiligung.
Was bedeutet das? Der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft ist eingespannt in die Arbeit und bleibt in seinen eng gefassten persönlichen Interessen eingeschlossen, was der Grund für die Entstehung allen ideologischen Verhaltens dieser Gesellschaft ist.
Der Mensch als Bürger nimmt an der Universalität des Staates teil, aber diese Teilnahme spielt sich am Rande des Privatlebens ab, der Mensch ist in zwei Teile gespalten und deswegen konnte die Zivilgesellschaft den Arbeiter nie mit der politischen Gesellschaft versöhnen, solange diese Gesellschaft der Willkür, der Anarchie, dem Egoismus, also all dem ausgeliefert war, was Marx als den Kampf aller gegen alle bezeichnete, und das ist nicht seine, sondern Hegels Idee. Dieser Philosoph sprach, wenn er sich auf die Zivilgesellschaft bezog, vom Kampf aller gegen alle.
Die Lösung, die Marx für dieses Problem bereithält, ist, dass der Mensch, ausgehend vom Umsturz der Gesellschaft, der Unterdrückung, des Privateigentums und des Klassenantagonismus seine Eingliederung in die Gesellschaft durch die Kontrolle des Volkes erreicht, die Kontrolle, die der Mensch über seine Handlung ausüben kann und dies ist genau die Aufhebung der Entfremdung des Individuums, die ihren sichtbaren Ausdruck in einer ökonomischen Demokratie, in einer politischen Demokratie bekommt, die nicht nur das politische Umfeld umschließt, sondern alle sozialen Beziehungen.
Um dies realisieren zu können musste man, nach Marx, die Produktivkräfte entwickeln, d.h. Um sich einem Ideal von Gerechtigkeit, menschlicher Freiheit des Individuums in Bezug auf die sozialen Beziehungen und die Natur anzunähern muss man die Entwicklung der Produktivkräfte erreichen. Das, was Marx nicht beantwortete, weil er es nicht konnte, war, durch welche Institutionen, durch welche Mechanismen man die Integration von Zivilgesellschaft erreichen konnte. Dies konnte keinen Platz in seinen Reflexionen haben, da er sie niemals im Plan einer Utopie vorsah, auch wenn er gut ist, seine Bewertungen über die Pariser Commune, die in seinem Werk über die französischen Bürgerkrieg erschien, zu betrachten.
Marx warnte vor dem Risiko der Versklavung bei einer Weigerung zwischen Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft zu unterscheiden. Das bedeutet, dass Marx fürchtete, dass gerade mit der Eliminierung der zivilen bürgerlichen Gesellschaft es zu einer Unterdrückung des Individuums kommen könnte, zu einer Unterdrückung der Persönlichkeit und einer Invasion der Institutionen, staatlicher und politischer Art in die individueller Ordnung. Es war notwendig, den Dualismus Arbeiter – Bürger, Gesellschaft – Staat, Privatsphäre – öffentliche Sphäre zu überwinden, aber es gab ein wirkliches Risiko in der Möglichkeit der Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit durch den Staat.
Was machte der reale Sozialismus? Bei seinem Vormarsch musste er die Basis der bürgerlichen Zivilgesellschaft ausschalten. Aber bei diesem Ausschalten beseitigte man die Beziehung Individuum – Gesellschaft, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis; die Wechselbeziehung von Privatsphäre und öffentlichem Leben blieb ohne Lösung und was noch schlimmer ist, als dass man das Problem nicht gelöst hatte war, dass man annahm es gelöst zu haben.
Man erklärte eine neue Demokratie erreicht zu haben, man glaubte bei der Demokratie des ganzen Volkes angelangt zu sein, man ging davon aus, das Individuum hätte in diesem System die Freiheit erreicht, und das war nicht so, es ging nicht über das Papier und die Absicht hinaus, genauso wie es nicht über die subjektive Absicht hinausging, genauso wie es nicht über die subjektive Absicht hinaus ging, die besagte, man hätte die Etappen zur Realisierung der sozialistischen Gesellschaft überwunden und befände sich auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaft. Das Problem wurde nicht von dieser Gesellschaft gelöst und weil sie dies gerade nicht machte, förderte sie eines der Elemente, die sie zerstörte. In diesem bürokratischen Staatsapparat, der über den realen Interessen der Mehrheit stand, lag einer der Risikofaktoren des realen Sozialismus.
Wie analysiere ich das Problem in Bezug auf unser Land? Unbestritten sind wir auch Teilnehmer dieses gescheiterten sozialistischen Experiments, das ist kein Vergehen, jede Gesellschaft sucht einen Bezug. Als man den Unabhängigkeitskrieg durchführte suchte man seinen Bezug in der Französischen Revolution, welche die fortschrittlichste soziale Bewegung der Geschichte war. Als man die sozialistischen Revolution machte, nahm man die sozialistischen Gesellschaften als Bezugspunkt. In unserem Fall ist meiner Meinung nach in der Literatur nicht tiefgehend analysiert worden, wie wir die alte Zivilgesellschaft zerstört haben. Ich glaube, dass es wichtige Arbeiten gibt, die sich mit dem Problem auseinandersetzen.
Uns beschäftigen neue Phänomene, aber nicht die Umwandlung eines Phänomens, das in Cuba besondere Wichtigkeit hat, und das ist der Übergang der Volksmassen hin zu den revolutionären Massen. Wir müssen noch untersuchen, wie sich dieser Prozess vollzog, bei dem die Gesellschaft praktisch fast völlig die Rolle der politischen Entwicklung, der politischen Aktion übernahm, die Entscheidungen traf, und die Umwandlung herbeiführte. Ich glaube, dass dies ein sehr wichtiger Moment ist, der weit von den Erfahrungen anderer Länder auseinanderliegt.
Außerdem scheint mir, dass mit all den Kategorien, die wir benutzen, wenn wir von politischer Organisation der Gesellschaft sprechen, wir den Irrtum begehen, nicht zu analysieren, wie sich die Gesellschaft in unserem Land ohne Opposition Zivilgesellschaft – Staat organisierte. Es gab eine Identifikation von Interessen, die bewirkte, dass die Menschen sich in den Milizen organisierten um ihre Revolution zu verteidigen, da damals schon die Armee nicht die selbe Konnotation hatte wie in anderen Ländern; die Gesellschaft organisierte sich um zu alphabetisieren, zu den großen historischen Aufgaben der Umwandlung. Es war dies nicht das Werk einer Gruppe, einer Avantgarde, sondern von organisierten Massen, die sich wirklich in einen Prozess der aktiven Teilnahme einfanden und, das scheint mir entscheidend, eine genau determinierte psychosoziale Identität annahmen, das, was wir als revolutionäres Bewusstsein bezeichnen, der Mensch was Subjekt dieser Umwandlungen.
Aber ich stimme mit allen Vorrednern überein, dass es in Cuba Bedingungen für die Wiederherstellung der Zivilgesellschaft gibt, und diese Bedingungen, die in unserem Land bestehen, tun dies nicht, weil irgendjemand das will, sondern es handelt sich dabei um einen objektiven Prozess. Es ist nicht so, dass man uns das Thema Zivilgesellschaft auferlegt hätte, es ist vielmehr so, dass sich eine Differenzierung ergibt, es entsteht eine Distanzierung zu bestimmten Sektoren und mit scheint, dass bei allen diesen Bedingungen, das größte Problem in der Wiedererstehung der Privatinitiative besteht. Die Tatsache, dass man juristisch neue Formen der Produktion gutheißt, die Umwandlung beim Eigentum mit sich bringen, führt zum Entstehen der Privatinitiative und somit zu einer Veränderung der Mentalität und die Gesellschaft wehrt sich gegen diese Veränderung, weil sie sie als schädlich betrachtet, weil sie ihre Werte verletzt und das ist das große Thema in das wir geworfen sind, das Problem der Werte.
Wo finde ich diese Phänomene verzeichnet? Zunächst in der Dualität der Wirtschaft, die ein Sprengsatz bei dieser Veränderung der Mentalität ist. Es gibt eine Änderung in der Struktur der Chancen und beim Zugang zu sozialen Beziehungen nicht durch Studium und Arbeit, es gibt Aktivitäten, die nichts mit kreativer Arbeit zu tun haben und die den Zugang zu Status und Wohlstand ermöglichen. Und – Marx sagt – dass ein kleines Volk kleine Häuser hatte und alle Welt gut mit den kleinen Häusern lebte, aber eines Tages baute ein Nachbar einen großen Palast und so wollten die Leute aus dem Volk nicht mehr in ihren kleinen Häusern wohnen, sondern auch große Paläste haben und ich glaube wirklich, dass dieses Phänomen in unserer Gesellschaft kreist; in diesen Elementen der Veränderung gibt es eine Verdrehung der sozialen Verdienste und diese Verdrehung hat nichts mit der Arbeit als Zentrum der Bewertung zu tun. Und natürlich, als Auswirkung dieses Problems entstehen soziale Dysfunktionen, soziale Anomalien, wie ein Anstieg von Selbstmord, Mord, Totschlag, Prostitution, Auswüchse von Phänomenen, die in unserer Gesellschaft überwunden waren.
Es scheint mir außerdem, dass wenn wir das ganze Problem auf die Sonderperiode schieben, wir die Analyse zu eng anlegen. Es gibt bereits in den Jahren 87, 88 und 89 Untersuchungen, die besagen, dass die neuen Generationen beginnen, sich von der aktiven Beteiligung zu distanzieren. Es hatte wegen des formalen Charakters vieler Aktivitäten eine Distanzierung begonnen, vor allem bei der jüngeren Generation. Auch das Anwachsen des individuellen Interesses was schon vor der Sonderperiode zu erkennen und notwendigerweise trug dies auch dazu bei, dass es nötig gewesen wäre für den Staat sich davon zu distanzieren und eine entsprechende Politik anzuwenden, was nicht geschah. (…)
Wenn dem so ist, sind diese Elemente, die ich erwähnt habe nicht systemisch und führen nicht zu mehr Sozialismus und auch nicht zu einer gerechteren Gesellschaft, die nicht die ist, welche wir anstreben und deshalb ist es äußerst legitim, dass man dies hier nicht ausgebreitet hat und dass man diese Prozesse notwendigerweise regulieren muss. Es hat sich dafür ein großer Bedarf angesammelt, und der Mensch muss Auswege suchen, um Lösungen für seine Lage zu finden.
Als die Revolution siegte, veränderten sich auch die ökonomischen Beziehungen, der Staat konnte wirklich eine Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen geben und so entfremdete sich er Mensch nicht vom Staate, sondern im Gegenteil, er brachte sich in die Politik ein, und dies war kein Phänomen, dass man ihm auferlegte, sondern es war ein Ergebnis der Entwicklung unserer Gesellschaft, später gab es die Beziehung zwischen den organisierten Massen und dem Staat in Cuba – ein natürliches Ergebnis der Revolution. Was der Feind möchte ist klar: die Distanzierung, die die Basis der Opposition ist, um damit die Zerstörung unseres politischen Systems von innen heraus zu erreichen.
Die cubanische Zeitung Ciencias Sociales hat einige Arbeiten zum Thema „Zivilgesellschaft“ veröffentlicht in der Hoffnung einen Beitrag zu der Debatte leisten zu können, die heute allerorts vonstatten geht. Sie widerspiegeln den Inhalt einer Gesprächsrunde, die im Institut für Philosophie zu diesem Thema stattfand.
Romelia Pino Freyre
CUBA LIBRE 3-2001