Nein, Elián wird in Florida nicht leiden

Florida ist nicht schlecht. Die Gegend um Miami gilt als Urlaubsparadies (und auch Rentnerparadies). Wenn es auch für manche zu heiß ist im Sommer und im Herbst Orkane drohen – diese Schwächen bestehen genauso in Cuba.

Obwohl die Erfahrung lehrt, dass die vorzüglichen Bedingungen für manchen Medienstar schnell absinken, sobald Fotografen und Journalisten wieder anderen Zielen nachjagen, so kann ich mir doch vorstellen, dass der kleine Elián in Florida weiterhin recht gut leben könnte. Er wird vielleicht mit relativem Reichtum gesegnet und mit der – allerdings zweifelhaften – Liebe seines Großonkels oder anderer von Cuba abgewanderter Verwandten. Also mutmaße ich dass Elián, wenn er bleiben müsste (was jeden Tag entschieden werden kann), nicht sonderlich zu leiden hätte.

Trotzdem beunruhigen mich verschiedene Vorstellungen. Gewiss, die Erinnerung des kleinen Elián an das im Boot und Wasser so fürchterlich Erlebte kann vielleicht immer mehr verblassen – wie glücklicherweise bei vielen jungen Kindern. Auch an die verlorene Mutter. Aber: Wie gut würde es ihm nach all dem Kummer tun, in die Arme des liebevollen Vaters zurückkehren zu dürfen! Nach wenigen Monaten und bei entsprechender Behandlung wird jedoch auch die Erinnerung an den in Cuba lebenden Vater, die beiden Omas, die ihn nur kurz besuchen durften, die Großväter, die Freunde und Freundinnen aus seiner Straße und der Schule, jetzt schon überlagert durch den täglichen Umgang mit einer neuen Familie und mit anderen Kindern. Allein der Schmerz des Vaters und der Großelternpaare verschwindet nicht so schnell. Ihnen kann nie ein anderes Söhnchen oder Enkelkind die Erinnerung an Elián verdrängen. Es ist ein bleibender Schmerz.

Ein weiterer Gedanke: Der Fall Elián wird zum Präzedenzfall. Nicht, dass es der erste Fall wäre, bei dem politische Motive zur Familientrennung geführt hat; die Welt hat zu viele solcher tragischen Geschichten gesehen. Doch dieser jetzt so berühmt gewordene Fall macht es in Zukunft noch leichter, Ähnliches zu wiederholen – und schwieriger, im Sinne von Kindern und Eltern, ohne Rücksicht auf bürokratische Gesetze oder politische Gründe zu entscheiden. Das 'Nationale Zentrum für Vermisste und Ausgebeutete Kinder" schätzt, dass von den jährlich etwa 165.000 Fällen von Entführung durch Elternteile wohl 10 Prozent Kinder betreffen, die ins Ausland gebracht werden. Ein Artikel in der 'Washington Post' (nachgedruckt in der 'International Herald Tribune' 4.2.00) schildert zwei solcher Fälle: einer betrifft die kleine Tochter eines Amerikaners, dessen Frau unter dem Druck ihrer Mutter das Kind nach Deutschland entführt hat weil ihr die USA nicht gefielen, im zweiten Fall ging es um die Tochter eines Amerikaners, dessen japanische Frau ihn für einen anderen in Japan – mit dem Kind – verlassen hat. In beiden Fällen dürfen sie die Kinder nicht einmal besuchen.

"'Ich würde es als Ohrfeige empfinden, wenn Elián nicht herausgegeben wird,"sagte der Vater des einen Kindes. 'Von meiner Perspektive hat Eliáns Mutter mit ihrem Freund genau das getan, was meine Frau tat – sie nahm das Kind ohne die Erlaubnis oder das Wissen des Vaters. Elián hier zu behalten würde uns zu weit zurückwerfen.'"

Die Zeitung schrieb weiter:

"Die meisten Eltern, die für diesen Artikel angesprochen wurden, sagten, die fürchteten das öffentliche Parallelen-Ziehen zwischen den eigenen internationalen Auseinandersetzungen um das Sorgerecht und dem Fall von Elián, dessen Großonkel vorgeblich einfordert, dass er in einem freien und wohlhabenden Land bleiben solle. Dieser Disput wurde viel zu sehr politisiert, meinen sie. Manche fügen hinzu, dass auch ihnen gesagt worden war, ihr Sohn oder ihre Tochter müssen in einem anderen Land bleiben, weil es dort besser wäre".

Ein dritter Grund, weshalb es so bitter wäre, wenn die Gerichte und auch etliche Abgeordnete und Senatoren in diesem Fall die Entscheidung des Justizministeriums außer Kraft setzen würden, besteht darin, dass eine solche Entscheidung keinesfalls von der Sorge für Elián, sondern nur vom Haß gegen Cuba diktiert wird. Nicht Elián helfen, sondern Cuba schaden – das ist hier das maßgebliche Ziel!

Bei dem Großonkel und seiner Familie besteht möglicherweise das Sentiment, das in einem geteilten Europa und auch Deutschland so oft festzustellen war: Leute, die aus 'dem Osten' ausgewandert waren, fühlten sich der neuen Heimat verpflichtet – und sicher aus dem eigenen Selbstgefühl – wenn sie das Land von dem sie weggezogen waren nur mit den grauen oder schwarzen Tönen der Farbpalette malten, jegliche bunten Farben leugneten oder auch wirklich vergessen hatten. Sei es ehrlich, sei es nur vorgeblich und/oder unter dem Druck der exilkubanischen Gruppen, sie meinen, dass es Elián in Florida besser haben wird. Sie denken dabei an das Materielle. An die Liebe seines Vaters und der Großeltern wollen sie gar nicht denken – für sie stellen diese nur das lange verlassene Cuba dar, verkörpern das Bild einer unglücklichen Insel mit einem böse erscheindenden Fidel Castro, das sie täglich in den Meiden präsentiert bekommen.

Und somit komme ich zu meiner letzten Überlegung. Gewiss, die meisten Kinder in den USA haben es materiell besser als die meisten Kinder in Cuba – ob es die Lebensmittel betrifft, die Wohnverhältnisse, allerlei technisches Gerät von Computern mit Internetanschluss bis hin – wenn sie alt genug sind und zu den Wohlstandsbürgern gehören – zum eigenen Auto. Und nicht zu vergessen, bei den 'richtigen' Eltern, sogar bis zu den eigenen Schusswaffen!

Allerdings stellt sich die Frage, ob sie es trotz aller dieser Vorteile wirklich besser haben. Man darf nicht einzig und allein vom Fall Elián ausgehen, denn dieses eine Kind bleibt immer eine Ausnahme, da er – zumindest jetzt – im Mittelpunkt steht. Gewiss, in den USA gehen die Kinder auch in die Schule, wo manche sehr vieles lernen. Doch warum nehmen immer mehr Eltern ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen, um sie in private oder kirchliche Schulen zu schicken? Und wie geht es den Kindern, die in den öffentlichen Schulen geblieben sind? Was lernen sie? Wieviele bleiben beinahe analphabetisch? Wer die glücklichen Kinder einer Schule auf Cuba getroffen hat, wird darüber nachdenken müssen.

Die USA haben vielleicht die modernsten Krankenhäuser und Therapiemethoden der Welt. Elián könnte – im Krankheitsfall – vielleicht die bestmögliche Behandlung bekommen. Doch wieviele Kinder in den USA sind nicht einmal ärztlich versichert – und ihre Eltern können die ungeheuren Summen der Behandlung nicht bezahlen? Sie sind auf drittklassige Behandlung für Mittellose angewiesen. Darf man die Millionen von unversicherten Kindern in den USA vergessen, wenn man an einen einzelnen denkt? Wer die kostenfreie Behandlung aller Kinder in Cuba erlebt hat, wird sich auch hier seine eigenen Gedanken machen.

Wie ist es mit dem geistigen Wohlstand? Gewiss, pauschal darf man gar nicht urteilen. Es gibt viele schöne Erlebnisse und viele Millionen netter Leute in den USA. In Cuba gibt es gewiss auch Bedenkliches, besonders unter der erzwungenen Knute des Dollars und der Doppelwährung in den letzten Jahren – bedingt durch die von den USA durchgesetzte Wirtschaftsblockade. Doch die idealisierte Gewalt in den US-Medien, zusammen mit dem erleichterten Zugang zu Waffen jeglicher Sorte, hat zu einer zunehmenden Zahl von Tragödien geführt, die einen doch bedenklich stimmen. Das gleiche gilt für die Beweihräucherung und die Macht des Geldes in den Händen einer kleinen Gruppe, die in erstaunlich umfangreichem Maße egoistisch über das Schicksal der anderen bestimmen. Das tun sie in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik und der Kultur.

Ja, es gibt sehr vieles zu bedenken. Vor allem, dass der Fall Elián benutzt wird, in dem nunmehr fast ein halbes Jahrhundert andauernden Versuch, ein tapferes Experiment an Gleichheit und Unabhängigkeit kaputtzuschlagen. Dazu – und aus keinem anderen Grund – wird von den Richtern, den Senatoren und den Medienzaren der Fall Elián mißbraucht. Er muß auch deshalb endlich auch nach Hause dürfen.

CUBA LIBRE Victor Grossman

CUBA LIBRE 2-2000