Im Dezember ist es in Havanna zu wütenden Massenkundgebungen vor dem Gebäude der Ständigen Vertretung der Vereinigten Staaten von Amerika gekommen. Was war der Anlass?
Am 22. November wurde beobachtet, wie ein Motorboot von Cárdenas (Provinz Mantanzas) aus in See stach mit dem offenkundigen Ziel, die Küste Floridas zu erreichen. Um keine Havarie des Bootes zu riskieren, verzichteten die cubanischen Kontrollorgane darauf einzugreifen sie verständigten statt dessen die US-amerikanische Küstenwache von dem Vorgang.
Am 25. November wurde den cubanischen Behörden mitgeteilt, das Boot sei in den Gewässern Floridas gekentert und man habe lediglich drei der ursprünglich 14 an Bord befindlichen Personen lebend geborgen – u.a. einen kleinen Jungen der, an einen Luftreifen gebunden, drei Tage lang hilflos umhergetrieben sein muss, bevor man ihn fand. Es ist dieser kleine Junge – der fünfjährige Elián González Brotón – der unfreiwillig dafür gesorgt hat, dass aus der stillen Tragödie eine laute wurde.
Um den Vorfall richtig einschätzen zu können, müssen wir uns noch einmal an die Balsero-Krise 1994 erinnern, eine Krise, die seinerzeit durch die USA selbst provoziert und gefördert wurde. Als die Zahl der illegalen Emigranten auf ihren wackligen Eigenbau-Flößen überhand nahm (nach Empfinden der Vereinigten Staaten, die plötzlich vor den Früchten ihrer eigenen Propaganda erschraken) kam es zum sog. Migrationsabkommen zwischen Cuba und den USA, in dem sich letztere u.a. verpflichteten, durch die eigene Küstenwache aufgegriffene Balseros wieder nach Cuba zurückzubringen. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Der "Cuban Adjustment Act", nach dem cubanischen Flüchtlingen, die es irgendwie schaffen US-amerikanischen Boden zu erreichen, Bleiberecht gewährt wird, blieb weiterhin in Kraft.
Dies hatte das Entstehen von Schlepperbanden zur Folge, die von Miami aus mit Schnellbooten operieren – zu einem Pro-Kopf-Preis von etlichen tausend Dollar. Da Geldgier das verlässlichste Merkmal dieser Elemente ist, sind die zu diesem Zweck verwendeten Boote in der Regel hoffnungslos mit Passagieren überladen, und Dramen wie das oben geschilderte hat es in der Straße von Florida schon des öfteren gegeben, ohne dass die Welt davon erfuhr. Aber nun gibt es einen kleinen Jungen, und der macht den ganzen Unterschied. Seine Mutter (und ihr Freund, der das Unternehmen organisiert hatte) ist bei dem Schiffbruch ertrunken. Es gibt jedoch Miami-Cubaner, die Elián bei sich aufnehmen wollten. Ihnen zur Seite steht der Dachverband aller anticubanischen Reaktionäre, die "Fundacion Nacional Cubano Americana", die (natürlich nur von Gefühlen lauterster Nächstenliebe geleitet) das Verbleiben des Jungen im "Land der Freiheit" reklamiert.
Es wäre fast wie im Märchen, wäre da nicht noch der leibliche Vater des Jungen, der in Cuba lebt, von dem Entführungskomplott keine Ahnung hatte und nun die Rückgabe seines Sohnes fordert. Doch was die cubanischen Behörden ohne Zweifel zunächst – ungeachtet der persönlichen Tragik des Jungen – als reine juristische Formsache ansahen, hat sich zu einer medienwirksamen politischen Hängepartie entwickelt.
Und was macht das Deutsche Fernsehen daraus?
Ein sichtlich aufgewühlter, sichtlich um Fassung ringender Fidel Castro, der, in martialisches Olivgrün gewandet, ein 72-Stunden-Ultimatum in die hingehaltenen Mikrophone bellt. Schnitt. Ein Sprecher des State Department, wie aus dem Ei gepellt, der völlig entspannt und 'sotto voce' zu bedenken gibt, die Haltung des cubanischen Präsidenten sei bei der Lösung dieses ernsten Problems "wenig hilfreich".
Da merkt man als Tagesthemenzuschauer doch gleich wo die Zivilisation waltet und wo der kleine Elián höchstwahrscheinlich besser aufgehoben wäre.
Deutsches Fernsehen ist so. Das ändern wir nicht mehr.
Betrachten wir noch einmal die Fakten: ein Kleiner Junge wird – jäh herausgerissen aus allem, was ihm in seinem kurzen Leben vertraut war – zur Teilnahme an einem unverantwortlichen Himmelfahrtskommando vergewaltigt, das in einer Katastrophe endet. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, was er in seinen drei Tagen des Grauens durchlitten haben muss – traumatisiert durch den Verlust der Mutter, durch totale Einsamkeit, durch Hunger, Durst, Kälte und Finsternis.
Alle seine primären Bezugspersonen leben in Cuba: sein Vater, seine Großeltern mütterlicherseits, seine Spielgefährten. Sie alle kämpfen darum, dass er zurückkehre in jene Welt, die seine Welt war vor dem Alptraum. Und dass sie darum KÄMPFEN müssen, ist das eigentlich Ungeheuerliche. Während sie dies tun, gibt es in Miami Leute, die Elián einen Baseballschläger in die Hand drücken und ihn auffordern, damit zu posieren in eine Fernsehkamera zu grinsen.
Ich wünsche uns allen ein wenig von dem Zorn und der Empörung der Menschen die zu Hunderttausenden um seinetwillen in Havanna auf die Straße gehen.
R.+U. Fausten
CUBA LIBRE 1-2000