Kuba als Initiator und Promotor des unabhängigen Films in Lateinamerika

Aufschwung

Entwicklung und Problematik des neuen lateinamerikanischen Films sind nicht zu verstehen, ohne einen blick auf die jeweiligen Produktions- und Vertriebsstrukturen der kubanischen Kinematographie und den politischen Hintergrund zu werfen. Die äußerst wichtigen Beiträge des kubanischen Kinos zur Verbreitung einer alternativen Filmpolitik gegen die nordamerikanische Vorherrschaft in Lateinamerika manifestieren sich in der Erscheinung des ICAIC, des Filmfestivals von Havanna und der Errichtung der Film- und Fernsehhochschule in San Antonio de los Baños. Die Filmentwicklung Kubas seit Anfang der 60er Jahre ist repräsentativ für den lateinamerikanischen Prozeß der Ablösung von der ästhetischen "Diktatur" des Hollywood-Kinos.

Vergebliche Versuche zur Entstehung einer eigenen Filmproduktion

Wenn man auf die Zeit des frühen kubanischen Kinos zurückblickt, ist hervorzuheben, daß sich keine eigen Filmindustrie etablieren konnte, obwohl schon 1898 ein erster Film auf Kuba gedreht wurde und bis Anfang der 30er Jahre 50 Filme mit viel Publikumserfolg entstanden. Trotz der Versuche des bedeutendsten Stummfilmregisseurs Kubas Enrique Díaz Quesada, eine kubanische Kinematographie zu begründen, entwickelte sich während der 20er und 30er Jahre keine kontinuierliche nationale Filmproduktion, weil es weder staatliche Unterstützung noch Gesetze zu ihrem Schutz gab. Darüber hinaus wurden in den meisten filmen, die später von anderen Regisseuren wie Ramón Peón gedreht wurden, nicht kubanische Ereignisse verarbeitet, sondern es wurden populäre Themen ausländischer Filme, insbesondere aus den USA aufgegriffen. In einem Interview mit Peter B. Schumann erläutert der kubanische Regisseur Tomás Gutiérrez Alea, daß es vor der Revolution in Kuba praktisch keine Alternative zur kommerziellen US-Filmproduktion gab und Kuba eine Art Naturkulisse für die nordamerikanischen Produzenten war:

… alle Kinos dienten den Interessen der Nordamerikaner, zeigten ihre Filme. Man kann sogar sagen, daß es in Kuba praktisch nur filme eines einzigen Landes zu sehen gab: der USA. Denn die wenigen, die aus Mexiko und aus Europa kamen, fielen nicht ins Gewicht. Diese Situation blockierte die Entstehung eines nationalen Kinos (…)

(…) sie (die nordamerikanischen Filmfabrikanten) fanden hier eine exotische Landschaft, Folklore, historische Bauwerke und vor allem niedrige Kosten. Dennoch blieben diese Produktionen sporadisch und führten zu keiner Stabilisierung der einheimischen Filmproduktion … (Schumann 1976,118)

Es bedurfte noch weiterer 30 Jahre und scheinbar einer Revolution bis eine nationale und unabhängige Filmbewegung möglich wurde.

Erste Anfänge einer neuen unabhängigen Filmbewegung

Julio García Espinosas und Tomás Gutiérrez Aleas erster längerer Film El Mégano (Das Köhlerdorf) aus dem Jahr 1955 gilt heute als der Ausgangspunkt für die Gründung des neuen kubanischen und lateinamerikanischen Kinos. Dieser Dokumentarfilm über Elend, Ausbeutung, Hunger und Machtlosigkeit der Köhler im Zapata-Sumpfgebiet, südlich von Havanna, wurde von der Polizei der Batista-Diktatur beschlagnahmt und seine Regisseure wurden verhaftet. Warum hatte dieser Dokumentarfilm die Regierung von Fulgencio Batista so provoziert? El Mégano zeigt Köhler, die den ganzen Tag im schlammigen Wasser stehen und nach Holz suchen, um es dann zu Holzkohle zu brennen. Die unzureichenden Arbeitsbedingungen und die ungerechte Bezahlung werden thematisiert. Am ende liegt eine Revolte in der Luft, aber sie findet nicht statt.

Der Einfluß des "italienischen Neorealismus"

Die Machart von El Mégano, der neben den Filmen Rio, 40 Graus (Rio bei 40 Grad, 1955) des Brasilianers Nelson Pereira dos Santos und Tire dié (Werfen Sie einen Groschen, 1958) des Argentiniers Fernando Birri den Beginn des neuen lateinamerikanischen und engagierten Kinos markiert, unterstreicht die indirekte soziale und politische Anklage dieses Films und bekundet den nachhaltigen Einfluß des italienischen Neorealismus auf die neuen lateinamerikanischen Filmemacher: Originalschauplätze und keine aufwendigen Studios à la Hollywood, Arbeit mit Laiendarstellern, Vereinfachung der Technik wie beispielsweise die entfesselte Kamera (die Kamera ohne dolly), Ideen statt platter Unterhaltung und das Volk als wahrer Protagonist. Der italienische Nachkriegsfilm, bekannt als der Neorealismus, und die Maxime der Wirklichkeitstreue des Mentors dieser Strömung, Cesare Zavattini, waren entscheidend für die Entstehung eines authentischen nationalen Films in Lateinamerika, der zum ersten Mal internationales aufsehen erregte. Anfang der 50er Jahre besuchten Julio García Espinosa und Gabriel García Márquez Zavattinis Centro Spermitale die Cinematografia in Rom. Ihre überschwengliche Bewunderung für die neue Filmästhetik, die Zavattini proklamierte, implizierte ihre Abneigung gegenüber dem "schädlichen" Eskapismus des publikumswirksamen Hollywood-Films sowie des alten Kinos in Lateinamerika (rancheras in Mexiko, eine tango in Argentinien, chanchadas in Brasilien und eine postal in Chile), das ihrer Meinung nach ein falsches Bild der Realität in Lateinamerika propagierte, indem es unreflektiert die fremde und offizielle Kultur Nordamerikas importierte. Das alte Kino in Lateinamerika versuchte, Elend, Hunger, Unterentwicklung, Ausbeutung und Gewalt mit "rosaroten Farben des kapitalistischen Kinos" zu vertuschen. Dennoch fanden die alten Kinematographien viel Resonanz beim einheimischen Publikum.

Der erste Schritt zur Entwicklung einer unabhängigen Filmpolitik: das ICAIC

Die grundlegende Voraussetzung für eine unabhängige Filmbewegung schafft Fidel Castro schon kurz nach seinem Einzug in Havanna durch die Errichtung des staatlichen ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos), des Institutes für Filmkunst und Filmindustrie. Das ICAIC sorgt für alle Aspekte der Filmherstellung: Die Finanzierung, die Produktion, die Ausstattung und den Verleih nicht nur kubanischer Filme. Aufgrund der technischen Defizite – bis Mitte der 70er Jahre war es zum Beispiel nicht möglich, in Kuba Farbfilme zu entwickeln: die Filme wurden in schwarz-Weiß gedreht – wurden kubanische Filmemacher gezwungen, Alternativen zu finden, die es ermöglichen, die Industrialisierung und Professionalisierung voranzutreiben. Es gab strenge Zeitpläne, nach denen die Dreharbeiten geplant wurden, um den Zeitbedarf so gering wie möglich zu halten und die Produktionsmittel ökonomischer einzusetzen (Schumann, 1976, 127)

Der Aspekt der Vertriebskanäle stand auch im Mittelpunkt der Aufgaben des ICAIC. Die sogenannten mobilen Kinos, mit denen die kubanischen Filmemacher die abgelegensten Orte (Schulen und Gewerkschaften) erreichten, wo es weder Kino noch Fernsehen gab, entsprachen der revolutionären Intention, im breiten Publikum eine Kinokultur zu entwickeln und ein kritisches soziales Bewußtsein zu fördern. Neben diesem Versuch mit den mobilen Kinos entstanden die Filmsendungen im Fernsehen, die als "audiovisuelle Alphabetisierung" bezeichnet wurden. Es ging darum, das Publikum ausführlich über das Filmsystem zu informieren. Dann gab es eine zweite praxisorientierte Phase, die darin bestand, das Publikum mit dem filmischen Medium selbst vertraut zu machen (Schumann, 1976, 132)

Mit der Hilfe des ICAIC wurden insbesondere Dokumentarfilme und die sogenannte Kino-Wochenschau von Santiago Alvarez (Noticiero ICAIC Latinoamericano) produziert, weil sie mit der neuen Filmästhetik einer Authentizität und Vereinfachung korrespondierten.

In diesem Zusammenhang fanden die Grundideen des neuen lateinamerikanischen Films ihren programmatischen Niederschlag in den theoretischen Arbeiten von "rebellischen " Regisseuren wie Glauber Roche aus Brasilien, Fernando Solanas aus Argentinien und García Espinosa aus Kuba. Espinosas Essay "Por un cine imperfecto" (1969, "Für ein nicht perfektes Kino"), das 1971 von der Filmzeitschrift Cine Cubano publiziert wurde, erweist sich beispielsweise als Plädoyer für die Abschaffung des sogenannten Starsystems sowie extrem aufwendiger Werbekampagnen, die für Hollywood charakteristisch sind. Die essentielle Aufgabe besteht für Espinosa darin, die Unersetzbarkeit der modernen Filmtechnik á la Hollywood zu entmystifizieren. Es wird von Espinosa hier betont, daß nicht nur aus ideologischen Gründen (die Armut in den Ländern) sich der lateinamerikanische Regisseur für die Vereinfachung der Filmausrüstung entscheiden sollte. Im selben Interview mit Peter B. Schumann erwähnt Gutiérrez Alea unter den Vorzügen des Dokumentarfilms seine Vereinfachung:

Der Dokumentarfilm hat bei uns sofort ein viel autonomeres Leben entwickelt als der Spielfilm, vielleicht wegen seiner handlicheren Ausrüstung, die ihm eine größere Mobilität (vgl. die mobilen Kinos) erlaubte und dadurch eine direktere und dynamischere Beziehung zur Realität ermöglichte. In den ersten Jahren war unsere Wirklichkeit sehr bewegt, sehr reich an Ereignissen, au gewaltigen Veränderungen. Man brauchte nur auf die Straße zu gehen und loszudrehen. Da konnte man ein vitales, direktes, organisches Kino machen. Die Wirklichkeit lieferte alles und forderte den Dokumentaristen heraus … (Schumann, 1976, 134).

Unter dem Einfluß des didaktischen Dokumentarfilms drehten kubanische Regisseure wie Tomás Gutiérrez Alea, Julio García Espinosa, Humberto Solas und Manuel Octavio Gómez Spielfilme, die durch die Fusion bzw. die Gleichgewichtung von Fiktion und Realität gekennzeichnet waren. In diesem Zusammenhang stand die minutiöse Aufarbeitung der eigenen Geschichte im Mittelpunkt: beispielsweise die Sklaverei durch die spanischen Besitzer der Zuckerrohr-Plantagen, die ersten Befreiungskämpfe gegen den spanischen Kolonialismus im ausgehenden 18. Jahrhundert, das rigorose Regime von Machado während der 30er Jahre, die Diktatur von Fulgencio Batista (1933-1958), Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den USA (1961), Ausschluß Kubas aus der Organisation der Amerikanischen Staaten, die Invasion in der Schweinebucht (ein von der CIA unterstützter Invasionsversuch Kubas durch kubanische Exilanten und Söldner, der fehlschlägt) und die Oktober-Krise im Sommer des Jahres 1962 (der weltpolitische Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion wegen der Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba).

Zwischen 1967 und 1969 erreichte der kubanische Filn sienen ersten internationalen Höhepunkt mit vier Beiträgen: Las aventuras de Juan Quinquin von García Espinosa (Die Abenteuer des Juan Quinquin, 1967) – der Film hatte in Kuba 2,1 Millionen Zuschauer und war einer der größten Publikumserfolge -, Memorias del subdesarollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung, 1968) von Alea Luciá (1968) von Solás und La primera carga al machete (Die erste Schlacht mit der Machete, 1969) von Octavio Gómez. Bei Luciá von Solás geht es um eine Frau, deren sukzessive Emanzipation von den vielfältigen Strukturen der Unterdrückung (Männlichkeitskult und traditioneller Katholizismus) mit dem politischen Erwachen Kubas korrespondiert.

Während der 60er Jahre entstanden andere ähnliche lateinamerikanische filme dank der finanziellen Unterstützung des ICAIC, die wiederum internationales Aufsehen erregten. Aufgrund seiner großen Bedeutung wurde das ICAIC von Regisseuren wie Fernando Birri aus Argentinien und Miguel Littín aus Chile als "Wiege des neuen lateinamerikanischen Films" bezeichnet (Kochenrath und Schröder, 1995).

Fortsetzung im nächsten Heft

Quellenhinweise:

Cabezón Doty, Claudia. Literatur und Film Lateinamerikas im internationalen Dialog. Dissertation im Fachbereich "Germanistik und Kunstwissenschaften" der Philipps-Universität Marburg, 1997.

García Espinosa, Julio. "Por un cine imperfecto" (1969) in Cine cubano, La Habana, 1971, Nr. 66/67, S. 46-53. Deutsche Übersetzung: "Für ein nicht perfektes Kino" in: Jahnke / Lichtenstein. Kubanischer Dokumentarfilm. Berlin/DDR, 1974, S. 31-46 in: Peter B. Schumann, Kino und Kampf in Lateinamerika, München und Wien: Carl Hanser, 1976, S. 20-38.

Kochenrath, hans Peter / Peter H. Schröder (Regie) Kuba und das Kino in Lateinamerika. Eine Dokumentation. Deutschland, 1995, 60 Min.

Lutterbeck, Bettina. "Das Publikum will heute eher genießen. Gespräch mit Bernd Wolpert" in: ila (Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika), Bonn Oktober 1995, Nr. 189, S. 46ff.

Mader, Ute. "Cuba in Tirol" in: ila (Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika), Bonn, Oktober 1995, Nr. 189, S. 14ff.

Roberto, Plácido. "Wei alles anfing. Der Stummfilm in Cuba". Deutsche Übersetzung: Karin Kantig in: ila (Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika), Bonn Oktober 1995, Nr. 189, S. 16ff.

Schumann, Peter B, "Cuba: Revolutionäres Kino im Sozialismus. Interview mit Julio García Espinosa und Tomás Gutiérrez Alea" in: ders. Kino und Kampf in Lateinamerika. Zur Theorie und Praxis des politischen Kinos, München und Wien: Carl Hanser, 1976, S. 117-141.


CUBA LIBRE Claudia Cazón Doty

CUBA LIBRE 2-1998