Herr Doktor Carlos Lage, vielen Dank dafür, daß Sie mir dieses Interview gewährt haben. Sie sind ein junger Politiker, der sowohl vom Alter her als auch hinsichtlich Ihrer intellektuellen Bildung aus dem System der kubanischen Revolution hervorgegangen ist. Sie hatten das höchste Amt in der revolutionären Jugendorganisation inne, und jetzt sind Sie ein hervorragendes Mitglied des Staatsrates, der Partei und der Regierung Kubas. Wie hat sich beim Durchlaufen der Strukturen des öffentlichen Dienstes Ihre persönliche Perspektive entwickelt?
In erster Linie muß ich der Dankbarkeit Ausdruck geben, die ich spüre, weil Du mir erlaubst, mich an das mexikanische Volk zu wenden – etwas, was für alle Kubaner angenehm ist, denn wir kennen die fruchtbaren Wurzeln unserer Geschichte, die auf dem Boden dieses Bruderlandes ernährt wurden, das uns deshalb sehr nah und sehr lieb ist. Um Deine Frage zu beantworten, muß man erst einmal daran denken, daß wir eine Zeit voller intensiver Tagesarbeit durchleben und unser Blick auf die Zukunft des Landes gerichtet ist. So bleibt sehr wenig Zeit, und man denkt kaum oder gar nicht an die persönlichen Perspektiven. Ich kann Dir versichern, daß sich mein Leben nach und nach kompliziert hat – ich könnte sagen, ohne daß ich es merkte. Ich habe Aufgaben erfüllt, die man mir übertragen hat. So hat sich meine persönliche Perspektive nach und nach erweitert. Früher als Vorsitzender der Studenten- und Jugendorganisation hatte ich sozusagen ein unvollkommenes Bild meines Landes. Im Laufe der Jahre erwarb ich logischerweise einen vollkommeneren, tiefgründigen Einblick in mein Land. Ich wollte Arzt werden wie mein Vater. Es waren eher sein Edelmut und der des Berufes, die mich auf diesen Weg brachten, als eine wirkliche Berufung. Diese kam aber mit der Zeit.
Schon als Student ließen meine Studienkollegen und die intensiven politischen Ereignisse Kubas andere Beweggründe in mir entstehen. So bestätigte der kollektive Wille mit jeder Etappe meinen persönlichen Entschluß. Sicher ist, daß ich mich an die Zeit, da ich meinen Beruf in einem Kinderkrankenhaus in Äthiopien ausübte, mit großer Genugtuung und einer gewissen Wehmut erinnere. Meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen und alle Menschen, zu denen ich Kontakt hatte, haben im großen Maße einen Einfluß darauf gehabt, was ich bin, denn ich denke, daß sich jeder Mensch durch seine Beziehungen zu anderen Menschen bereichert, und in meinem Fall habe ich das Glück gehabt, sehr wertvolle Menschen kennengelernt zu haben; dazu zählen meine drei Kinder. Es ist mir nicht möglich, Die in wenigen Worten zu erklären, was für meine Bildung als Mensch und Revolutionär – verzeih die Weitschweifigkeit – der Kontakt zu Fidel bedeutet hat. Und ich muß noch etwas hinzufügen, Mario.
Du weißt, wir Kubaner haben uns vorgenommen, eine Gesellschaft zu errichten, die sich völlig von denen unterscheidet, die die heutige Welt kennt und anerkennt. Diejenigen, die in meinem Land Führungsämter bekleiden, sind keine herkömmlichen Politiker, sondern Revolutionäre. Wir übernehmen Verantwortungen im Dienste des kollektiven Interesses, und eines Tages übergeben wir unser Amt, ohne daß es uns wehtut, ohne Ressentiments, um weiter als Revolutionäre zu wirken, und sei es in der bescheidensten Funktion. Unsere einzige wahre Berufung ist es, unserer Nation, unserem Land, unserem Volk zu dienen. Dies ist unsere Pflicht, und wie Martí sagte, erfüllen wir sie einfach und selbstverständlich. Aus diesem Grunde ist die Entwicklung meiner persönlichen Perspektive wirklich unwichtig.
Welche Bedeutung hat für sie als Führungskader und Kubaner, daß die vorhergehende Generation Ihnen diesen Raum gibt, und wie wollen Sie ihn nutzen? Nach dem Sieg der Revolution haben neben Ihnen einige andere junge Führungskader, wie Roberto Robaina, führende Funktionen im Land übernommen. Sie sind Vertreter einer anderen politischen Generation. Würden Sie sagen, daß hier nur Leute gewechselt wurden, oder handelt es sich um eine Erneuerung des Führungsstils und der Ideen über den Kurs, den die kubanische Revolution verfolgen soll.?
Nicht erst jetzt, Mario, gibt es in Kuba Beförderungen und Ablösungen. Der Prozeß der Einbeziehung neuer Kader war stets ein Wesensmerkmal der Revolution. Nicht alle, die an Bord der "Granma" stiegen, hatten am Sturm der Moncada-Kaserne teilgenommen, und in der Sierra Maestra schlossen sich dem anfänglichen Kern mit nur sieben Gewehren neue Kämpfer an. Die meisten, die die Schweinebucht verteidigten, sind nicht in der Sierra gewesen, und die junge Generation, die in Angola war, hat nicht in der Schweinebucht gekämpft. Ich betrachte die Generation, die die Revolution gemacht hat, nicht als "vorhergehende" Generation, sondern als eine gegenwärtige, gültige. Diese Generation war, als sie an die Macht kam, im allgemeinen seht jung. Denk daran, daß Fidel 1959 gerade 33 Jahre alt war, und es gab Minister, die 22 oder 25 Jahre alt waren. Die damals Ältesten hätte man in jedem anderen Land höchstens als reife Männer betrachtet. Von ihrem eigenen Ursprung und ihren eigenen Merkmalen her hatte die Revolution stets die Türen offen für die Jüngsten. Niemals hatte sie Angst vor der Jugend, weil die Jugend die Revolution gemacht hat. Auf diese Art und Weise leben und arbeiten jetzt Revolutionäre verschiedener Etappen zusammen, und das ist gesund und weise. Die Söhne lösen die Väter auf natürliche Weise ab, ohne jegliches Trauma. In seiner kurzen Geschichte hat der Sozialismus "Vatermorde" und Brüche gesehen, vielleicht aus Eigensinn, aus Egoismus oder aus Herrschsucht. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß der Sozialismus alle Möglichkeiten für die natürlichste nachfolge bietet. Ich kenne die Kubaner gut, dieses Volk, für das Martí – ein Mann aus vorigen Jahrhundert – nah und lebendig ist. Und ich bin sicher, daß sie niemals diejenigen, die ihr Leben dem Vaterland gewidmet haben, vergessen und noch weniger verraten werden.
Nun fragst Du Mich, wie die Jüngeren diesen Raum nutzen. Ich würde ganz allgemein sagen, daß sie ihn zur Fortführung, Verbesserung und Vergrößerung des begonnenen Werkes nutzen. Meine Generation ist mit dem gesunden Neid herangewachsen, nicht Teil der Legende der Moncada und der Sierra-Maestra gewesen zu sein, und jetzt hat sie das Gefühl, ihre Moncada-Kaserne stürmen, in ihrer Sierra-Maestra kämpfen zu können, indem sie das Meer von Problemen, dem wir gegenüberstehen, bekämpft. Man darf eine Revolution auch nicht wie ein Theaterstück sehen, in dem nach einem Akt der Vorhang fällt und der nächste beginnt. Ein revolutionäres Werk entwickelt sich auf einer offenen Bühne, auf der alle Teilnehmer gleichberechtigt, ohne Beachtung der Altersunterschiede, diskutieren, arbeiten und ihre Meinung sagen. In unserem Land gibt es viele junge Führungskader, in allen Sphären und auf allen Ebenen. Wie ich Dir schon sagte, ich betrachte uns nicht als eine "andere" Generation, sondern als eine Fortsetzung eines größeren gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses, welcher logischerweise die kurze Zeit eines Menschenlebens übersteigt und so tiefgründig ist, daß er nicht stehenbleibt. Natürlich bringt jeder Mensch seinen Stil, seine Energie, seine Ideen ein und das Leben selbst zwingt zu jedem Zeitpunkt zu unterschiedlichen Lösungen, denn jeder Moment ist durch unterschiedliche Probleme gekennzeichnet. In unserer Revolution werden die Ideen erneuert, bereichert, aber die Grundlagen, die Wurzeln, die politischen Voraussetzungen, die sozialistische Option, die vom Volke gewählt und von der großen Mehrheit angenommen worden ist, werden mit jeder Erneuerung konsolidiert.
Ihnen war es bestimmt, eine Konsolidierungsphase der kubanischen Revolution zu erleben, aber auch eine Phase der Wirtschaftskrise, die durch den Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Osteuropa und die Formalisierung der westlichen Wirtschaftsblockade durch das sogenannte Toricelli-Gesetz verursacht wurde. Manche meinen, daß Kuba heute ähnliche Probleme durchlebt wie in den 60er Jahren, mit dem Unterschied, daß damals von der UdSSR Hilfe kam, während heute das Ende des Kalten Krieges keine Alternative läßt. Wie bieten Land und Ihre Regierung diesen Mißständen die Stirn?
Von einem gewissen Gesichtspunkt her, Mario, hast Du völlig recht mit dem, was Du sagst, aber zum Glück gibt es nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Unterschiede zu den 60er Jahren. Wäre der europäische Sozialismus in den 60er Jahren zusammengebrochen, hätten wir vielleicht das selbe Schicksal erlitten wie die Kommunarden in Paris, aber es geschah in den 90er Jahren, da unser Volk schon eine politische Kultur, ein wissenschaftlich-technisches Niveau besitzt, da es viel gebildeter ist, und diese Herausforderung mit enggeschnalltem Gürtel, aber voller Optimismus und Sicherheit über den zukünftigen Erfolg annehmen kann. Ich glaube, daß Du mit Mißstand" noch nicht das ganze Ausmaß der riesigen Anstrengungen ausdrückst, die wir unternehmen müssen, um voranzukommen. Gleichzeitig muß ich hier anmerken, daß Kuba zum Zeitpunkt der Katastrophe des Sozialismus, nachdem es in praktisch allen Bereichen große Fortschritte erreicht hatte, sich mitten in einem tiefgründigen Berichtigungsprozeß von Fehlern befand, der große Erfolge versprach. Wir brauchten nicht ein Werk zu zerstören, um es zu vervollkommnen, mußten nicht glauben, daß es perfekt war, um es zu lieben. Bis zu diesem Punkt war das, was geschehen war, schmerzhaft. Wir haben dadurch Märkte verloren, gerechte Preise für unsere Produkte, die einzigen Kreditmöglichkeiten für unsere Entwicklung, die Technologie und Ersatzteile für unsere anlagen und Industriebetriebe, und wir haben die Beziehungen zu einer Gruppe von Ländern verloren, mit denen wir uns seit 30 Jahren wirtschaftlich zusammengeschlossen hatte, und außerdem werden wir von den Vereinigten Staaten auf kriminelle Weise boykottiert. Wir haben schwerwiegende Probleme, und unser Volk erleidet unverdienterweise ernste Entbehrungen und muß große Opfer bringen. Könntest Du Dir vorstellen, was hier passieren würde, wenn wir unter diesen Umständen auf den Sozialismus verzichten und eine Krisenpolitik der Kürzungen der Sozialausgaben, der Preiserhöhungen, der Schließung von Fabriken, Schulen, Krankenhäusern einführen würden? Das kann man sich vorstellen, denn viel reichere und entwickeltere Nationen leiden gegenwärtig unter den Folgen dieses Weges.
In allen Richtungen unternehmen wir Anstrengungen, Die Hauptlinien konzentrieren sich auf die Lösung des Ernährungsproblems der Bevölkerung. Unsere Bevölkerung konzentriert sich vor allem in den Städten, und wir hatten eine Landwirtschaft mit einem hohen Mechanisierungsgrad entwickelt, in der in großem Maße Chemikalien zur Anwendung kamen. Und plötzlich hatten wir keinen Treibstoff, keine Insektizide mehr. Aus diesem Grund ist das Ernährungsproblem, das wir geplant hatten, eine komplexe Aufgabe des Wandels der landwirtschaftlichen Produktion geworden. Wir müssen unsere Exportproduktion mannigfaltiger gestalten, ohne dabei das Zuckerrohr, das unsere Haupteinnahmequelle darstellt, oder die anderen traditionellen Exportprodukte unseres Landes zu vernachlässigen. Andererseits behandeln wir einige neue Bereiche mit Vorrang, wie die Biotechnologie und die pharmazeutische Produktion. Die erreichte wissenschaftliche Entwicklung ist im allgemeinen beeindruckend, und wir haben Gründe zu glauben, daß die direkt in Produktivkraft verwandelte Wissenschaft in nicht ferner Zukunft bedeutende Dividenden einbringen wird. Wir fördern den Tourismus und programmieren seine allseitige Entwicklung. Alle Welt kennt das Potential an Naturreserven, das wir besitzen. Wir haben vor, diese zivilisiert zu nutzen und unter Berücksichtigung der besten internationalen Erfahrungen den Bau von touristischen Einrichtungen mit dem Umweltschutz in Einklang zu bringen. Dies wird durch das Bestehen einer zentralen Planwirtschaft möglich. Bisher gibt es erst bescheidene Erfolge, aber Du mußt berücksichtigen, daß der Tourismus – trotz aller Widrigkeiten – 1992 im Vergleich zum Vorjahr um 33% hinsichtlich der Anzahl der Touristen und um 38% hinsichtlich der Einnahmen angestiegen ist.
Wir entwickeln ein anspruchsvolles Programm, um unser Land allmählich aus der Abhängigkeit von Treibstoffimporten zu befreien, denn ein großer Teil unserer geringen Einnahmen geht uns verloren, weil wir Treibstoff kaufen müssen. Die nationale Rohölproduktion wächst an, und vor kurzem haben wir ein internationales Angebot ausgeschrieben, welches ausländischen Firmen alle Möglichkeiten gibt, nach verfügbaren, auf Erdölvorkommen weisenden geologischen Informationen, nach Erdöl zu suchen und es zu fördern. Zweifelsohne wird auch die Nickelförderung und -veredelung, und es sei daran erinnert, daß wir eines der größten Vorkommen der Welt dieses Metalls haben, eine wichtige Rolle bei unserer Strategie spielen. Nur zwei Jahre nach einer praktisch völligen Stilllegung dieser Industrie haben wir nun neue Märkte und neue Zulieferer von Rohstoffen und Ersatzteilen gefunden. In diesem Bereich liefern wir also der Blockade einen verbissenen Kampf. Da wir nur begrenzte Möglichkeiten haben, über Kapital zu verfügen, haben wir in praktisch allen Bereichen und Modalitäten den ausländischen Investoren breite Möglichkeiten eröffnet.
Das Hauptgewicht unserer Arbeit liegt in der Umwandlung unserer internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die wir bisher mit den einst zum europäischen sozialistischen Block gehörenden Staaten hatten. Wir haben das Ziel, nach neuen Märkten zu suchen und sie inmitten der anwachsenden Feindseligkeit des nordamerikanischen Imperialismus auszuweiten. Und wir werden es schaffen, denn die ganze Welt ist nicht bereit, sich dm beschämenden Rechnungsvergleich unterzuordnen, den die Vereinigten Staaten gegen unser Land geplant haben. Letztendlich haben wir dieses ganze Programm, wir haben Dutzende Zement-, Papier- und Textilfabriken, Raffinerien, usw., die mit unseren eigenen Mitteln oder mit Hilfe von Auslandskapital wieder voll in Betrieb gesetzt werden können. Wir besitzen eine von der Revolution geschaffene Infrastruktur von Landstraßen, Kraftwerken, Flughäfen, Staudämmen, Häfen, Eisenbahnlinien, die für ein Land der Größe Kubas bedeutend ist.
Wir haben hochqualifiziertes Menschenpotential, eine junge, leistungsstarke Wissenschaft, die es uns erlaubt, der Zukunft optimistisch entgegenzusehen, und ein Volk, für das die Werte der Revolution und des Sozialismus keine leeren Worte sind, sondern erlebte Realität, auf die wir nicht gewillt sind zu verzichten.
Nehmen wir an, Doktor Lage, man würde die Blockade heute aufheben. Wenn dies geschähe, hätte Kuba die Freiheit, Handel zu treiben, mit wem es will. Es bliebe aber das Problem des Devisenerwerbs, um alles Nötige kaufen zu können, denn die Handelsbilanz Kubas weist in diesem Sinne ein Defizit auf. Glauben Sie nicht, daß das gegenwärtige Problem Kubas vom wirtschaftlichen Standpunkt her schwieriger ist als vom politischen?
Wenn man die Blockade aufheben würde, könnten nicht alle Probleme sofort gelöst werden, aber ihre Lösung würde sehr erleichtert werden, denn wir könnten jährlich Hunderte von Millionen Dollar zusätzlich erwerben, ohne auch eine Tonne mehr Waren zu produzieren. Du mußt sehen, daß wir heute viele Produkte auf sehr fernen Märkten suchen müssen, was die Transportkosten erhöht. Gleichzeitig zwingt uns dies, große Bestände zu lagern oder einzufrieren, was ebenfalls die Ausgaben vergrößert. Andererseits kaufen wir teuer ein, da wir wenig Angebote bekommen und man sich von uns das Risiko bezahlen läßt, das der jeweilige Partner eingeht, wenn er mit einem Feind der Vereinigten Staaten handelt. Aus denselben Gründen müssen wir mit Preisnachlaß verkaufen. Das ist nicht Gesetz, aber der Markt reagiert sehr sensibel auf politische Konjunkturen.
Laß mich Dir Mario, einige Fakten geben, die ich auf dieser Karte notiert habe und zur Berechnung des Schadens dienen, den die Blockade anrichtet. 1992 hat Kuba für Getreide, Geflügel und Milch aufgrund von Preisunterschieden einen Überwert von 41,5 Millionen Dollar bezahlt. Über 85 Millionen Dollar verloren wir in Frachtkosten. Die Frachtkosten für Treibstoff sind für uns um 43% teurer geworden und für andere Produkte um das Dreifache. Die ungesetzliche Einfrierung der kubanischen Einnahmen aus dem Fernmeldewesen kostet uns über 102 Millionen Dollar, und diese Verluste steigen jedes Jahr hinsichtlich des Hauptkapitals und der entsprechenden Zinsen um über sieben Millionen Dollar. Aus diesem Grund, und weil sie sich e´weigern, den uns gesetzlich zustehenden Teil der Telefonanrufe zu zahlen, mußten wir zum Schaden vieler Familien den Telefonverkehr mit den Vereinigten Staaten einschränken. Dieser Telefonverkehr bedeutet für die Dominikanische Republik zum Beispiel jährlich Einnahmen von über 300 Millionen Dollar. 1958 hatte Kuba 228.000 Touristen Empfangen. Würde diese Zahl von US-Bürgern heute Kuba besuchen, so könnte unser Land unter den gegenwärtigen Bedingungen der Einnahmen pro Tourist etwa 200 Millionen Dollar verdienen. Hier sollte erwähnt werden, daß heute über sechs Millionen Amerikaner im Jahr die karibische Insel bereisen.
Die Einnahmen wären viel größer, wenn unser Land auch nur die Hälfte des relativen Anteils des Jahres 1959 erreichen könnte. Erhielte Kuba auch nur ein Drittel der Zuckerquote, die es auf dem US-Markt hatte, dessen Kaufpreis sich 1992 auf 21,30 Cents pro Pfund belief, hätte es dafür 205 Millionen Dollart mehr eingenommen. So kann Kuba auch nicht einen Teil seiner Exporte in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterbringen, die den Zucker zu 22 Cents kaufte, und muß alle seine Exportprodukte auf den Restmarkt bringen. Da unser Land aber seinen Zucker aufgrund der Blockade nicht auf der Zuckerbörse von New York im Preis einstufen lassen kann, muß es seinen Kunden einen Preisablaß gewähren, durch den der Zuckerpreis noch unter dem Weltpreis liegt, was Kuba eine Einbuße von weiteren 59.000.000 Dollar einbringt. Es kommt zu operativen Schwierigkeiten, die zusätzliche Ausgaben zur Folge haben. So führt zum Beispiel die fehlende Möglichkeit, den US-Dollar in den kubanischen Exportgeschäften anzuwenden, zu zahlreichen Schwierigkeiten für Kunden, Banken und kubanische Exportunternehmen. Es wird geschätzt, daß allein durch Kursverluste Millionen von Dollar verloren gehen.
Obwohl die Festlegung der Toriicelli-Klausel noch nicht in Kraft getreten ist, verlieren wir viele Millionen Dollar. Materielle und finanzielle Mittel stehen im Ausland und Verträge müssen verändert werden. Es entstehen unnötige Lagerungskosten, da wir nicht über die notwendigen Schiffe verfügen. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der UdSSR erhält Kuba in der Regel von keiner Finanzeinrichtung oder keinem Land milde Kredite. So muß man auf viel ungünstigere, teurere und kurzfristige Kredite zurückgreifen. Man gibt uns auch keine Teilnahme am Nutzen der Möglichkeiten, die die Europäische Gemeinschaft im Rahmen der Initiative für den karibischen Raum oder der Vereinbarung von San José den karibischen Ländern bietet. Kuba hat die qualifiziertesten Arbeitskräfte des Kontinents. Wir nehmen keine Bruttoeinnahmen. Oder persönliche Einnahmesteuern ein. Die Gewinne können frei aus unserem Land geschafft werden. Es besteht eine soziale Stabilität, und in praktisch allen Produktionsbereichen fand eine Öffnung für das Privatkapital statt. Doch trotz all dieser Erleichterungen haben wir aufgrund des Drucks, den die USA auf alle ausüben, die in Kuba investieren wollen, nur einen sehr geringen Kapitalfluß erreicht. Während der Bush-Regierung wurde die Behinderung unserer gesamten Wirtschaftstätigkeit als eine Aufgabe der Botschafter angesehen, was äußerst ungewöhnlich, ja - man könnte sogar sagen – lächerlich war. Das Kapital, das in unser Land flösse, wenn es diesen Druck nicht mehr gäbe, ist unberechenbar. Ohne die Blockade hätten wir uns um ein Problem weniger kümmern müssen. Wir müßten nicht die Tausendundeine Erfindungen machen, die wir jetzt entwickeln müssen, um eine Anlage oder ein Ersatzteil amerikanischen Ursprungs zu ersetzen. Unser Land erleidet kein Embargo, sondern eine brutale Blockade. Und diese Blockade ist viel mehr als bloß ein Gesetz, sondern all die Aktionen, die die USA in der ganzen Welt gegen Kuba unternehmen, sind die Blockade.
Du sagst in Deiner Frage ganz richtig, daß unsere Probleme ökonomischer und nicht politischer Art sind. Wenn da also jemand von uns politische Änderungen fordert, kennt er weder unsere Realität nicht oder will dem Imperialismus das Spiel erleichtern. Unsere ökonomischen Probleme mit Hilfe politischer Veränderungen lösen zu wollen, ist dasselbe, als wolle man ein Mangelleiden mit Aspirin heilen, auf die Gefahr hin, eine Gastritis hervorzurufen und die Probleme noch weiter zuzuspitzen. Zu wirtschaftlichen Veränderungen sind wir bereit. Wir akzeptieren Investitionen mit Privatkapital. Wir sind auch bereit, am freien internationalen Handel teilzunehmen. Wir sind Willens, uns mit Lateinamerika wirtschaftlich zusammenzuschließen, aber die Blockade legt uns Hindernisse in den Weg. Die Blockade ist ein krimineller Akt, ist der Versuch, ein ganzes Volk durch Hunger und Krankheiten zur Kapitulation zu zwingen. Die Blockade ist der höchste Ausdruck der Scheinheiligkeit, den man sich denken kann.
Denn bei all dem proklamieren sie die Menschenrechte, die freie Konkurrenz, den Pluralismus und die Demokratie. Ich frage mich, ob für sie Pluralismus und Demokratie nur eine nationale Frage sind, während sie auf internationaler Ebene weder den politischen Pluralismus noch die demokratische Freiheit einer Nation, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, zulassen. Wir bleiben dabei, daß Demokratie, politischer Pluralismus und Menschenrechte Begriffe sind, die nur in einem Klima sozialer Gerechtigkeit wirklich eine Gültigkeit haben, denn ohne soziale Gerechtigkeit kann es keine wahre Gerechtigkeit, keine wahre Demokratie geben. Deshalb fordern wir die anderen auch nicht auf, ihr System zu verändern, sondern nur, unseres zu respektieren.
Von einem anderen Gesichtspunkt her ist die Blockade einer illegalsten internationalen Aktionen, die je in der Geschichte realisiert wurden. Abgesehen von der Moral sprechen gegen sie uralte Prinzipien der Beziehungen zwischen Staaten und ganz aktuelle internationale Vereinbarungen und Verträge. Es handelt sich um einen klaren Fall von Völkermord, für den die Menschheit früher oder später die Vereinigten Staaten verurteilen wird. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat dies schon fast einstimmig getan. Die Geschichte wird diejenigen anerkennen, die fähig waren, solch eine ruchlose Handlung zu verurteilen.
Wenn der Wahlsieg der Kandidaten der Kommunistischen Partei so überwältigend war und die Opposition so unbedeutend, wie die offiziellen Wahlergebnisse anzeigen, woran liegt es dann, daß unabhängige Kandidaten aufgestellt werden können, aber keine Aspiranten aus anderen Parteien als der Kommunistischen?
Ich möchte vor allem etwas Grundlegendes erklären: die Partei hat niemanden postuliert. Ich weiß, daß es Erstaunen hervorrufen kann, daß eine Partei existiert, die keine Kandidaten aufstellt, aber so ist es in Kuba festgelegt worden und so wird es gemacht. Das Volk stellt die Kandidaten auf. Die Massen haben die Kandidaten in ihren Wohnvierteln benannt und vorgeschlagen, und von diesen Massen wurden alle Kandidaten für die Kreisversammlungen, etwa die Hälfte der Abgeordneten der Provinzversammlungen und des Parlaments gewählt. Die andere Hälfte wurde von den Kandidaturkommissionen, deren Vorsitz die Gewerkschaften führten und sich aus Mitgliedern der Frauen-, Jugend-, Studenten- und Bauernorganisation zusammensetzte. Benannt. Dazu wurden in den genannten Organisationen hunderte von Versammlungen durchgeführt, auf denen die Vorschläge unterbreitet und diskutiert wurden. Unter den Kandidaten waren alle Berufsgruppen, von Wissenschaftlern bis Studenten, vom Sportler bis zum Künstler. Es war ein breiter demokratischer Prozeß, in dem über eine Million Menschen befragt wurden, um ihre Kandidatur vorzuschlagen. Aus diesen zwei Quellen , den Delegierten der Wohnbezirke und den Vorschlägen der Kandidaturkommission, wurden die endgültigen Wahllisten angefertigt. Danach mußte die vom Volk gewählte Kreisversammlung ihre Zustimmung für die Kandidatur der Abgeordneten der Provinzversammlungen und der Nationalversammlung geben, über die dann die Bevölkerung direkt und geheim abstimmte.
Was Du Opposition nennst, hatte die Möglichkeit, in seinem Wohngebiet vorgeschlagen und gewählt zu werden. Wenn sie sich selbst nicht vorgeschlagen hat, wenn sie nicht gewählt worden ist, so geschah dies nur aus einem Grund: Sie hatte einfach nicht das nötige Prestige, die Unterstützung und daher nicht die kleinste Chance, postuliert zu werden. Einige führen im Ausland eine politische Kampagne gegen Kuba, aber das ist es, als wollten sie im Meer pflügen. Falls es eine Opposition gäbe, die sich politisch ausdrücken wollte, müßte sie sich entscheiden, einen Wahlkampf zu führen. Dazu müßte sie in Kuba leben und kubanische Staatsbürgerschaft haben, was nach unseren Gesetzen eine unbedingte Voraussetzung ist, um gewählt zu werden.
Die Wahlen sind ein augenscheinlicher Beweis dafür, daß diese Opposition nichts weiter als eine Erfindung der Vereinigten Staaten ist, deren Propaganda, die von nicht wenigen verfolgt und als Partei bezeichnet wird, selbst eine Gruppe, die von einem Herrn, seiner Frau und einem Neffen in Kuba gebildet wird. Das Bestehen einer einzigen Partei in Kuba entspricht der Realität, in der wir leben, den Zielen unseren revolutionären Projektes und unserer eigenen Geschichte. José Martí hat eine einzige Partei gegründet, um die Revolution durchzuführen. Unsere Partei ist keine Wahlpartei, sondern eine organisatorische Kraft, eine führende Kraft der Gesellschaft, und unsere Verfassung und unser Wahlgesetz beinhalten ein Wahlsystem, welches die breiteste Teilnahme des Volkes gewährt, ohne daß Parteien notwendig sind, ohne die Vermittlung von Parteien, sondern direkt. Und da dies so ist, fließt hier das Geld nicht von Hand zu Hand, um die Wahlkampagne zu finanzieren. Bei unseren Wahlen kann jeder einfache Mensch aus dem Volke Abgeordneter werden, da es seine Verdienste sind, die ihn fördern und nicht das Geld, das ihn unterstützt. Die Politiker stellen sich nicht auf die Tribüne, um dinge zu versprechen, von denen sie nicht wissen, ob sie sie erfüllen können. Es gibt keine Betrug, keine offen gewalttätige und gemeine Rivalität unter den Wahlkandidaten.
Unser Wahlsystem bewahrt uns vor all dem, was es anderswo gibt und die USA als einziges Modell der Demokratie aufzwingen wollen. In Kuba ist die Existenz einer einzigen Partei nicht nur kein Hindernis für die Demokratie. Das Argument dieser einzigen Partei wird auch benutzt, um die Blockade zu rechtfertigen. Da müßte man sich fragen, warum sie über andere Länder mit einem Einparteisystem keine Blockade verhängt haben oder warum sie so gute Freunde der absolutistischen Monarchien des Nahen Osten sind, die ihnen so zweckmäßig und vertretbar erscheinen. Die ist ein spürbarer Beweis ihrer doppelten Moral, ihres doppelten Standards und auch dafür, daß hinter all dieser Rhetorik über die Menschenrechte – in einer karikaturhaften Reduktion der Bürgerrechte oder eines Teils derselben – nur eine große Scheinheiligkeit steht.
Unser Volk weiß sehr wohl, daß der Kampf sich hier zwischen der Partei der Nation und der Partei des Imperialismus vollzieht, daß dies die reale Option, und alles andere nur Fiktion ist. In unserem Falle wissen wir, daß in den verkümmerten Reihen der Gegner der Revolution derselbe Annexionismus vertreten ist., der schon vor fast 100 Jahren mit den amerikanischen Okkupanten kollaboriert hat und mit ihnen zusammengearbeitet hat, um die Nation zu spalten und sie ihnen auszuhändigen. Unter den Bedingungen der Aggression und Feindseligkeit, in den wir leben, wäre es ein Selbstmord der Nation, wenn wir diejenigen, die die Aggression und die Feindseligkeit stimulieren, tolerieren würden.
Wenn Du mir erlaubst, komme ich noch einmal auf den Gedankengang über Parteien und Demokratie zurück. Stimmt es, daß es keine Demokratie geben kann, wenn es keine Parteien gibt, die die Wahlkandidaten postulieren? Ist es nicht offensichtlich, daß in vielen Ländern die Parteien sich in wirkliche Hindernisse für die Demokratie verwandeln? Wer kann verleugnen, daß in vielen Ländern die Parteien nicht die wirkliche Meinung der Mehrheit des Volkes vertreten, sondern den Willen und die Interessen der Mächtigen? Wenn wir es richtig beschauen, sind wir der Traum der griechischen Demokratie, ein Paradigma der westlichen Demokratie, die, als sie sie zum Vorbild nahm, natürlich die Sklaven vergaßen. Damals versammelte sich das Volk in der Agora und wählte seine Führer direkt. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es damals keine vermittelnden Parteien, in deren Schatten Machtgruppen diejenigen benannten, die später gewählt werden sollten. Zu dieser Angelegenheit ist Kuba bereit, seine bescheidenen Erfahrungen in jeder ernsthaften, vernünftigen, stereotypenfreien Diskussion darzulegen.
Doktor Lage, wir alle haben uns irgendwann einmal vorgestellt, wie wir unser Land haben wollten. Könnten Sie mir sagen, wie Sie sich Kuba im Jahr 2000 vorstellen?
Bis zum Jahr 2000 sind es von unserem Gespräch an nur noch sieben Jahre. Ich stelle mir das nicht nur vor, sondern ich unternehme auch Anstrengungen dafür, wie mein Land im Jahr 2000 aussehen soll, damit wir bis dahin die jetzige Situation überwunden haben, damit wir Lateinamerikaner einiger sind. Dann werde ich 48 Jahre alt sein und Dir ein weiteres Interview geben. Dieses Interview werden wir entweder im Revolutionspalast oder an einem anderen Ort führen, denn ich habe Dir schon gesagt, daß wir Revolutionäre uns nicht Ämtern verpflichtet fühlen, sondern wir haben Pflichten, und deshalb kann ich Dir den Ort unseres Treffens nicht voraussagen. Eins ist aber sicher, es wird in Kuba sein und in der Hitze der Revolution. Vielen Dank, Mario, für diese Möglichkeit, die Du mir gegeben hast.
Vielen Dank für die Zeit, die Sie uns gewidmet haben.
Mario Vasquez Rana für die Zeitung "El Sol de Mexico" entnommen
aus einer Broschüre des Arbeiterbundes, München 1994
CUBA LIBRE 3-1994