Kubas Wettbewerbsfilm durchbricht ein Tabu.
Der Film Fresa y Chocolate (Erdbeer und Schokolade) erzählt mit Witz und Melancholie die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. David der Jungkommunist lernt den schwulen Diego kennen. Zunächst steht er ihm mißtrauisch und ablehnend gegenüber, denn die Gesellschaft und seine Freund haben ihm vermittelt, daß Homosexualität ein Defekt sei, der zugleich etwas Konterrevolutionäres in sich birgt. Dennoch ist er fasziniert von der unkonventionellen Lebensart des etwas älteren Diego, der, sehr belesen und reich an Lebenserfahrungen, sich in seiner Wohnung – voll mit Bildern und Kunstobjekten – eine eigene Welt geschaffen hat, umgeben von Literatur, Musik und Kunst. Die Besuche bei Diego offenbaren David einen zuweilen witzigen Menschen, wenn dieser mit seinem Kühlschrank spricht, der gleichermaßen zärtlich und verletzlich sein kann. David, jung, unsicher, aber pflichtbewußt und enthusiastisch, mein Diego auf rechten revolutionären Pfad verhelfen zu müssen. Schließlich ist es jedoch vor allem David, der sich durch diese Freundschaft verändert, der begreift, daß mehr Toleranz und Verständnis gegenüber dem Anderen mehr zählt, als revolutionäre Phrasen, daß es darauf ankommt, den Menschen, seine Persönlichkeit zu entdecken. Der Homosexuelle bekehrt den Revolutionär. Die Freundschaft wird jedoch auch für den schwulen Diego, der zunächst ein Abenteuer suchte. Eine wichtige Erfahrung. Am ende des Films offenbart sich David schließlich die gesamte Tragik einer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Denn Diego hatte auch Träume von einer neuen Gesellschaft, wollte als Jugendlicher an der Alphabetisierung teilnehmen und Lehrer werden. Dies alles blieb ihm aufgrund seiner Homosexualität verwehrt. Schließlich wird eine Kunstausstellung, die er vorbereitet hat, verboten. Verzweiflung und Resignation machen sich bei Diego breit. »Ich lebe nur einmal«, sagt er zu David und dieses Leben möchte er gestalten können. In Kuba sieht er keine Möglichkeiten einer persönlichen und beruflichen Entfaltung, und verläßt am Ende das Land mit den Sätzen: »Ich gehen nicht, sie werfen mich hinaus.«
Neben den Problemen von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Intoleranz werden in Fresa y Chocolate auch humorvoll die Alltagsprobleme des heutigen Kuba thematisiert. Da ist beispielsweise Diegos Nachbarin Nancy, der es immer wieder gelingt, etwas auf dem Schwarzmarkt zu organisieren und dabei auch eine Kleinigkeit zu verdienen. Äußerlich stark, ist sie dennoch ein sehr verletzlicher Mensch, der die Heiligen der katholischen Kirche genauso zur Hilfe ruft, wie die schwarzen Götter der Santeria.
Die beiden Regisseure des Films, Tomás Gutiérrez Alea, der das kubanische Filmwesen maßgeblich mitaufgebaut hat und zu den Altmeistern des kubanischen Kinos zählt, und Juan Carlos Tabío, haben in Fresa y Chocolate mittels witziger und tiefsinniger Dialoge, die viele kleine Anspielungen enthält, konsequent und radikal Probleme der kubanischen Gesellschaft dargestellt. Nie zuvor wurden in der kubanischen Filmgeschichte so offen politische Fehler angeprangert, die Allmacht einer Partei kritisiert, die sich anmaßt über alle Bereiche des Lebens urteilen zu können, von der Sexualmoral, bis hin zu ästhetischen Fragen in der Bildenden Kunst.
»Es ist ein Film über Intoleranz und Freundschaft«, sagte der Drehbuchautor Senel Paz in einem Interview zu diesem ersten kubanischen Film, der sich mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzt. Für seine Erzählung Der Wolf, der Wald und der neue Mensch, nach der Drehbuch und Film entwickelt wurden, hatte der Jungautor Senel Paz bereits den Juan-Rulfo-Preis von Radio France International erhalten, es ist auch das erste literarische Werk, welches in dieser Form Fragen behandelt, die in Kuba über 30 Jahre ein Tabu darstellten.
Homosexualität, zwar nicht strafbar, wurde in Kuba vor allem in den 60er Jahren von offizieller Seite verfolgt, als eine große zahl Homosexueller, darunter auch viele Intellektuelle, in die Umerziehungslager UMAP gesteckt wurden. Auch in den 70er und 80er Jahren setzte sich die Diskriminierung fort. Homosexuellen blieb nicht nur der Zugang zu politischen Organisationen versperrt, sondern auch zu vielen Berufen, obwohl namhafte kubanische Künstler zu ihnen gehören. Etliche Homosexuelle sahen sich zur Emigration veranlaßt oder wurden in einigen Fällen sogar von den Behörden dazu gezwungen. Wie der Beitrag Fresa y Chocolate aber auch zeigt, ist die Diskriminierung von Homosexuellen nicht nur ein Problem offizieller Politik, sondern das einer weit verbreiteten Intoleranz durch die Bevölkerung. Wie in anderen Ländern Lateinamerikas wird der Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Homosexuellen in Kuba durch den vorherrschenden Machismo erschwert.
Fresa y Chocolate wurde erstmals im Dezember als Wettbewerbsbeitrag beim XV. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna präsentiert. In einem zur Zeit toleranteren und offeneren politischen Klima wurde der Film mit Beifall sowie Prämien geradezu überhäuft. Er erhielt den Hauptpreis des Filmfestivals, die Große Koralle, sowie Preise der internationalen und katholischen Filmkritik; Schauspieler-Preise gingen an Jorge Perrugoría, der den schwulen Diego spielte, und Mirtha Ibarra für die beste weibliche Nebenrolle.
Nach den Erfahrungen mit dem Film Alicia am Ort der Wunder, ein bissige Satire über die politischen Verhältnisse in Kuba, der nach wenigen Tagen Spieldauer abgesetzt wurde, war der Publikumsandrang zu Fresa y Chocolate enorm groß. Seit Dezember läuft der Film in Kuba und immer noch bilden sich lange Schlangen vor den Kinos. Die Kubaner – aufgrund des Energiemangels täglich mit landen Stromabschaltungen im Alltagsleben massiv eingeschränkt – nahmen während des Festivals sogar zusätzliche Stromsperrungen in Kauf, damit der Film in 16 Kinos Havannas, nicht nur an Wochenenden, wie sonst üblich, gezeigt werden konnte.
Sicher auch aufgrund der enormen finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Kuba ist die Geschichte mit relativ geringem Aufwand gefilmt worden, was dem Film durchaus zugute kommt. Die Handlung stützt sich im wesentlichen auf drei Protagonisten, dem Jungkommunisten David, dem schwulen Diego und dessen Nachbarin Nancy; die meisten Szenen spielen in einem Raum, der Wohnung von Diego. Vor allem bei der technischen Entwicklung war die Kooperation mit Mexiko und Spanien sehr wichtig. Der Energiemangel in Kuba und die damit verbundenen Stromsperrungen haben auch im Filmsektor drastische Konsequenzen: Bei der Herstellung von Dokumentarfilmen und Wochenschauen wurde gekürzt; die Kopierwerkstatt mußte wegen Strommangels geschlossen werden. So war Fresa y Chocolate der einzige Spielfilm, der im vergangenen Jahr in Kuba gedreht werden konnte. Inhaltlich und künstlerisch überzeugend haben die kubanischen Cineasten, trotz der schwierigen Rahmenbedingungen diesen Film realisiert.
Fresa y Chocolate
Kuba/Mexiko/Spanien
Regie: Tomás Gutiérrez Alea, Juan Carlos Tabío;
mit: Jorge Perugorría, Vladimir Cruz, Mirtha Ibarra;
110 Min.
Carola Hesse-Andres
CUBA LIBRE 3-1994