Wie soll man dieses Buch über 40 Jahre revolutionären Kampf auf Kuba vorstellen? Als eine locker geschriebene politische Reportage oder ein sorgfältig zusammengestelltes Nachschlagewerk, oder eher als eine revolutionstheoretische Analyse des kubanischen Sozialismus—Experimentes? Es hat vor allem etwas und das macht dieses Buch zu etwas Außergewöhnlichem.
Janette Habel, eine französische Wissenschaftlerin, seit Anfang der sechziger Jahre eng mit der kubanischen Entwicklung verbunden beteiligt sich nicht an der heute zum Wettstreit gewordenen Verteilung guter und schlechter Noten an Kuba. Ausgehend von einer systematischen Auswertung vor allem kubanischer Quellen nimmt sie zu den wirtschaftlichen, den politisch-ideologischen, den sozialen und den militärischen Grundlagen der kubanischen Revolution Stellung. Ihren Standpunkt formuliert die Autorin aus einer vergleichenden Darstellung des Ausgangspunktes der Revolution, ihres Verlaufs und ihres heutigen Anspruchs. Herausgekommen ist eine Schrift, deren Lektüre mindestens in zwei Aspekten für einen Leserkreis über die Grenzen der Kuba-Interessierten hinaus spannend ist. Erstens umreißt Janette Habel vier unterschiedliche Sozialismus-Konzepte, welche prägend waren: das Che-Guevara-Modell aus der Mitte der sechziger Jahre, die Periode der "revolutionären Offensive" 1968 bis 1970, das dann dominierende staats-sozialistische Modell und schließlich die "rectificación" 1986 bis 1990.
Zweitens unternimmt hier eine marxistische Wissenschaftlerin den mutigen Versuch, vom heutigen Erfahrungsstand Probleme des Übergangs einer unterentwickelten Wirtschaft zum Sozialismus zu diskutieren. Und das geschieht niemals trocken-theoretisch. Es gelingt der Autorin, den Leser die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Etappe nachempfinden zu lassen. Eine originelle Sicht ermöglicht Janette Habel auf das kubanische-sowjetische Verhältnis. Sie dokumentiert diese komplexen, von vielen Faktoren beeinflußten Beziehungen und macht deutlich, daß letztlich die kubanische Führung nicht in der Lage war, die objektiv vorhandenen Chancen zu nutzen, um sich von der kräftigen wirtschaftlichen und geistigen Abhängigkeit der Sowjetunion zu befreien.
Das Buch erscheint auf dem deutschen Markt in einem Moment, da die kubanische Führung versucht, marktwirtschaftliche Elemente mit zentraler Planung und Erhalt der sozialen Errungenschaften zu verbinden. Dazu Janette Habels Ausblick: "Die Verwirklichung dieses Programms setzt nicht nur eine Zustimmung, sondern eine bewußte Mitarbeit der Bevölkerung an seiner Umsetzung sowie Kontrollmöglichkeiten und tatsächliche Entscheidungsbefugnisse voraus. Sie allein könnten die gesellschaftlichen Spannungen abmildern, die sich daraus ergeben. Dafür wären tiefgreifende Veränderungen im Bereich der politischen Führung und eine ideologische Neubewertung der Vergangenheit erforderlich, um die Ursachen der Ereignisse in Osteuropa aufzuzeigen und die unterschiedliche Zielsetzung der kubanischen Revolution herauszuarbeiten; hierzu bräuchte es ein neues gesellschaftliches Projekt." Die Titelseite des Buches wird von einem der sensibelsten Guevara-Fotos beherrscht:
Er sitzt zusammengesunken in einem Raum, Hippie-Frisur und dicke Zigarre, sich müde die Augen reibend ...
Janette Habel
Kuba: die Revolution in Gefahr
Neuer ISP-Verlag, Köln
296 S.
Johnny Norden
CUBA LIBRE 4-1993