Le Sacre du printemps

"Und wie in einem Blitz erkenne ich, daß man gegen seine Epoche nicht leben kann, daß man auf eine Vergangenheit, die in Flammen aufgeht und einstürzt, nicht sehnsüchtig zurückblicken kann, weil man sonst Gefahr läuft, zur Salzsäule zu werden."

Diese Erkenntnis, als Individuum nicht außerhalb und unabhängig von gesellschaftspolitischen Prozessen leben zu können, durchzieht, das Alltagsleben der Menschen bestimmend, den Roman "Le Sacre du printemps" des kubanischen Autors Alejo Carpentier, der 1978 erschien und erst in diesem Jahr in deutscher Übersetzung herausgegeben wurde. Als Chronist seiner Epoche – so auch sein Selbstverständnis als Schriftsteller – beschreibt und interpretiert Carpentier in diesem großen Werk Politik, Gesellschaft und Kultur des 20. Jahrhunderts und stellt sie in einen Kontext. Gleichzeitig ist dieser Roman, den er zwei Jahre vor seinem Tod beendete, ein Rückblick auf das eigene Leben.


Am Beginn der Romanhandlung steht die Begegnung zwischen der russischen Tänzerin Vera und dem kubanischen Architekten Enrique in Spanien zur Zeit des Bürgerkrieges. Carpentier spannt den Bogen von der russischen bis zur kubanischen Revolution; sein Buch endet mit dem Sieg der Kubaner über die Invasionstruppen der Exilkubaner im Jahr 1961. Dabei ist der Handlungsablauf nicht chronologisch aufgebaut; über die Erinnerungen der Romanfiguren entstehen Rückblenden. Beide Protagonisten, Vera und Enrique, sind Ich-Erzähler; dem Leser werden die Ereignisse und Lebensgefühle einmal aus der Sicht Veras, dann wieder aus der Enriques geschildert. Das Bild des Zeitgeschehens baut sich aus zwei Perspektiven zusammen, in die Carpentier schließlich seine eigene miteinfließen läßt. Sein Werk trägt etliche autobiographische Züge. In den beiden Hauptfiguren verkörpert er u.a. einen Teil seiner Erlebnis-, Gedanken- und Erfahrungswelt, reich an Eindrücken und Einflüssen aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Carpentier lebte und arbeitete abwechselnd in Paris, Havanna und Caracas, reiste durch Länder und Kontinente. Seine Romanhandlung ist ebenso in verschiedenen Orten Europas und Amerikas angesiedelt, in denen sich die beiden Protagonisten befinden, teilweise auf der Flucht vor Krieg und Diktatur. Vera und Enrique – unterschiedlicher Nationalität – sind gleichfalls Ausdruck des kulturellen und geistigen Hintergrundes Carpentiers:

Als Sohn einer russischen Ärztin, die in der Schweiz studiert hatte, und eines französischen Architekten wurde er 1904 in Havanna geboren. Beide Elternteile beschäftigen sich mit Literatur, Musik und Geisteswissenschaften; sie ermöglichen Carpentier eine kosmopolitische Erziehung. Schon als Kind bereiste er Frankreich, Österreich, Belgien und Rußland. Die längste Zeit seines Lebens verbrachte Carpentier in Paris, wo er zur Schule ging, in den 20er und 30er Jahren als Journalist arbeitete und von 1966 bis zu seinem Tode als Kulturattaché der kubanischen Botschaft und Schriftsteller tätig war.

Paris ist der Ort, an dem er seine Romanfiguren zunächst ansiedelt. Dort studiert der Kubaner Enrique Architektur. Vera mit ihrer Familie vor der russischen Revolution aus Baku und St. Petersburg geflohen, besuchte in Paris eine Ballettschule. Die Begegnung mit avantgardistischen Intellektuellen und Künstlern, einige Kontakte vor allem zu Surrealisten, die Carpentier dort Pflegte, werden dem Leser vermittelt.

Das politische Geschehen in Europa, insbesondere der Aufstieg des Faschismus, reißen Carpentiers Romanfiguren aus ihrem Alltagsleben. Die Beziehung Enriques zu einer deutschen Jüdin, deren Verschwinden während eines Aufenthaltes in Deutschland, veranlassen ihn zu einer Reise nach Berlin und Weimar, in das Deutschland der Nationalsozialisten. Dort erlebt er Macht und Gewalt, den Jubel der Mitläufer, den Aufstieg der Opportunisten, das Schweigen der Ängstlichen und Gleichgültigen, den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturschönheit und Kulturtradition und Gewaltherrschaft. Bildhaft, eindringlich und gleichzeitig analysierend beschreibt Carpentier dieses Deutschland:

"Das Recht, zu jeder Zeit "Sieg Heil" zu brüllen, wiegt alles auf, was ein Patient in einer langwierigen und mühsamen Katharsis des Unbewußten Stück für Stück von sich zu geben vermag. An dem Tag, da sich der Sattlereigeruch im Land verbreitete, war die Partie gewonnen. Millionen von Namenlosen schlugen die Herzen im Viervierteltakt der Marschmusik, den Lämmern wuchsen Krallen, die Zwerge wurden groß, die Unterwürfigen grausam, die unterdrückten Triebe zogen sich gewichstes Leder an, … Wenn er das Horst-Wessel-Lied singend, sich einen Menschen reines Blutes und Vertreter einer auserwählten Rasse nennen durfte, stülpte sich jeder Scheißkerl den teutonischen Ritterhelm auf den Schädel, um ein tausendjähriges Reich zu errichten ..."

Enrique kehrt ohne seine Geliebte, die in einem der KZ's verschwunden ist, nach Paris zurück. Seine Erfahrungen – auch aus der Zeit der Diktatur Machados in Kuba – sowie sein Engagement in linken Intellektuellenkreisen, veranlassen ihn, sich den Internationalen Brigaden in Spanien anzuschließen. Er lernt die Russin Vera kennen, die dort ihren verschwundenen Geliebten besucht, der später in Spanien fällt. In Paris treffen sich Enrique und Vera wieder; es ist für sie der Beginn einer neuen Liebesbeziehung. Wiederum sind es die politischen Ereignisse, die in ihr Privatleben eindringen:

Der sich in Europa ausbreitende Faschismus und Krieg zwingen Vera und Enrique den Kontinent zu verlassen; sie emigrieren nach Kuba. In Havanna kommen sie zunächst für viele Jahre zur Ruhe; Enrique als erfolgreicher Architekt, Vera als Leiterin einer Ballettschule. Sie verfolgt die Idee das Ballettstück "Le Sacre du printemp" von Strawinski neu interpretiert und mit schwarzen Tänzern besetzt, aufzuführen. Dieses Projekt der Balletturaufführung durchzieht den Roman als roter Faden, und bekommt schließlich erst durch den Sieg der kubanischen Revolution und die damit verbundene gesellschaftspolitische Gleichstellung der Schwarzen reale Chancen der Verwirklichung. Die Revolution führt auch Vera und Enrique – zeitweise getrennt – wieder zusammen. Beide erkennen in ihr Möglichkeiten der beruflichen und privaten Entwicklung. Enrique – zunächst Betrachter und Sympathisant der gesellschaftlichen Entwicklung – engagiert sich aktiv. Vera, die aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen immer versucht hat, den revolutionären Umwälzungen zu entkommen, muß erkennen, daß man aus der Welt, in die man hineingeboren wird, nicht fliehen kann.

Carpentiers politisches Selbstverständnis – geprägt durch seine Erfahrungen und Kontakte zu linken avantgardistischen Intellektuellen – kommt in diesem Werk, in dem seine Protagonisten, vor allem Enrique, eine ganze Reihe autobiographischer Züge aufweisen, weitaus weniger verschlüsselt zum Ausdruck, als etwa in seinen anderen Romanen. Die Studienzeit in Havanna, die sich über Beschreibungen von Ereignissen und Stimmungsbildern im Roman wiederfindet, ist von seiner Journalistischen Tätigkeit und dem Engagement in der "Gruppe der Minderheit" geprägt.

Neben Diskussionen über Expressionismus, Kubismus, Dadaismus und anderen neuen künstlerischen Richtungen, wurde in diesem Zirkel die Zukunft Kubas thematisiert. Zu Carpentiers Freundeskreis gehörten Namhafte linke Intellektuelle; er war Mitarbeiter der "Revista de Avance". Wegen einer Unterschrift unter ein regierungsfeindliches Manifest gegen die Diktatur Machados, wurde er verhaftet und zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Nach seiner Haftzeit emigrierte Carpentier nach Paris, wo er elf Jahre als Journalist tätig war, eine Fülle von Kontakten zu Künstlern und Schriftstellern aus Europa und Lateinamerika pflegte.

Über den 2. Internationalen Kongreß antifaschistischer Schriftsteller, der 1937 in Madrid stattfand, gelangte Carpentier nach Spanien, in einer Zeit, in der Madrid bereits von den Truppen Francos belagert wurde. 1939 kehrt er nach Kuba zurück, reiste durch verschiedene Länder Lateinamerikas, darunter Haiti und Venezuela. Die Diktatur Batistas veranlaßte ihn wiederum Kuba zu verlassen und für 14 Jahre nach Venezuela zu gehen. Auch diese Zeit findet in "Le Sacre du printemps" ihren Niederschlag. Die kubanische Revolution verfolgte er, wie seine Romanfigur Enrique, von Caracas aus. Erst nach der Revolution kehrte er nach Kuba zurück, wo er die Leitung des Nationalverlages übernahm.

Seine - in diesem Roman ganz unverschlüsselte – Parteinahme für die kubanische Revolution, läßt Carpentier nicht in platte Glorifizierungen oder Lobeshymnen verfallen, er bleibt kritisch Hinterfragender, Widersprüche erkennend, offen für neue Denkansätze, denn " … wenn es gestern Wahrheiten gab, auf die aufmerksam gemacht werden mußte, so gibt es heute neue, seht viel komplexere Wahrheiten ..." Seine Romane und Essays spiegeln eine sehr weltoffene, tolerante Haltung wieder. Carpentier hat keine Antworten oder Lösungen parat; seine Betrachtungen lassen Fragen offen, geben Denkanstöße. In "Le Sacre du printemps" läßt er durch Vera, die zunächst eine distanzierte Haltung zur Revolution hat, die Skeptiker zu Wort kommen, ohne dabei eine moralische Wertung vorzunehmen. Auch sie scheint ein Stück Wahrheit zu verkörpern, wenn sie meint " … auf jede Revolution folgt – wer wüßte es besser als ich – nach dem Heldengeschrei und den Siegeshymnen unausbleiblich ein ganzer Schwanz von Zwängen, Schmerzen und Entbehrungen. Sie sagen, das müsse man auf sich nehmen, denn morgen … morgen … Aber ich leide heute. Im Täglichen."

Carpentier setzt sich in diesem Roman jedoch nicht nur intensiv mit dem politischen Zeitgeschehen in Europa und Amerika auseinander, sondern gleichermaßen mit kulturellen und künstlerischen Entwicklungen dieser Epoche. Dabei greift er auf eine fast unglaubliche Bildungsfülle zurück. Zweisprachig – französisch und spanisch – aufgewachsen, hatte er sich durch sein Elternhaus, seine Schulbildung sowie das Studium von Architektur, Musik- und Literaturwissenschaften ein sehr vielseitige Wissen angeeignet, das ihn in Lateinamerika zu einem der bedeutendsten Musikwissenschaftler und -kritiker werden ließ. Inspiriert von der Musik Strawinskys arbeitete Carpentier selbst in den 20er Jahren zusammen mit dem Komponisten Amadeo Roldán an vier Libretti zu Ballettpartituren mit kubanischem Thema. In "le Sacre du printemps" ist Musik und Tanz nicht nur über das Ballettprojekt von Vera Gegenstand intensiver Betrachtungen; Carpentier spannt auch hier einen großen Bogen:

Die europäische klassische Musik Strawinskys und Beethovens wird genauso thematisiert wie beispielsweise der Jazz Josephine Baker's oder Tradition und Entwicklung afrokubanischer Rhythmen. Daneben fließen seine fundierten Literaturkenntnisse mit einer Fülle von Zitaten und Interpretationen in den Roman. Und auch der Auseinandersetzung mit alten und zeitgenössischen Malern hat Carpentier in "Le Sacre du printemps" Raum gegeben – von Goya, über die Surrealisten, Picasso und Miró bis hin zu den bekannten lateinamerikanischen Künstlern Diego Rivera und Wilfredo Lam, um nur einige zu nennen. Mit vielen dieser Künstler verbanden ihn persönliche Kontakte und Freundschaften.

Insbesondere bei der Beschreibung der Stadt Caracas setzt Carpentier sich schließlich auch mit Fragen von Architektur und städtebaulicher Entwicklung auseinander, immer wieder den Kontext zu den gesellschaftspolitischen und sozialen Problemen herstellend, wie etwa dem Anwachsen der lateinamerikanischen Metropolen – das "ungeheuerlichste urbanistische Maremegnum" mit seinem Ring von Elendsvierteln. Der Roman weist dabei in vielen Teilen die essayistischen Züge eines Kulturtheoretikers und -philosophen auf.

An anderen Stellen des Romans läßt Carpentier die Leser wiederum über die Begegnung mit der "wunderbaren Wirklichkeit Amerikas" in eine andere Welt eintauchen. Fasziniert von den phantastischen Erscheinungen Lateinamerikas, den Mythen und Traditionen der Schwarzen und Indios sowie der unberührten Natur, prägte er diesen Begriff 1947 nach Reisen durch Haiti und das Landesinnere von Venezuela. Diese "wunderbare Wirklichkeit Amerikas" (real maravilloso), deren Wahrnehmung nach Carpentier einen Glauben voraussetzt, sieht er in der Mystik, den Riten und der Magie der autochtonen und schwarzen Bevölkerung begründet, in dem Nebeneinander und dem Verschmelzen von Zeit, Raum und Kulturen.

Dieser Welt begegnet in "Le Sacre du printemps" Enrique auf einer Bahnfahrt durch Mexiko und läßt in ihm die Frage nach der eigentlich wahren Realität auftauchen: "Waren diese mit Körben, Krügen und Kindern beladenen Indias auf den Perrons der Bahnhöfe, wo unser Zug hielt, Frauen aus dem gerade ablaufenden Jahr oder Frauen aus den Jahren 1400, 1100, 800, 650 unserer gregorianischen Zeitrechnung? Waren sie nicht doch enger an ihre Pyramiden, ihre Tempel und den Kult von Göttern mit für mich unaussprechlichen Namen gebunden als an die Zementfabrik dort hinter den Agavenfeldern, deren Schornsteine mit Lettern beschriftet waren – Zeichen, die sie nicht verstanden? Sind sie es oder sind es die Menschen meiner Rasse, die außerhalb der Epoche leben? Welche Götter sind hier die wahren Götter? Die mit Kopal oder die mit Weihrauch verehrten? Die hier vom Himmel zu ihnen herabgestiegenen oder die aus fernen Ländern übers Meer gekommenen. Die, die von Anfang an die Sprache der Maismenschen sprachen, oder die mit Weizen und Oliven genährten, die ihre Sprache nie erlernen wollten. Die nie auf Synoden oder Konzilen diskutierten oder angefochtenen oder die – unvorstellbar für die Ekklesiastische Welt der Mayas oder Azteken -, die Schismen und Häresien erdulden mußten?"

Wie in seinen anderen Werken vermag Carpentier auch in "Le Sacre de printemps" die Leser durch seine meisterhafte Erzählkunst zu fesseln. Bildhaft, eindringlich, präzise sind seine Beschreibungen. Nicht so sehr die Handlung des Romans, sondern die Vielschichtigkeit, die Komplexität der angesprochenen Themen, vor allem jedoch die Sprache Carpentiers, die eine äußerst sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit widerspiegelt, bereitet Lesefreude, so daß keine der 683 Seiten die Leser ermüdet.

Alejo Carpentier:
Le Sacre du printemps
Roman. Deutsch von Anneliese Botond
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1993, 683 Seiten


Logo CUBA LIBRE Carola Hesse-Andres

CUBA LIBRE 4-1993