So gering die Chancen auch sind, es gibt sie

Ende Juni fand in Nürnberg ein vom Bundesvorstand der Freundschaftsgesellschaft veranstaltetes Seminar statt. Als Referenten waren eingeladen Darío Machado, Direktor des Zentrums für soziologische Forschung und Mitglied des ZK der PCC sowie Hans-Jürgen Burchard, Student der Volkswirtschaftslehre und Soziologie aus Freiburg, der über 16 Monate zu einem Studienaufenthalt auf Kuba war. Wolfgang Herrmann beschreibt seine Gedanken und Eindrücke.

Natürlich besteht kein Zweifel. Die 40 Freundinnen und Freund Kubas waren am 26. und 27. Juni 1993 nach Nürnberg gekommen, um sich für die Solidarität mit dem geliebten Sorgenkind wieder einmal aufzutanken. Meine Erwartungen wurden erfüllt. Ich erfuhr das, was ich gehofft, aber auch befürchtet hatte. Zwei Vorträge standen zur Diskussion. Da wir am zweiten, dem Diskussionstag, nicht mehr anwesend sein konnten, will ich meine Hoffnungen und Bedenken niederschreiben.

Darío Machado sprach zu aktuellen Problemen der Politik auf Kuba. Hans-Jürgen Burchardt wertete ökonomische und soziologische Studien aus, die er in mehr als 16 Monaten auf Kuba sammeln konnte.

Um es vorweg zu nehmen: Ich fand beide Vorträge interessant. Sie ergänzten und widersprachen sich, forderten Polemik heraus, was doch nützlich sein sollte. Das Ende des ersten Tages zeigte jedoch das Dilemma. Für einige Kubafreundinnen und -freunde scheint nur die eigene Sicht gültig zu sein. Ich möchte nicht Recht haben, sondern nur meine Meinung sagen dürfen.

Der Versuch Darío Machados, die politische und sozialwirtschaftliche Entwicklung Kubas zu analysieren sowie die daraus folgenden Politiken der kubanischen Führung zu begründen, hatte seinen Reiz. Über einiges muß wohl noch nachgedacht werden. Zu fünf Aspekten möchte ich streiten:

Erstens: Darío Machado behauptete, daß sich in der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern die Menschen von Sozialismus abgewandt hätten und schlußfolgerte, daß dies auf Kuba nicht geschehen könne.

In der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern haben sich nicht die Völker von Sozialismus abgewandt, sondern deren Führungen, die Wasser predigten und Wein tranken. Der Irrtum der Völker bestand darin, anzunehmen, sie bekämen etwas vom Wein ab, wenn sie den westlichen Ratschlägen folgten. Sicherlich gab es auch welche, die nur nach den vollen Weinkrügen schielten. In der ehemaligen Sowjetunion müssen die Menschen nun erstaunt feststellen, daß Jelzin, Gorbatschow, Alijew und Schewardnadse noch immer an den Weinkrügen sitzen.

Der Glaube an den Sozialismus ist in den Völkern nicht verlorengegangen, sondern in deren früheren und jetzigen Führungen. Das Ergebnis: Die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder verloren ihr Niveau. Sie haben heute die Strukturen von Entwicklungsländern angenommen. Die fünf neuen Bundesländern bilden keine Ausnahme. Ich will das nicht weiter ausführen.

Es gab Zeiten auf Kuba, in denen man ganz anders über Existenz und Rolle der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder sprach und schrieb. Noch am 7. März 1990 sagte Fidel Castro auf dem V. Kongreß der Föderation kubanischer Frauen:
"... Man kann von der Sowjetunion sprechen, glücklicherweise gibt es die Sowjetunion. Sie behält eine Linie bei, eine kohärente internationale Politik in ihrem Kampf für den Frieden. Die Sowjetunion ist nicht in die Hände von Konterrevolutionären gefallen ...".

Die DDR hat diese kohärente internationale Politik auf besonders deutliche Weise kennengelernt. In der gleichen Rede spricht Fidel Castro davon, daß "das Wort Internationalismus in den übrigen Ländern, die vorher zum sozialistischen Lager gehörten, nicht mehr erwähnt wird".

Das ist nicht ganz richtig. Die Regierungen dieser Länder nehmen dieses Wort nicht mehr in den Mund, bei den Internationalisten besteht es fort. Und nicht nur das Wort, sondern auch die Aktivität. Wo käme sonst in diesen Ländern die Solidarität mit Kuba her?

Folgten wir, die ostdeutschen Kubafreundinnen und -freunde, solchen Auffassungen, dann gerieten wir in eine zwiespältige Situation: einerseits gehörten wir zu denen, die nach Meinung mancher fast alles falsch gemacht haben. Andererseits hörten wir freundschaftliche Kritik und ungerechtfertigte Vorwürfe, dieses Fast-alles-Falsche nicht mutig genug verteidigt zu haben.

Die kubanischen Genossinnen und Genossen sollten daran denken, daß die Völker der Sowjetunion einmal ebenso stolz auf ihre Revolution waren, wie das kubanische Volk. Für den Versuch, die Gesellschaft umzugestalten, gaben Millionen ihr Leben.

Der Versuch mißlang, er erlitt eine Niederlage. Ist es solidarisch die Geschichte dieser Völker heute zu ignorieren? Revolutionäre dürfen doch nicht nur fähig sein, Triumphe zu feiern. Sie müssen auch Niederlagen ertragen können.

Zu einem zweiten Aspekt. Darío Machado stellte heraus, daß das sozialistische Kuba gestern und heute der Hauptangriffspunkt des US-Imperialismus und seiner Verbündeten sei und sich daraus die scharfen Probleme ergäben. Unumstritten ist das so. Aber traf das nicht auch für die Sowjetunion und das sozialistische Osteuropa vor dem Zusammenbruch zu? Die Welt macht USA und ihre Verbündeten wußten, daß dem Sozialismus im Weltmaßstab nicht beizukommen ist, wenn er auf Kuba zerbricht. Die Weltmacht Sowjetunion mußte verlieren.

Die Ursachen der Niederlage sind vielfältiger, als sie heute viele "wissen". Bestimmt kann gesagt werden, daß sie objektiver und subjektiver, globaler und spezifischer, innerer und äußerer Natur sind. Ich glaube, es ist unbesonnen, anzunehmen, sie kämen für Kuba nicht in Frage, weil man das kubanische Sozialismusmodell nicht mit dem europäischen vergleichen könne. Diese Phrase nahmen auch die osteuropäischen Länderführungen für sich in Anspruch.

Sie meinten, ebenfalls einen landesspezifischen Sozialismus aufzubauen, der sich von dem der Sowjetunion unterscheide.

Von unterschiedlichen historischen Wurzeln, nationalen Traditionen der Arbeiterbewegung und vielen anderen Spezies war zu hören und zu lesen. Darío Machado hat recht, wenn er den Meidenrummel der USA gegen Kuba anprangert. Sicherlich kann nicht verallgemeinert werden, daß der Stalinismus, wenn es ihn in der Sowjetunion gab, auch auf Kuba existiere. Der Gegner setzt jedoch sozialistische Macht mit Stalinismus gleich ob das der PCC paßt oder nicht. Wir wissen das auch noch längerer Erfahrung. Wer sich für das Ziel der Erschaffung einer sozial gerechteren Welt einsetzt, muß noch eine lange Zeit damit leben, mit dem Stalinismus in Verbindung gebracht zu werden.

Es hat also wenig Erfolg, die Verschiedenartigkeit des kubanischen Sozialismusmodells vom osteuropäischen zu deklarieren. Man muß sie schon beweisen. Ich hatte gehofft, Darío Machado würde das tun.

Damit bin ich beim dritten Aspekt: Im Gegensatz zu Hans-Jürgen Burchardt, der begründete, warum kubanische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler zu der Einschätzung gelangten, die Periode der "Rectificación" sei ein Mißerfolg gewesen, versuchte Darío Machado diese zu rechtfertigen. Das ist legitim. Jedoch hätte es dazu Gegenfakten zu den Fakten von Hans-Jürgen Burchardt bedurft. Und die hatte Darío Machado nicht. Er argumentierte oder zerredete in einer Art, die ich aus SED-Argumentationen kenne.

Man mag zu den Fakten, die der Student ausführte, stehen wie man will. Ich für meinen Teil muß anerkennen: Die in der DDR meinten, die führende Rolle zu verkörpern, hätten gut daran getan, auf "unliebsame" Fakten zu hören.

Darío Machado erklärte die Fähigkeit der kubanischen Führung, erkannte Fehler zu berichtigen. Das trifft unbedingt zu. Die PCC verstand und versteht es in ganz anderer Weise, flexibel zu sein, anstehende Veränderungen nicht auf die lange Bank zu schieben und originelle Lösungen zu probieren.

Das unterschied sie tatsächlich von den scheintoten führenden Parteien der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder.

Ich unterstütze auch die Behauptung, wohl das ökonomische, aber nicht das politische System der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder kopiert zu haben. Die Beweise, die Darío Machado dafür anführte, reichen mit jedoch nicht aus.

Ich will mich nicht damit auseinandersetzen, ob es auf Kuba und in der PCC Personenkult und Säuberungen gab und gibt oder nicht. Das ginge am Wesen vorbei. Außerdem wird es immer ein Unterschied sein, wer diese Erscheinungen zu welchem Zwecke benennt oder in Abrede stellt.

Zurück zu den vermeintlichen Unterschieden zwischen den klassischen Revolutionen, darunter versteht Darío Machado die europäischen, und der der kubanischen Revolution.

Er meinte: In Europa gab es erst die KP, dann die Revolutionen. Auf Kuba sei das anders gewesen. Da kennt er aber die Geschichte europäischer Revolutionen schlecht. In Europa fanden Revolutionen statt, als an die kommunistische Bewegung noch gar nicht zu denken war. Schöpften nicht die utopischen Sozialisten aus diesen Revolutionen für ihre Bewegung, aus der wiederum die Kommunisten ihre Schlußfogerungen zogen? (Außerdem gab es auch auf Kuba schon vor der Revolution eine "Moskau-orientierte" KP, sie nannte sich Sozialistische Volkspartei und war gegen den bewaffneten Kampf. Anfang der 40er Jahre stellte sie sogar einen Minister im Kabinett Batistas; Anmerk. Des Korrektors.)

Die kubanischen Revolutionäre betrachteten die Sowjetunion einmal als ihren strategischen Verbündeten. Welchen strategischen Verbündeten hatten die russischen Revolutionäre? Muß man Lenin und seinen Anhängern nicht die Annahme zubilligen, die Revolution nur erfolgreich durchführen zu können, wenn es eine festgefügte Organisation, die Partei der Revolutionäre gäbe?

Für mich ist deshalb unerheblich, ob die PCC vor oder nach der Revolution bestand oder nicht. Erheblich wäre gewesen, wenn die kubanischen Revolutionäre vor der Bildung einer kommunistischen Partei Abstand genommen hätten. Etwa so wie die Sandinisten. Aber das Gegenteil geschah.

Auf dem 1. Kongreß der PCC 1975 erklärte Fidel Castro unter anderem:

"Revolutionen durchlaufen meist utopische Perioden, in deren Verlauf ihre Protagonisten glauben, daß historische Ziele schnell verwirklichte werden können und daß der Wille, die Absichten und die Wünsche der Menschen unabhängig von den objektiven Bedingungen alles vollbringen können. Manchmal werden solche utopischen Meinungen von einer Verachtung gegenüber den von anderen gemachten Erfahrungen begleitet. Die kubanische Revolution hatte zu Beginn darauf verzichtet, aus den reichen Erfahrungen anderer Völker zu lernen, die mit dem Aufbau des Sozialismus seit langem begonnen hatten. Wären wir weniger eingebildet gewesen, so hätten wir begriffen, daß die revolutionäre Theorie in unserem Lande nicht voll entwickelt war und daß es uns an geschulten Ökonomen und marxistischen Wissenschaftlern fehlte, die allein in der Lage gewesen wären, wesentliche Beiträge zur Theorie und Praxis des Sozialismus zu leisten."

Wenn die PCC diese Erkenntnis für sich in Anspruch nahm, muß sie diese natürlich auch anderen zugestehen.

Kein wesentlicher Unterschied stellt der Fakt dar, in Kuba hätte es bürgerliche Parteien gegeben, mit denen man zurechtkommen mußte. Diese Parteien gab es in Europa auch. Und was für welche! Der Clou wäre gewesen, zu belegen, daß sich die bürgerlichen Parteien in die kubanische Revolution einbrachten und dort auflösten. Die Erfahrungen aus der DDR zeigen, daß diesbezügliches Wunschdenken gefährlich ist. Die bürgerlichen Partien, als Blockparteien bekannt, liefen in der "Revolution" einfach zu ihren "Brüdern und Schwestern" aus dem Westen über.

Oder der Vergleich mit der Verfassung. In der DDR gab es 1968 einen Verfassungsprozeß. Er verlief, zieht man die Fakten heran, so ähnlich wie der kubanische 1975/76. Es gab tausende Versammlungen, Millionen Teilnehmer, hunderte Veränderungsvorschläge, ein Referendum. Im gleichen Moment würgten die Sowjetmacht und ihre Verbündeten den Prager Frühling ab. Was die Verfassung versprach, das hielt sie nicht. Vertrauen wurde verspielt.

Die Einführung origineller Mechanismen und die formelle Teilnahme der Öffentlichkeit an Verwaltungsakten sind noch lange kein Beweis für einen anderen Charakter der Revolution. Das Volk wird immer vergleiche wie Wort und Tat der Regierenden zueinander stehen.

Es reagiert, wenn auch nicht sofort, sobald es Wortbruch zu erkennen glaubt oder es eine bessere Alternative, als die von den Regierenden angesagte, zu sehen meint. Das Volk jagt die Regierenden davon oder es verläßt sie. Besteht die Gefahr nicht auch auf Kuba?

Darío Machado wollte in guter Absicht grundsätzliche Unterschiede mit Beispielen belegen, die dafür keine waren.

Ein vierter Aspekt: Die Konstruktion Volk und Partei. Darío Machado meinte, die PCC sei eine From der demokratischen Teilnahme der kubanischen Volksmassen. Er meinte außerdem, daß die PCC zwar eine selektive Partei darstelle, aber die Auswahl der Kandidaten auf Vorschlag der Massen erfolgte. Die Darlegungen darüber, wie europäische Parteien das getan hätten oder tun würden, zeugten von Unkenntnis.

Fidel Castro sagte im Mai 1985 in den Gesprächen mit Frei Betto folgendes:

" … Was wir verlangten, war die vollkommene und vollständige Zustimmung zum Marxismus-Leninismus. Diese Strenge war bestimmt von jenen Umständen, in denen uns kein anderes Mittel blieb, als über die ideologische Reinheit der Partei zu wachen... Ich weiß nicht, ob vom einzelnen verlangt wurde: Um in die Partei eintreten zu können, mußt du deiner religiösen Überzeugung entsagen. Es wurde vorausgesetzt, daß er die Partei akzeptierte, die Politik und die Lehre der Partei in allen ihren Aspekten."

Und weiter: "Ich bin es gewesen, der vorgeschlagen hat: Nein, unter solchen Umständen ist das korrekt, und wir müssen eine völlige Reinheit verlangen. Wir müssen sie verlangen, weil die Vereinigten Staaten gegen uns sind und uns bedrohen.
Deshalb brauchen wir eine sehr einheitliche Partei, in der es nicht den kleinsten Riß gibt."

Ich kann mir nicht vorstellen, daß heute, wo der Druck der USA zugenommen hat, wo Probleme schärfer und die Wirtschaftskrise tiefer geworden ist, das Prinzip gelockert wurde. Eher ist das Gegenteil der Fall. Überhaupt: wie kann man rein sein, ohne sich vom Schmutz zu säubern?

Die PCC beruft sich auf die guten Ergebnisse der Wahlen von 1992 und 1993. zu recht. Vorsichtiger wäre ich jedoch mit der Schlußfolgerung, daß die Bevölkerung deshalb vorbehaltlos zur Partei stehe.

Das ist nicht der Gradmesser der Glaubwürdigkeit einer Partei. Das Volk wird immer fragen, ob die Partei auch vorbehaltlos zu ihm steht, ob sie aufmerksam auf die kritischen Töne im Volk oder nur auf die ihr angenehmen hört? Die Geschichte hat das gerade mit uns durchgenommen.

Man kann die Sache betrachten wie man will: Auch die PCC nimmt für sich eine Führungsrolle in Anspruch. Sie will sie anders als die osteuropäischen KP ausfüllen Einverstanden. Ich wünsche ihr, daß es gelingt. Den Führungsanspruch aber damit zu negieren, daß die PCC eine Form der demokratischen Teilnahme der Volksmassen sei, das halte ich für etwas blauäugig.

In seiner Rede anläßlich des 137. Geburtstages José Martís am 28. Januar 1990 sagte Fidel Castro:

"Ob die führende Rolle der Partei in der Verfassung steht oder nicht, ist unwesentlich... Es konnte in der Verfassung stehen oder auch nicht, weil es die Geschichte war, die der Partei die führende Rolle gegeben hat... In unserem Lande war es nicht die Verfassung, die eine Partei schuf, sondern in unserem Land schuf eine kommunistische Partei eine sozialistische Verfassung."

Die entscheidende Frage ist doch nicht die, ob eine Partei die führende Rolle von der Geschichte übertragen bekam oder nicht. Entscheidend ist, ob die Partei diese Führungsrolle auch tagtäglich vor dem Volk rechtfertigt.

Der fünfte Aspekt: Die wirtschaftlichen Betrachtungen Darío Machados erschienen mir naiv. Sie darauf zu reduzieren, daß der Hauptwiderspruch zwischen Gleichmacherei in der Verteilung und unterschiedlicher Arbeitsleistung bestehe, ist zu einfach.

Wer das so sagt, kann leicht in die Situation geraten, in der die Partei- und Staatsführung der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder 1989 waren. Ihre Werktätigen fragten sie: "Von der Verteilung habt ihr mehr als wir. Und was leistet ihr?"

Ich kann mir nicht vorstellen, daß die revolutionäre Regierung in Havanna mit dem Fahrrad fährt. Das ist auch nicht das Kriterium. Aber solche Fragen stellt das Volk, wenn es die von den Herrschenden ausgegebenen Parolen nicht mehr glaubt.

Nun gut, die Wirtschaft ist nicht Darío Machados Gebiet. Deshalb verwunderte mich schon, als er versuchte, das zu kommentieren, sogar zu bestreiten, was Hans-Jürgen Burchardt darlegte. Dieser tat nicht mehr und nicht weniger als auf der Grundlage eigener Studien, kubanischer Analysen und wirtschaftswissenschaftlicher Auffassungen seine Schlußfolgerungen zu ziehen. Das muß ihm wohl gestattet werden. Ich glaube, seine Schlüsse verteidigten eher die Versuche der Führung, Kuba aus der Krise herauszubringen, als daß sie diese in Frage stellten.

Es hat wenig Sinn, über "Periodo Especial" zu philosophieren und daran zu basteln. Sie ist eine Notlösung. Ihre Absichten sind eindeutig, ihre Maßnahmen wohl die einzig möglichen, die Prioritäten Essen und Gesundheit sehr verständlich. Das Überlebensprogramm wird nicht besser, wenn heute die Eigentumsfrage gestellt wird. Alle Wirtschaftsformen, die die menschliche Produktionsweise bisher hervorgebracht hat, ob Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, führten zur Entfremdung der Mehrzahl der Produzenten vom Eigentum an den Produktionsmitteln.

Wie eine Gesellschaftsform gleichberechtigter Produzenten und sozial Gleichgestellter aussieht, geschweige denn zustande kommt ist noch unbekannt. Wir wissen nur, daß sie die Alternative zur heutigen sein muß, wenn die Menschheit überleben will.

Das kubanische Volk ist aufgerufen, mehr zu produzieren. Den Aufruf zu realisieren, setzt voraus, etwas zu haben, womit oder woraus mehr produziert werden kann. Die Ressourcen Kubas sind gering. Ich wiederhole nur: die Lieferungen vergangener Jahre sind ausgefallen. Präferenzpreise werden nicht mehr bezahlt, Transportkosten nicht mehr verschenkt.

Engpässe ziehen immer den Schwarzmarkt und harter Währung immer Spekulationsgeschäfte hinter sich her. Wem ist es bisher gelungen, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen?

Darío Machado sagte, daß auf Kuba alle diejenigen investieren könnten, "die uns akzeptieren, die keine Bedingungen stellen, sondern nützliche Projekte vorschlagen."

Wer ist wir? Wer entscheidet, was nützlich ist und was nicht? Das Volk oder die PCC? Leider ist es noch so daß der die Entscheidung trifft, der das Geld hat.

Hans-Jürgen Burchardt bezifferte die Auslandsschuld Kubas von 1992 mit rund 6,2 Milliarden Dollar. Um das Überlebensprogramm durchzuführen, sind weitere Millionen notwendig. Wer gibt sie? Es wird davon gesprochen, daß die kubanische Gemeinde in Miami über zweistellige Milliardensummen verfüge, die für die Sofortinvestitionen auf Kuba bereitstünden. Es soll über Konditionen verhandelt werden.

Man muß kein Prophet sein,, um vorauszusagen, was dann geschieht. Die das Geld haben, werden versuchen, Macht zu kaufen. Die das Geld haben wollen, werden ein Stück Macht verkaufen. Und so werden die ersten Investitionen in die Taschen einiger fließen, die auf Kuba Macht und Einfluß haben. Das Volk wird draußen bleiben.

Die PCC kann sich drehen und wenden wie sie will. Ohne wirtschaftliche Impulse wird es schwer sein, das ehrgeizige Vorhaben durchzuführen. So gering die Chancen sind, es gibt sie. Dafür wollen auch die deutschen Freundinnen und Freunde Kubas wirken. Wichtig scheint mir, die Augen und Ohren für die Realitäten offen zu halten. So schwer dies auch fällt.

Ich höre und lese schon die Erbitterung über diese Zeilen. "Wen nützen sie?" wird gefragt werden. Es ist halt meine Überzeugung geworden, die ich aus dem Ablauf der vergangenen Jahre gewonnen habe. Mir ist Offenheit wichtiger, als taktische Halbwahrheiten und Verdrehungen.

Noch einen Satz zum Schluß: Solidarität mit Kuba ist für mich nicht nur die politische Diskussion, die Spende oder die Projektarbeit. Sie ist auch, und vielleicht vor allem, der Einsatz für politische Verhältnisse, zumindest aber für eine Politik in der Bundesrepublik Deutschland, die dem kubanischen Volk größeren Spielraum für die Realisierung seines revolutionären Projektes gibt. Über diesen Teil der Solidarität sprechen wir leider zu wenig.

Logo CUBA LIBRE Wolfgang Herrmann
Mitglied der PDS Prenzlau

CUBA LIBRE 3-1993