Im Juni 1993 fand in Wien die zweite UNO-Konferenz über Menschenrecht statt, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde. Im Vorfeld fand eine Konferenz von NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) statt, bei der sozusagen "von unten" über dasselbe Thema diskutiert wurde. Auf dieser Konferenz war auch die FG BRD-Kuba vertreten als eine der über 1.000 teilnehmenden NGOs.
Bereits am ersten Tag gab es heftige Auseinandersetzungen um die Frage, ob einzelne Länder wegen Menschenrechtsverletzungen namentlich genannt werden dürfen. Die UNO-Verwaltung wollte lediglich eine "allgemeine" Diskussion und versuchte dies sogar mit Einziehung von bereits gedruckten Programmen durchzusetzen. Diese Disziplinierung der Menschenrechtsgruppen gelang jedoch nicht.
Am 11. Juni tagten mehrere Arbeitsgruppen:
A. Fortschritte bei den Menschenrechten und größere Bedeutung der NGOs
B. Rechte der indigenen Bevölkerung
C. Stand der Rechte der Frauen
D. Zusammenhang zwischen Menschenrechten und der Entwicklung der Demokratie sowie der Bedeutung der NGOs dabei
E. Menschenrechte und Fremdenfeindlichkeit sowie Rassismus
Es gab ferner weitere ad-hoc-Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen.
Ich habe an der Arbeitsgruppe D teilgenommen. Auffallend war, daß der Begriff der "zivilen Gesellschaft" dort allgemein benutzt wurde und daß eine Entwicklung hin zur partizipativen Demokratie unter Einbeziehung der NGOs (und zwar nicht nur als NGO zur Verteidigung der Menschenrechte, sondern in einem allgemeineren Sinne der "Bürgervertretung") allgemein konsensfähig, ja fast eine Selbstverständlichkeit war. Das zeigt einen Trend auf, hin z einem anderen Demokratie-Verständnis. Beachtlich, daß die europäischen NGOs in dieser Arbeitsgruppe praktisch keine Rolle gespielt haben, sondern daß die Diskussion dominiert wurde von den Vertretern der NGOs aus der Dritten Welt, oder dem "Süden", wie es sich begriffsmäßig durchzusetzen scheint.
Ebenfalls deutlich wurde, daß es einen Trend gibt, die Frage der Menschenrechte nicht mehr isoliert als Frage der individuellen Menschenrechte zu sehen, sondern daß die ökonomische und soziale Komponente (also die "kollektiven Menschenrechte") immer stärker besonders von den NGOs aus dem Süden betont wird. In diesem Zusammenhang wurde der US-Imperialismus häufig und ohne erkennbaren Widerspruch als der mit Abstand größte Menschenrechtsverletzer genannt und angeklagt.
Am Abend referierte UN-Generalsekretär Boutros-Ghali. Seine Rede brachte nichts Neues und zur Problematik der Konferenz und zur Rolle der NGOs hat er keinen Beitrag geliefert. Er betonte den Zusammenhang von Menschenrechten und der Entwicklung der Demokratie.
Am 12.6. fand die Plenarversammlung statt. Es wurden Berichte aus den einzelnen Arbeitsgruppen vorgetragen, danach der zusammenfassende Bericht. Bereits hier gab es viel Unmut und auch heftige Proteste, weil der zusammenfassende Bericht viele der in den Arbeitsgruppen als wichtig erachtete Aspekte einfach unterschlug. Dann trat das Vorbereitungskomitee zurück, und es wurde heftig diskutiert, wie denn in Zukunft die weltweite Koordination der NGOs stattfinden könne. Chaotisch wurde s, als Jimmy Carter die Schlußrede auf dem NGO-Plenum hielt. Viele Teilnehmer hielten es für eine Unverschämtheit, daß ausgerechnet ein Jimmy Carter von den Organisatoren als Redner eingeladen wurde, und so buhte und skandierte eine beachtliche Minderheit die ganze Zeit: "Carter no, Carter no". Carter selbst sprach ungerührt mit Hilfe der Technik, denn nur mit Kopfhörer war seine Rede zu verstehen. Erst "sah er Kubaner", machte sie also für den Tumult verantwortlich, um sich dann selber zu loben. Während seiner Amtszeit sei jeder US-Botschafter ein Wächter der Menschenrechte gewesen und jede US-Botschaft "ein Paradies für Asylsuchende". Das sagte er wörtlich!
Das Ergebnis war ein tiefer Riß zwischen NGOs. Insbesondere die Lateinamerikaner wurden für den Zwischenfall verantwortlich gemacht, und so wurden beispielsweise die lateinamerikanischen Frauen aus dem Frauen-Forum ausgeschlossen. Die Zeit wird zeigen, ob sich dieser Konflikt legen wird oder ob auch langfristig ein Graben zwischen den NGOs aufgerissen wurde.
Die Rolle Kubas auf der NGO-Konferenz
Kuba wurde nicht an den Pranger gestellt, im Gegenteil: öfters wurde das Ende der Blockade gegen Kuba gefordert. Kubanische Vertreter waren akzeptierte und geachtete Diskussionspartner, in der Gruppe der lateinamerikanischen NGOs ist die Bedeutung Kubas unbestritten. Das wurde auch deutlich, als selbst bei Nichtanwesenheit von KubanerInnen diese von Mitgliedern lateinamerikanischer NGOs unter großem Beifall für Funktionen nominiert wurden.
Antikubanische Vertreter waren auf der NGO-Konferenz nicht anwesend und hätten dort auch keine Chance gehabt. Trotz intensiver Suche unter den zahllosen ausliegenden gedruckten Materialien habe ich nur einmal am letzten Tag ein Flugblatt der Cuban-American National Foundation (CANF) entdeckt. Angeblich soll sich Herr Bofill auch auf der Konferenz befunden haben, ich habe davon jedoch nichts bemerken können. Er hätte auch bei einer Wortmeldung keine Chance gehabt, den angesichts der lateinamerikanischen Realität der Todesschwadrone, Verschwundenen und Gefolterten hätte die Behauptung der CANF, daß Kuba das Land "des Todes und der Tränen" sei (so Flugblatt der CANF), wahrscheinlich nur Gelächter geerntet. Die Strategie der CANF scheint mehr darin zu liegen, bei Regierungen Lobby-Arbeit durchzuführen, während die NGOs für sie offensichtlich uninteressant zu sein scheinen.
Es wurde berichtet, daß im Viena-Centre am 11.6. eine Informationsveranstaltung der Exil-Kubaner stattgefunden hat, allerdings in einem praktisch leeren Saal. Ich habe davon nichts bemerkt, weder eine Ankündigung noch ein Kommentar seitens der lateinamerikanischen NGOs.
Aktivitäten im Umfeld der NGO-Konferenz.
Im Umfeld der Konferenz fanden zahlreiche Aktivitäten statt, sowohl langfristig geplante wie auch spontane Demos und Kundgebungen in der Wiener Innenstadt.
a) Soli-Veranstaltung am 11.6. in der VHS Margaretengasse mit Vertretern aus El Salvador, Guatemala, Mexiko, Kuba und Nicaragua. Sprecher für Kuba waren Luis Suárez Salazar, Leiter des Centro de Estudios de América, und Oscar Martínez als Vertreter von OSPAAAL. Es war eine gut besuchte Veranstaltung. In dieser VHS fanden zahlreiche Parallelveranstaltungen während der gesamten Konferenz statt.
b) Kundgebung am 13.6. auf dem Stephansplatz.
Es traten zahlreiche NGOs mit Rede- und Musikbeiträgen auf. Die kubanische Delegation war eingeladen, erschien aber nicht.
c) Informationsveranstaltung über die Blockade Kubas am 15.6. Sie war kurzfristig von Soli-Organisationen aus Spanien einberufen worden, prominenter Gast war der kubanische Außenminister Roberto Robaina. Bei der Veranstaltung versuchte IGFM-Vorstandssprecher Wichmann eine Provokation, was jedoch nicht besonders erfolgreich verlief. Viel der über hundert Anwesenden zerrissen die antikubanischen Flugblätter und äußerten ihre Sympathie mit der kubanischen Revolution. Dennoch versuchten vier Exilkubaner, eine Russin und Wichmann, die Veranstaltung "umzufunktionieren", und dazu eroberten sie das Mikrofon, eine Nordamerikanerin protestierte und wurde von Wichmann angerempelt, worauf er vom Sicherheitsdienst aus dem Saal geführt wurde.
d) Antikubanische Ausstellung. Die Cuban-American National Foundation führte zusammen mit der IgfM eine Ausstellung über die kubanischen "boat people" und über die "furchtbare Repression in Kuba" durch: Schlauchboote wurden ebenso wie Fotos von KubanerInnen in Seenot gezeigt, ohne daß auf die Hintergründe eingegangen wurde. Ferner waren Strafzellen aus verschiedenen kubanischen Knästen im Maßstab 1:1 nachgebaut. Thema der Ausstellung: Kuba, das Land des Terrors und der Tränen. Ziemlich plump. Entsprechend mager war auch der Besuch, obwohl der Ausstellungsort (Messepalast) sehr zentral gelegen war.
Noch zu erwähnen:
e) Nach Beginn der Regierungs-Konferenz zeigten die Exilkubaner erneut Flagge: In drei Zeitungsanzeigen auf Seite 3 im Standard (in etwa mit der FR vergleichbar) wurde plumpe Stimmungsmache gegen Kuba propagiert. Geantwortet hat mit einer anzeige im Standard die KPÖ.
Die Regierungskonferenz
Über die Regierungskonferenz wurde in den Medien ausführlich berichtet, weshalb eine Einschätzung hier überflüssig sein dürfte. Anzumerken wäre nur, daß jetzt antikubanische Aktivitäten deutlich zu beobachten waren – so die Anzeigenkampagne und die Versuche, Aktivitäten der kubanischen Delegation zu stören bzw. Provokationen durchzuführen.
Die Bedeutung Kubas in der Bewegung der NGOs
Sie geht am deutlichsten hervor aus der Deklaration von Quito, die am 29. und 30. Mai von über 100 NGOs aus Lateinamerika erarbeitet wurde. Bei dieser Konferenz haben die kubanischen NGOs eine wichtige Rolle gespielt.
NGOs in Kuba
Mehrere NGOs haben sich in letzter Zeit in Kuba konstituiert oder befinden sich im Gründungsprozeß. Nach meiner ganz persönlichen Einschätzung hängt dies einmal zusammen mit der weltweiten Bewegung der NGOs einen Platz zu finden. Zweitens ist es aber auch ein Ausdruck für den vorsichtigen und allmählichen Um- bzw. Ausbau des politischen Systems in Kuba selber, mit dem Ziel, den politischen Meinungsbildungspozeß zu diversifizieren, eine Vielfältigkeit von Möglichkeiten sowie eine größere Partizipation zu ermöglichen. NGOs haben sich auf den unterschiedlichsten Ebenen gebildet:
Politik: Carlos Varela, Centro de Estudios de Europa, evtl. weitere.
Bestehende Organisationen wie OSPAAAL, Kubanische Gesellschaft für die Vereinten Nationen wurden bzw. werden reaktiviert, um als NGOs auf internationaler Ebene aktiv werden zu können.
Kultur: Stiftungen für Musik (Silvio Rodriguez, Pablo Milanés), Malerei (Tomás Sánchez), in der Literatur befinden sich einige unabhängige Institutionen (noch ohne Stiftungscharakter) im Aufbau.
Umwelt: In diesem Jahr hat die UJC eine regierungsunabhängige Umweltorganisation gegründet.
Die NGOs und die Kuba-Soli-Bewegung
Welche Möglichkeiten hätte die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba, sich in der Bewegung der NGOs einzuklinken? Hier sollten zwei Ebenen unterschieden werden:
a) Internationale Aktivitäten
Wichtigste Voraussetzung ist m.E. Die notwendige internationale Vernetzung, zweitens eine sehr langfristige Arbeit und drittens eine enge Zusammenarbeit mit kubanischen und anderen nationalen Organisationen, was nicht einfach zu realisieren sein dürfte. Falls Interesse an einer internationalen Aktivität im Rahmen der NGOs bestehen sollte, sollte das umfangreiche Papier von Adams Dieng "Der Zugang nichtstaatlicher Organisationen zu den Menschenrechtsmechanismen der Vereinten Nationen" konsultiert werden, das in der Geschäftsstelle der FG vorhanden ist.
b) Zusammenarbeit mit NGOs in Kuba
Möglichkeiten gibt es meiner Meinung nach in einem erheblichen Umfang, da die kubanischen NGOs meines Erachtens sehr interessiert sind an einer Zusammenarbeit mit europäischen Organisationen. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist m.E. Eine inhaltliche Übereinstimmung und weiterhin der Wille, langfristig zusammenzuarbeiten.
Horst-Eckart Gross
CUBA LIBRE 3-1993