"Wir werden nicht nach Kuba gehen, um Prügel zu beziehen !"

Ende April diesen Jahres veröffentlichte die Tageszeitung "El Sol de México" ein Interview mit Raúl Castro.

Nach zweijährigem Drängen hatte Marion Vazquez Raña die Einladung zu einer "Nachtsitzung" von 22 Uhr bis 5 Uhr früh erhalten. Das Sensationelle an dem umfangreichen Interview sind Raúl Castros Erinnerungen an ein Gespräch mit der sowjetischen Führung. CUBA LIBRE veröffentlicht erstmalig in deutscher Übersetzung den entsprechenden Abschnitt. Auch in anderen Teilen des Interviews läßt Raúl Castro die Frage nach der Person seines Gesprächspartners offen, es könnte sowohl Breschnew, als auch Anropow oder Tschernenko gewesen sein.


General, Sie haben mir im Zusammenhang mit der Öffnung einiger geheimer Archive der ehemaligen UdSSR angedeutet, daß Sie etwas über die Beziehungen Kubas mit diesem Land zu sagen hätten. Worum handelt es sich?

Anfang der achtziger Jahre habe ich die Sowjetunion und traf mich zu einem offiziellen Gespräch mit dem Vorsitzenden des Obersten Sowjet und Generalsekretär der KPdSU an welchem der Verteidigungsminister und der Sekretär des Zentralkomitees für internationale Beziehungen teilnahmen. Ich kam auf ihr Ersuchen allein. Das Gespräch lief über einen sowjetischen Dolmetscher.

Von den ersten Wochen ihres Bestehens an hatte die Reagan-Administration eine besondere Aggressivität gegenüber Kuba demonstriert. Es war das Ziel meines Besuchs in Moskau, der sowjetischen Führung unsere Auffassung über die Notwendigkeit außerordentlicher politischer und diplomatischer Maßnahmen darzulegen, die den wieder aufkommenden Versuchungen der Yankies, Kuba militärisch anzugreifen entgegenwirken sollten.

Wir empfahlen eine offizielle sowjetische Erklärung gegenüber den Vereinigten Staaten, daß "eine Aggression gegen Kuba von der UdSSR nicht toleriert werden wird". Eine solche Erklärung gegenüber Washington hätte nach unseren Vorstellungen die Forderung enthalten können, eine strikte Einhaltung der Zusage aus der Oktober-Krise von 1962 über den Verzicht auf einen Angriff gegen Kuba zu verlangen. All das hätte von Gesten begleitet werden können, die eine Festigung der politischen und militärischen Beziehungen zwischen Kuba und der UdSSR demonstrieren.

Paß auf, Mario – die Antwort des obersten sowjetischen Führers war scharf: Im Falle einer nordamerikanischen Aggression gegen Kuba "können wir nicht in Kuba kämpfen", das sagte er wörtlich "weil ihr 11.000 km von uns entfernt seid". Und er fügte hinzu: "Sollten wir dahin gehen, um Prügel zu beziehen?"

Die sowjetische Seite ließ und wissen, daß sie zu keinerlei Warnung an die USA bezüglich Kubas bereit sei. Sie wollte Washington nicht mal an die Verpflichtung J.F. Kennedys vom Oktober 1962 erinnern, welches von jeder neuen Yankie-Administration in Zweifel gezogen wurde. Natürlich bot uns die UdSSR an, immer politische und moralische Hilfe leisten und Waffen entsprechend dem gültigen 5-Jahres-Programm zu liefern.

Du erinnerst Dich, das war der bösartigste Abschnitt in der ersten Periode der Reagan-Administration mit ihrem Scharfmacher Haig, dem Außenminister und ehemaligen Oberkommandierenden der NATO, der immer wieder frech die Niederschlagung der Revolutionen in Mittelamerika forderte und die Beseitigung ihrer Wurzel, die nach seinem Verständnis Kuba war.

Natürlich waren wir schon seit langem der Überzeugung, daß die UdSSR nicht nach Kuba in einen Krieg gehen würde. Wir wußten, daß wir im Verteidigungsfall lediglich mit unseren eigenen Kräften rechnen könnten. Aber es war eben in diesem Moment der größten Gefahr, in dem die sowjetische Führung uns in feierlicher, klarer und offizieller Form wissen ließ, daß Kuba im Angesicht einer möglichen militärischen Aggression des Pentagon in dramatischer Weise allein ist.

Es wäre für eine Aggression eine ungeheure Ermutigung gewesen, wenn die Vereinigten Staaten von dieser sowjetischen Haltung Wind bekommen hätten. Sie hätten davon ausgehen können, mit einer vollständigen Straflosigkeit zu rechnen. Das zwang uns, das Geheimnis sorgfältig zu hüten, um den Gegner nicht zu ermutigen. Wir mußten unsere Vorbereitungen verdoppeln, um einen Krieg des ganzen Volkes zu führen, wenn ihn uns der Imperialismus aufzwingen würde.

Und so geschah es, daß nach meiner Rückkehr aus Moskau das Politbüro lediglich eine allgemeine Information über die Reise erhielt. Genosse Fidel sagte auf dieser Politbüro-Sitzung, daß es eine sehr bittere Nachricht von ungewöhnlicher Wichtigkeit gäbe, die bis dahin nur er und ich kennen würden. Fidel schlug vor, die Führung möge bestätigen, daß die Angelegenheit in der allgemeinen Kenntnis des 1. und 2. Sekretärs des ZK verbleibe und nur durch sie behandelt wird, solange diese das für richtig halten. Dem stimmten alle zu.

Herr Minister, diese Erklärung der SU, Kuba im Falle einer Aggression allein zu lassen – führte das nicht zu einer Entfremdung zwischen den beiden Ländern?

Öffentlich blieben die Beziehungen so, wie sie waren. Es wurden sogar einige Gesten vorgeführt, die engere Beziehungen demonstrieren sollten, um den Gegner bezüglich der wirklichen sowjetischen Haltung zu desinformieren. Intern haben Fidel und ich und andere Genossen, die aus Gründen der Arbeit dann von der Angelegenheit erfuhren, der wir ihr die Code-Bezeichnung "Pandora-Büchse" gaben im Stillen und dem bitteren gelitten. Wir haben diese Erfahrung verarbeitet und aus ihr größere Energie für die alleinige Bewältigung unserer historischen Mission geschöpft. Allein, wie wir immer schon unsere Befreiungskriege geführt haben.

Die Tatsache, daß die Sowjetunion uns über ihren Beschluß informiert hatte, im Falle einer Aggression sich militärisch zurückzuhalten verminderte nicht um einen Deut die Gefahr, in der wir auf Grund der Ost-West-Spannungen schwebten. Ein Beispiel: die sowjetische Intervention in Afghanistan. Wir waren mit ihr nie einverstanden, doch wir weigerten uns, in den heuchlerischen Verdammungs-Chor der Imperialisten einzustimmen. Aber dieses Ereignis reizte die Vereinigten Staaten, genauso zu agieren. Natürlich, ohne es zu gestehen, in ihrer "Einflußzone". Ein weiteres Beispiel: das neue Afghanistan" seitens der Sowjetunion in Polen, zu dem es glücklicherweise nicht kam, hätte die Gefahr für Kuba außerordentlich erhöht. Kurz gesagt, wir schwebten auf Grund der permanenten Konfrontation und wegen jedem möglichen Konflikt zwischen den USA und der UdSSR in tödlicher Gefahr, ohne daß die sowjetische Seite bereit war, etwas für Kuba zu riskieren.

Logo CUBA LIBRE (Übers.: Johnny Norden)

CUBA LIBRE 3-1993