Vorbemerkung des Übersetzers: Nach Langenscheidts Handwörterbuch Spanisch hat Consagración sowohl eine religiöse Bedeutung "Weihe, Einweihung, Konsagration" als auch eine übertragene weltliche Bedeutung "Widmung, Aufopferung, Opfer".
Consagración bedeutet den persönlichen Einsatz für ein Ziel aus innerer Motivation, materielle Anreize sind nicht oder kaum relevant. Consagración ist häufig in Kuba anzutreffen und der Schlüssel zum Verständnis u.a. des Rätsels, warum hochkarätige Wissenschaftler; aber auch Sportler und andere Spitzenkräfte westliche Millionen-Beträge ausschlagen und in Kuba ein materiell bescheidenes Leben führen
In Kuba steht heute der Begriff "Consagración" bei der beruflichen Tätigkeit hoch im Kurs. Er wird praktiziert bei den Contingentes im Bauwesen und in zahlreichen Forschungsinstitutionen. Er impliziert einen vierzehnstündigen Arbeitstag und garantiert die Arbeitsvoraussetzungen. Ist dies ein Rückschritt in einer Welt, die bereits vor geraumer Zeit den Achtstundentag erkämpft hat? Ist es eine höhere Entwicklungsstufe der Arbeitsverhältnisse? Ein entscheidender Impuls, um die Wirtschaft aus der Krise zu führen? Ist es ein freiwilliger Beitrag oder Zwang? Entstehen dadurch soziale Probleme? Entsteht vielleicht sogar eine neue Ethik? Es waren zu viele Fragen, so daß nur die "Consagrados" eine Antwort geben konnten.
Was ist Consagración?
Sergio Valdés (Insituto de Investigaciones de la Industria Alimenticia):
Ich glaube, daß die einzige Form der Forschung, die in einer so dynamischen Welt wie der ehutigen und in einem Land mit derartigem technologischen Rückschritt wie Kuba etwas erreichen kann, die "Consagración" bei der Arbeit ist. Acht Stunden tägliche Arbeit reichen nicht aus. Das ist ein ziel. Wenn es heute notwendig ist, zehn, zwölf, vierundzwanzig Stunden zu arbeiten, dann muß ich dazu bereit sein. Aber wenn ich heute um 17.00 Uhr mit meiner Arbeit fertig bin und dann bis acht, bis neun Uhr abends bleibe, weil es das Ziel ist, dann ist das nur Zeitverschwendung. "Consagración" heißt, der Arbeit die notwendige Zeit zu widmen.
Tanja González (Gentechnologie):
Für die "Consagración" ist es unbedingt erforderlich, daß man fühlt, nützlich bis unentbehrlich für das Land zu sein. Deshalb impliziert das Konzept der "Consagración" ein politisches Konzept.
Roger Rubiera (Gentechnologie):
Die "Consagración" kann nicht an der Zeit, sondern an einem Prinzip gemessen werden: Die Arbeit als grundlegendes Element des Lebens.
Manuel Rodríguez (Gentechnologie):
Es ist nicht das Gleiche, 12 oder 15 Stunden täglich gezwungenermaßen zu arbeiten oder es gerne zu tun, mit Liebe. Hier fühlen die jungen Menschen, daß sie etwas sind, daß sie nützlich sind. Das stimuliert die Intelligenz, und das gibt dir die Kraft, viele Dinge dafür zu opfern.
Dr. Pedro Paglo Arias (INFUNCE):
Man kann zehn Stunden anwesend sein und nichts zustandebringen. Nur mit Liebe ist man produktiv. Du kannst zuhause sein, dann hast du eine Idee und fängst sofort an zu arbeiten, ohne daß dich jemand dazu zwingt. Die "Consegración" kann nicht aufgezwungen oder verordnet werden.
Weder neu noch aussergewöhnlich
Dr. Elena Díaz Miniet (INFUNCE):
Die "Consagración" ist nichts neues. Alle großen Wissenschaftler opferten sich für ihre Arbeit auf.
Zweifellos haben sich im Laufe der Geschichte Millionen Menschen für ihre Träume aufgeopfert und ihr eigenes Leben diesen Träumen gewidmet, großartigen und kleinlichen, schäbigen und altruistischen Träumen. Einstein, Madame Curie, Finlay haben sich aufgeopfert wie Edison – dieser widmete sich seinen Erfindungen ebenso wie ihrer Kommerzialisierung -, Modigliani und van Gogh opferten sich auf inmitten von Armut wie sich Balzac der großen Literatur ebenso widmete wie der angestrebten hohen sozialen Stellung. Für die Macht "se consagraron" Hitler, Elisabeth von England und Philip II. Zahlreiche Menschen haben ein Vermögen angehäuft und sie haben dies erreicht, weil sie ihr Leben der Aufgabe gewidmet haben, Geld anzuhäufen. Der Auswanderer lebt jahrelang von der Hand in den Mund, arbeitet täglich soviele Stunden, wie wir es uns heute kaum vorstellen können, und stets angespornt von dem Ziel, Geld anzuhäufen. Die "Consagración" ist also ebenso vielfältig wie die dadurch angestrebten Ziele. Ich behaupte nicht, daß ein überhaupt nicht altruistisches Ziel die Bedeutung des Plattenspielers oder des "Vater Goriot" schmälern, oder daß die jahrelange Schinderei des Gallego, bis dieser sein Geschäft aufgebaut hatte, nichtig sind. Auf der Suche nach Reichtum oder Ruhm, aus Ehrgeiz oder Eitelkeit, haben viele Menschen eine gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Welches sind die Beweggründe, die Risiken und die unweigerliche Entwurzelung, die jede Aufopferung impliziert?
Täglich vierzehn Stunden
Wird die Arbeitszeit nicht als Auflage und Belastung empfunden?
Niurka Meneses (Gentechnologie):
Unser Aufenthalt im Forschungszentrum ist freiwillig. Als ich dort anfing wurden mir die Gepflogenheiten erklärt und ich akzeptierte sie. Ich selber entscheide aus freien Stücken, ob ich hier arbeite oder nicht. Wenn man sich dafür entschieden hat dann ist die Eoinhaltung der Arbeitszeit ein Problem der Disziplin.
Roger Rubiera (Gentechnologie):
Ich bin der Meinung, daß in dieser Zeit das beste Maß für die "Consagración" die Zeit ist, die ich im Forschungszentrum verbringe. Es muß eine Gewohnheit aufgebaut werden, indem man sich dazu zwingt, eine bestimmte Anzahl von Stunden zu arbeiten, um die "Consagración" zu messen. Ich glaube nicht, daß dies der beste Indikator ist, aber immerhin …
Sergio Valdés (Instituto de Investigaciones de la Industria Alimenticia):
Aber alles, was als allgemeines Ziel proklamiert wird, führt zu keinen guten Ergebnissen. Die Leute fangen an zu simulieren, vertrödeln die Zeit. Es gibt sogar viele Forscher, die nicht einmal acht Stunden richtig nutzen.
Was wäre, wenn die Kontrollen, die festen Arbeitszeiten, der Ausweis abgeschafft würden? Würdet ihr dann freiwillig bis elf Uhr nachts bleiben, nur weil ihr an der Arbeit interessiert seid?
Niurka Meneses (Gentechnologie):
Ich glaube, in einigen Fällen ja, aber … Zuerst muß erzogen werden, muß eine Disziplin durchgesetzt werden, insbesondere bei den Hochschul-Absolventen. Ich meine, da´"Consagración" ein Konzept ist, daß für alle Arbeiter gültig sein könnte: Die acht Stunden gut zu nutzen, mit Hingabe arbeiten alles liebevoll nmachen.
Hinzu kommt …
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Dr. Elena Díaz Miniet (INFUNCE):
Was für Bedingungen gibt es für die "Consagración"? In anderen Forschungseinrichtungen, die ich persönlich kenne, sind die Bedingungen für diese "Consagración" vorhanden. Es wird sogar versucht, in der Nähe der Arbeitsstätte eine Wohnung zu finden.
Manuel Rodríguez (Gentechnologie):
Hinzu kommt, daß die Arbeitsbedingungen sehr gut sind, und daß gestattet einem, sich mit "Consagración" der Arbeit zu widmen.
Der gewöhnliche Kubaner, lebt die Wechselfälle des Alltags, so daß in einer hochgebildeten Gesellschaft ein guter Teil der Fähigkeiten tagtäglich darauf verwendet werden muß, mit List und viel Arbeit dem Mangel zu begegnen. Wenn in gewissen Arbeitsstätten die Forscher diesen Mangel nicht kennen, weil ihnen optimale Arbeitsbedingungen geboten werden, dann werden beachtliche Fähigkeiten freigesetzt, die sie nun vollständig in den Arbeitsprozeß einbringen können. Gleichzeitig ist damit eine potentielle Gefahr verbunden: Die schleichende Trennung der realen Realität und der künstlichen Realität, die als Arbeitserleichterung konzipiert ist. Entsteht so ein Bewußtsein der Auserwählten, eine Kastenmentalität? Nützlich oder schädlich? Das sind viele Fragen, überlassen wir besser ihnen die Antwort. Sehen sie solche Gefahren?
Tanja González (Gentechnologie):
Das ist unterschiedlich. Vor allem gibt es eine politische Entwicklung. Das ist nicht kritisch. Hier lesen die jugendlichen MitarbeiterInnen gehen ins Theater, ins Kino, und danach kommentieren sie es. Aber es ist eingeschränkter.
Manuel Rodríguez (Gentechnologie):
Und wenn wir am Wochenende nach Hause kommen, dann ist die Konfrontation mit den Problemen ein Schock.
Roger Uguera (Gentechnologie):
Es ist auch richtig daß ich zuhause während des periodo especial nicht so leben wie die gewöhnlichen Leute. Natürlich ist dies auch kein Gefängnis. Wir haben die Möglichkeiten, mit der Gesellschaft in Wechselwirkung zu treten, aber nicht wie die anderen Arbeiter.
Also hat die "Consagración" (und ich wiederhole es ständig: die einzige Art, etwas wirklich Großes zu erreichen) ihren Preis.l Aber in einer interdisziplinären und komplexen Welt wie der heutigen sind die Fachkenntnisse eines Biochemikers genauso wichtig wie seine Vertrautheit mit den sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen seiner Zeit. Jemand formulierte es bereits: "Ein Arzt, der nur die medizinische Kenntnis hat, weiß nichts über Medizin." Nach einer Periode der galoppierenden Spezialisierung – der Spezialist weiß viel über wenig und läuft Gefahr, alles über nichts zu wissen – hat sich die Wissenschaft gezwungen gesehen, sich der interdisziplinären Forschung und der Generalisierung zu widmen – wenig über viel zu wissen, um zu verhindern, alles über nichts zu wissen. Denn die Wahrheit schlüpft immer durch die Klassifikationen und Schubladen; es ist unmöglich, eine solide physikalische oder chemische Kultur zu erwerben, es muß Kultur erworben werden. Es geht nicht um Eigenheiten, sondern um etwas eminent praktisches. Aber am sensibelsten im gesellschaftlichen Bereich ist das Thema.
Eltern und Kinder
Marimá Vázquez (Gentechnologie):
Ich konzipiere mein Leben in Verbundenheit mit diesem oder einem anderen Forschungszentrum. Dies ist die Umgebung, in der ich immer arbeiten möchte.
Was denkt ihr über den Zusammenhang zwischen dieser Arbeitsstruktur und der Erziehung der Kinder?
Niurka Meneses (Gentechnologie):
Wir alle wurden schlecht erzogen, es war alles zu leicht und wir mußten wenig leisten. Ich glaube, daß es wichtig ist, die Kinder so zu erziehen, daß viel Arbeit nötig ist, um etwas zu erreichen. Vor der Bequemlichkeit gibt es eine anstrengende Phase, wo gesät werden muß. In der wenigen Zeit, die mir verbleibt, werde ich mich um meine Kinder kümmern. Hinzu kommt, daß Mütter hier früher herauskommen. In vielen Fällen lösen sich Vater und Mutter ab, um die Kinder abzuholen.
Manuel Rodríguez (Gentechnologie):
Es gibt Leute, die sind den ganzen Tag zuhause und widmen den Kindern nicht die nötige Aufmerksamkeit. Vielleicht weil wir wenig Zeit haben, kümmern wir uns um unsere Kinder mit viel Liebe.
Roger Uguera (Gentchnologie):
Die "Consagración" erfordert viele Opfer und Einschränkungen, einschließlich der Erziehung der Kinder. Es ist nicht dasselbe, wenn wir die Kinder um 17:00 Uhr sehen, als wenn wir jeden Tag erst um 23:00 Uhr das Forschungszentrum verlassen. Aber wenn wir uns unserer Arbeit hingeben dann müssen wir uns in allen Bereichen einschränken und auch Konsequenzen tragen.
Flexibilität
Lidia González (INFUNCE):
Wir können unsere Arbeit lieben, aber wir können auch lernen. Wenn es nun Faktoren gibt, die mich nicht zu dieser Liebe zur Arbeit erziehen, sondern die Entstehung dieser Liebe verhindern, dann kan es keine "Consagración" geben. Das können Vorgaben sein: Vielleicht bin ich im Morgengrauen produktiver, aber aus organisatorischen Gründen muß ich tagsüber arbeiten. Dieses Problem könnte mit Flexibilität gelöst werden, wenn ohne rigide Gesetze das Allgemeine mit dem Persönlichen vereinbart wird. Manchmal werden Gesetze geschaffen, um die Arbeitsdisziplin zu kontrollieren, aber dadurch wird nicht kontrolliert, sondern beeinträchtigt.
Die Zeit der Ergebnissen
Dr. Pedro Paglo Arias (INFUNCE):
Ich glaube nicht, daß feste Zeiten eine gute Maßnahme ist. Der Arbeiter muß mehr für seine Ergebnisse als für die investierte Zeit bezahlt werden. Es muß auch berücksichtigt werden, daß auch nicht beharrt werden darf auf Ergebnisse in sehr kurzer Zeit. Der Zeitdruck kann die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigen. Wissenschaft erfordert Zeit, Nachdenken und Suche nach Lösungen.
Kann sie heute nicht an den Ergebnissen gemessen werden?
Roger Rubiera (Gentechnologie):
Ja, aber auch an der Zeit.
Vladimir Martínez (Gentechnologie):
In der Molekularbiologie hat der Marsch erst kürzlich angefangen. Je schneller du voranschreitest, umso schneller kommst du zum Ziel. Das hängt mit der zeit zusammen, die du dafür aufbringst. Und zuhause kannst du keine Molekularbiologie betreiben.
Sergio Valdés (Instituto de Investigaciones de la Industria Alimenticia):
Wir hatten Forscher, die sich anstrengten und viel arbeiteten, aber es waren keine richtigen Forscher und sie brachten daher keine Ergebnisse. Wir haben sie in der Produktion untergebracht und dort sind sie hervorragende Techniker. Denn es hängt auch von den Fähigkeiten und Qualifikationen eines jeden einzelnen ab. Seitdem werden die Forscher evaluiert. Kein wahrer Forscher kann jemals abschalten, sei es zuhause, am Strand, während des Urlaubs.
Zwei Anmerkungen und einige nicht endgültige Schußfolgerungen
Dr. Eloána Díaz Miniet (INFUNCE):
Es ist eine Lüge zu behaupten, daß ein Mensch wie eine Maschine arbeiten kann. In der Realität würde dies nichts bringen. Wie jedes Lebewesen muß der Mensch das Wechselspiel von Aktivitäten und Ruhephasen respektieren.
Dieser Gedanke erinnert mich an das Vorgehen in zahlreichen Forschungseinrichtungen in der ganzen Welt: Immer mehr Freizeit wird den Forschern eingeräumt. Warum? Weil die Wissenschaft wie jede schöpferische Handlung nicht in eine Norm gepreßt werden kann. Die Kreativität fördern bedeutet, solche Rahmenbedingungen zu ermöglichen, damit die Kreativität aus Mangel an Arbeitsmitteln nicht beeinträchtigt wird, ein gutes Arbeitsklima zu erreichen, und die Kreativität belohnen, sowohl durch Prestige wie durch Geld. Herausgehoben werden muß, daß die schöpferische Aktivität stets einen Willen voraussetzt.
Dr. Pedro Paglo Arias (INFUNCE):
Man müßte aktiv sein in dem Sinne die Menschen an ihre Arbeit heranzuführen, damit die Leute sich berufen fühlen.
Jedem einen Arbeitsplatz gemäß seinem Wunsch anzubieten wäre optimal für eine liebevolle Tätigkeit und "Consagración", ist heute jedoch eine Utopie. Es gäbe jedoch keinen materiellen Reichtum – der auch eine kulturelle Bereicherung der Gesellschaft ermöglicht – ohne "Consagración", und diese ist nicht möglich ohne die unterschiedlichsten und tiefen Motivationen die jeden verpflichten.
Luis Manuel García
Übersetzung von Horst-Eckart Gross
CUBA LIBRE 3-1993