Eine ganz persönliche Meinung

WAS BRACHTE DER VI. PARTEITAG?

Der Parteitag brachte keine Überraschungen. Darüber wundern kann sich eigentlich nur, wer den wilden Spekulationen der westlichen Medien gefolgt war. Wen überraschte es, daß Fidel Castro sich nicht in das spanische Exil zurückzog, daß das Ende des sozialistischen Weges nicht beschlossen wurde oder daß die militanten Contras aus Miami nicht eingeladen wurden, Kuba zu übernehmen?

Aber wurde die Wiedereinführung der freien Bauernmärkte nicht häufig in Kuba gefordert? Fidel warf schon vor dem Parteitag seine ganze Autorität gegen dieses Ansinnen in die Waagschale, und so lehnte der Parteitag auch die freien Bauernmärkte ab. Dennoch muß Unbehagen verblieben sein, denn selbst nach der Diskussion auf dem Parteitag handelte Fidel Castro dieses Thema mindestens zwei Stunden ab-sein Diskussionsbeitrag füllte vier Seiten der Granma.

Also nichts gewesen außer den geringen Spesen

Also nichts gewesen außer den geringen Spesen, keine Veränderungen? Stimmt es also doch, daß das senile politische Fossil Fidel Castro starr und eigensinnig die Delegierten auf den kollektiven Selbstmord einschwor nach der Melodie "Sozialismus oder Tod", so daß selbst die wenigen noch vorhandenen Bruderparteien sowie ausländische Journalisten ausgeschlossen wurden und der Parteitag hinter verschlossenen Türen stattfand?

Nicht nur außerhalb Kubas waren die Erwartungen an den Parteitag groß, aber nüchtern betrachtet: Können die gigantischen Probleme mit Zauberformeln, mit Parteitagsbeschlüssen gelöst werden?

Die entscheidenden Ergebnisse lagen in den Zwischentönen

Die entscheidenden Ergebnisse lagen in den Zwischentönen, Weichenstellungen, Personalentscheidungen. Es ging um die Frage: Stellt sich die KP Kuba den heutigen Herausforderungen, analysiert sie nüchtern die Situation und zieht Konsequenzen, oder wird gehandelt nach dem Motto "Augen zu und durch"? Letzterer Ansatz wäre zelebriert worden mit Gästen und Presse, Grußadressen, Ovationen und vielleicht einem kritischen, vom vorher abgesegnetem Manuskript abweichenden Redebeitrag.

Das Gegenteil war der Fall: Auch nicht Fidel Castro, mit 5 Stunden 15 Minuten allein im einführenden Referat gut in Form, las Statements vor, die anderen Delegierten auch nicht. Offen und frei sollte die Diskussion verlaufen, und so war es: Schwarzmarkt, steigende Kriminalität, Korruption, Probleme des Tourismus, die Medien - viele akute Probleme der heutigen kubanischen Gesellschaft wurden offen und kontrovers diskutiert.

"wird "schmutzige Wäsche in der Familie gewaschen"...

Daher sehe ich den Ausschluß des Auslandes als Indiz für den Willen, Probleme offen und kritisch zu diskutieren, denn nach kubanischem Selbstverständnis wird "schmutzige Wäsche in der Familie gewaschen". Ich frage mich nur, warum diese konkrete und kritische Diskussion nicht auch in Anwesenheit ausländischer Freunde geführt werden kann, ist sie doch Beweis von Stärke und nicht von Schwäche der kubanischen Revolution. Oder wer meint, daß die Freunde Kubas die Realitäten nicht kennen und nur mit einer Idylle, einem Ideal solidarisch sind und sein können?

Außergewöhnlich auch die Vorbereitung des Parteitages: Es war eine Angelegenheit des gesamten kubanischen Volkes und nicht nur der Partei. Bereits der intensive Diskussionsprozeß vor dem Parteitag war Beweis dafür, daß die KP Kuba wissen wollte, wie das kubanische Volk die heutige Lage sieht. Auf 60.000 Versammlungen äußerten 3,5 Millionen KubanerInnen ungeschminkt ihre Meinung. Das Ergebnis waren 1,2 Millionen schriftlich fixierte Empfehlungen und Stellungnahmen. Warum aber wurden sie nicht veröffentlicht, nicht einmal eine Zusammenfassung?

Der Parteitag diente nicht nur der Analyse der externen und internen Ursachen der heutigen Probleme, denn auch mit der Heerschau des beeindruckenden wissenschaftlichen Potentials wurde dargestellt, daß Möglichkeiten zur Überwindung der Krise gegeben sind. Warum war es jedoch ein wichtiger Parteitag, ohne daß Überraschungen das Bild prägten?

Angesagt ist gesellschaftliche Dynamik

Mit der Rectificación wird seit Mitte der 80er Jahre sowohl Wirtschaft wie politisches System umfassend reformiert. Die kubanischen Farben des Sozialismus werden herausgearbeitet, gut kopierte schlechte Vorbilder werden abgebaut. Diesen Kurs hat der IV. Parteitag bestätigt. Angesagt ist daher gesellschaftliche Dynamik und nicht Stagnation. Zahlreiche Experimente in der Organisation und Leitung der Produktion werden weitergeführt und verallgemeinert, so unbürokratische und effektive Formen wie die der Contingentes gehören dazu. Die Beschlüsse zur wirtschaftlichen Entwicklung bestätigen diesen Kurs.

Einen neuen Akzent legte der Parteitag bei den privaten Dienstleistungen und der privaten Produktion - nicht die Verkündung ihrer Zulässigkeit ist wichtig, denn verboten waren sie nie. Entscheidend wird sein, ob sie tatsächlich gefördert oder behindert werden, ob Werkzeuge und Materialien zur Verfügung gestellt werden oder ob diese weiterhin "organisiert" werden müssen. Letzteres würde nur zur Abdrängung dieser Initiativen in die Kriminalität führen.

plan alimentario

Mit höchster Priorität wird der plan alimentario weitergeführt. Gelingt es tatsächlich, die Ernährung der kubanischen Bevölkerung damit zu sichern, dann dürfte eine ganz wichtige materielle Voraussetzung des Überlebens der kubanischen Revolution erfüllt sein. Es hat sich bisher jedoch gezeigt, daß neben der Produktion die Verteilung der Produkte ein ebenso großes, wenn nicht gar viel größeres Problem ist. Aber auch dazu konnte der Parteitag keine Rezepte anbieten, sondern Defizite bei der Organisation der Verteilung müssen ebenso vor Ort abgebaut werden wie Bürokratie und Schlendrian.

Besonders politischen Strukturen wurden diskutiert und verändert. Dies zeigte bereits der Diskussionsprozeß vor dem Parteitag. Ebenso ungewöhnlich auch die Auswahl der Kandidaten für ein Delegierten-Mandat wie für das ZK: Sie alle benötigten die Zustimmung der nicht in der Partei organisierten KubanerInnen. Dies ist ein Ausdruck für den Willen der PCC, die revolutionäre Partei aller KubanerInnen zu sein. Weiterer Beleg dafür ist der Beschluß, daß in Zukunft Gläubige in die Partei aufgenommen werden. Damit wurde lediglich die Diskriminierung der christlichen Revolutionäre aufgehoben, Anhänger afro-kubanischer Religionen sind schon lange in der Partei.

Doppelstrukturen von Regierung und Partei abgebaut

Weitere Beschlüsse wurden gefaßt, um die Beteiligung der gesamten Bevölkerung und insbesondere der unmittelbaren Produzenten an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Direkte Wahlen auf allen Ebenen sollen eingeführt wie Doppelstrukturen von Regierung und Partei abgebaut werden, um so die Machtbefugnisse sowohl der Abgeordneten wie der Organe des Poder Popular und der Regierung zu stärken. Dies wird gesehen als Entwicklung hin zur realen Vergesellschaftung und Überwindung der teilweise nur formalen Vergesellschaftung.

Waffen an Contingentes ausgegeben

Ein Dilemma ist und bleibt, daß parallel zur Entwicklung der Demokratie staatliche Zwangsmaßnahmen angesichts von wachsender Kriminalität und Korruption intensiviert werden sollen. So wurden gleich nach dem Parteitag Waffen an Contingentes ausgegeben, damit diese ihre Produkte schützen können.

Es ist eine Gratwanderung, einerseits die Demokratie auszubauen und andererseits sich gegen interne und externe Feinde und Gegner des Sozialismus zur Wehr zu setzen. Wie schwierig diese Gratwanderung ist zeigte sich nicht nur bei den administrativen Maßnahmen gegen den Film "Alicia im Dorf der Wunder", die auf den einhelligen Protest der kubanischen Künstler gestoßen sind. Ermutigend, daß diese Auseinandersetzungen in Kuba geführt werden können, auch wenn nicht in öffentlicher Form.

Die Personalentscheidungen bei der Zusammensetzung des ZK und des Politbüro zeigen, daß alle Kräfte innerhalb der KP Kuba berücksichtigt wurden und daß an der Einheit aller Kräfte festgehalten wird. Fragen kommen auf angesichts der Machtfülle des ZK, die in einer so schwierigen Lage verständlich sind, deren Auswirkungen auf die innerparteiliche Demokratie jedoch noch nicht abzusehen sind.

Überleben in einer feindlichen und aggressiven Umgebung

Für das Überleben in einer feindlichen und aggressiven Umgebung wird auf alle vorhandenen Möglichkeiten zurückgegriffen. Wenn Kuba sich ungestört von äußerem wirtschaftlichen wie politischen Druck seiner eigenen Entwicklung widmen könnte, dann wäre nicht nur der Geheimdienst DSE weniger aktiv, sondern auch die Diskussion über die Probleme der kubanischen Gesellschaft wesentlich einfacher und der gesellschaftspolitische Diskurs umfangreicher, differenzierter, intensiver, also freier.

Es bleiben viele offene Fragen

Es bleiben viele offene Fragen nach diesem Parteitag. Gigantisch sind die internen Aufgaben ebenso wie der Druck von außen. Wie werden die Beschlüsse des Parteitages umgesetzt? Werden die Versorgungsengpässe bei Nahrungsmitteln überwunden? Werden zukünftige Entscheidungen von Partei und Regierung dazu beitragen, daß die große Mehrheit des kubanischen Volkes weiter das sozialistischen Projekt trägt? Dann, aber nur dann kann der Sozialismus in Kuba überleben.

Logo CUBA LIBRE Horst-Eckart Gross

CUBA LIBRE 4-1991