Es ist nicht leicht, ein Buch zu rezensieren, das schon kurz nach seiner Veröffentlichung teilweise überholt ist.
Die Veränderungen in den ehemals sozialistischen Ländern, mit denen Cuba wirtschaftlich und politisch eng verknüpft ist, ergeben ganz neue Voraussetzungen für die zukünftige Entwicklung Cubas. In dem vorliegenden Band konnten die rasanten Veränderungen der letzten Jahre nicht berücksichtigt werden, so daß beim Lesen teilweise das Gefühl entsteht, es gehe um längst vergangene Zeiten. Um Zeiten, als die (sozialistische) Welt noch in Ordnung war.
Gross/Thüsing haben dennoch durch eine Reihe spannender Beiträge ein Buch herausgegeben, das nach wie vor aktuell ist und das genannte Manko ausgleicht. Der Band enthält eine Vielfalt von Informationen und Standpunkten zu gesellschaftspolitischen und ökonomischen Fragen, die vor allem sehr nützlich sein können für Menschen, die sich mit Cuba zu ersten Mal befassen. Die eindeutige Gliederung des Werkes leitet den/die LeserIn an Politik und Gesellschaft des revolutionären Cuba heran: vom programmatischen Werk Fidels "Die Geschichte wird mich freisprechen", über Wirtschaft, sozialen Alltag, Außenpolitik und vieles mehr, bis zu den letzten Reden Fidels (vom Anfang 1989), in denen der aufkommende Dissens innerhalb des sozialistischen Lagers anvisiert wird.
Die Qualität der Beiträge ist unterschiedlich. Obwohl die Herausgeber den Anspruch formulieren, kritische cubanische Autoren zu Wort kommen zu lassen, ist von einer grundsätzlichen Kritik der Wirtschaftspolitik wenig zu finden. Positiv ist mir nur ein Artikel über die Entwicklung der cubanischen Nickel-Industrie aufgefallen. Lechleiter verdeutlicht durch die schonungslose Darstellung der Probleme dieses Industriesektors die Schwierigkeiten, die mit der Übertragung von Technologien und Organisationskonzepten eines Landes (in diesem Fall UdSSR) in ein anderes mit ganz anderem Klima und Arbeitertradition (Cuba) verbunden sind.
Total ärgerlich dagegen ist der Beitrag über Atomenergie in Cuba, der vom Leiter der Atomenergie-Kommission Cubas, Fidel Castro Díaz geschrieben wurde. Er enthält zwar eine Fülle von Informationen zur Nutzung der Nukleartechnologie in verschiedenen Sektoren (Medizin, Energie, Forschung) und zum Aufbau dieses Wirtschaftssektors in Cuba. Insgesamt wird aber die Atomenergie (einschl. des Schnellen Brüters und der Schimäre der Kernfusion) als einzige Perspektive mit Argumenten verteidigt, die wir in (Atom-)Energieüberfluß Lebenden umweltbewußten Menschen zwar verstehen, aber angesichts der Gefahren nur ablehnen können. Mir ist die Situation der Entwicklungsländer im Hinblick auf die knappen Energieressourcen wohl bekannt. Das Problem ist die Verharmlosung der Gefahren und der Ton, der auch gegenüber jenen angewandt wird, die sich grundsätzlich gegen die Nutzung der Atomenergie wenden. Sie werden nämlich in den Topf der "Feinde" und der "Verleumder der Revolution" geworfen, die sich gegen die Nutzung der Atomenergie durch Entwicklungsländer wenden, um deren Abhängigkeit von der !1. Welt" zu festigen.
Gänzlich unglaubwürdig wir der Beitrag, wo er sich mit dem SUPERGAU von Tschernobyl auseinandersetzt. Die menschlichen Todesfolgen der Katastrophe sind schlicht falsch dargestellt (31 Tote sollen es nur gewesen sein!). Aber noch nicht genug: die Tatsache der radioaktiven Verseuchung der Umgebung und der Kontamination weiter Teile Europas durch den Fall-Out werden einfach nicht erwähnt. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß in dem Artikel nicht die neuesten Erkenntnisse berücksichtigt sein konnten, kann man die Darstellung bestenfalls als technologiegläubig bezeichnen. Das angeführte Gegenargument, daß andere Katastrophen – wie Seveso, Bophal – oder Verkehrsunfälle Tausende von Toten zur Folge hatten und haben und keine Medienecho gefunden hätten, sticht zumindest bei jenen Menschen nicht, die sich im umweltpolitischen Kampf seit Jahren auch gegen die Gefahren der Chlor-Chemie (Stichwort Boehringer/Hamburg, Bayer-Coordination etc.) oder für eine andere Verkehrspolitik einsetzen. Ich empfinde es als eine Zumutung, so etwas lesen zu müssen. Nebenbei gesagt: über alternative Energie verliert der Autor kein Wort!
Erfrischend und wirklich realitätsnah dagegen die Beiträge über gesellschaftspolitische Fragen in Kuba (siehe Interview in diesem Heft), der Tourismus, die Kirche in Cuba, die Erziehung, das Gesundheitswesen und die Umweltpolitik werden differenziert und spannend dargestellt.
Die Polemik um Cuba-Solidarität ja oder nein, finde ich etwas aufgesetzt. Natürlich ist Cuba im Verhältnis zu den meisten Entwicklungsländern sehr entwickelt und dennoch braucht das Land weiterhin unsere Solidarität (oder gerade jetzt erst recht)! Ich sehe darin keinen Widerspruch. Das heißt aber nicht, daß man nicht kritisch sein darf. Wer heute an "unbedingter Solidarität" festhält, hat aus der Entwicklung in Ost-Europa nichts gelernt.
Alles in allem ein lesenswertes Buch, vor allem weil es seht verschiedene Aspekte Cubas darstellt. Schade nur, daß eine der eindeutigen Stärken der cubanischen Revolution – nämlich die Kultur – wohl aus "technischen Gründen" nicht thematisiert ist. An diesem Politikfeld ließen sich weitere Vorzüge des cubanischen Weges aufzeigen.
Horst-Eckhard Gross / Klaus Thüsing (Hrsg.)
Edition Marxistische Blätter
24,80 DM
I. Oquiñena
CUBA LIBRE 1-1990