Prof. Dr. Monika Krause ist Leiterin der Kommission für Sexualerziehung in Kuba. Sie kommt Mitte März in die Bundesrepublik und wird auf Informationsveranstaltungen der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba über die Erfolge und die Schwierigkeiten ihrer Arbeit sprechen.
Wie steht es mit der Gleichberechtigung der Frau in Kuba?
Wenn wir den Zugang der Frau zum Bildungswesen und die Stellung der Frau in Bezug auf Befähigung für das Berufsleben betrachten, dann kann ohne jegliche Übertreibung festgestellt werden, daß praktisch 100prozentig die Gleichberechtigung erreicht ist. Jungen wie Mädchen gehen zur Schule, die überwiegende Mehrheit geht weiter bis zur Mittelschule und bis zum Abitur. Aber dann beginnen schon die Probleme der nicht gelösten Fragen der Gleichberechtigung. Frauen wollen oft noch typische Frauenberufe ergreifen. Wir haben Tausende von Jahren der negativen Beeinflussung im Bereich der Gleichberechtigung zu überwinden, zu korrigieren, und das ist das langwierigste, die schwierigste Arbeit überhaupt, die Veränderung des Bewußtseins, der Mentalität, der Einstellung der Bevölkerung.
Jetzt also zu Angelegenheiten der Ehe, Familie, Partnerbeziehung, Sexualität: da ist die situation noch ziemlich unbefriedigend, Wir können trotz intensiver Forschung keine quantitativen Angaben machen, und so kann man nicht sagen, daß 50 Prozent der Frauen ein entsprechendes Selbstbewußtsein haben in dem Sinne, daß sie gleiche Rechte, gleiche Verpflichtungen auch in der Intimität, in der Ehe und Familienleben, in Bezug auf Sexualität vertreten, das wäre absurd, so kann man das nicht sagen. Denn zu einer selbsbewußten Einstellung gehören so furchtbar viele Faktoren. Aber ich würde sagen, daß in dieser Sphäre die Vorurteile, Tabus, Unwissenheit in allen Schichten der Bevölkerung noch sehr stark sind. Angefangen vom Bauern in einem kleinen Dorf bis zum Lehrstuhlinhaber ist die sexuelle Unwissenheit noch ziemlich ausgeprägt. Bis zum Sieg der Revolution war praktisch Sexualität gleichbedeutend mit Reproduktion, und Sexualität gleichbedeutend mit Bedürfnissen für den Mann und Pflichten für die Frau. Der kubanische Mann wurde traditionell als Libertin und die Frau als Nonne erzogen. Daß das nicht so recht klappen kann, ist logisch. Vor der Revolution galten Beschränkungen und Wertvorstellungen, die ganz einfach aufgezwängt wurden, die Leute hatten sich daran zu halten.
Im Gegenteil zu anderen lateinamerikanischen Ländern, wo die katholische Kirche großen Einfluss unter der Bevölkerung gehabt hat, und auch noch hat, hat sich die Kirche in Kuba praktisch nur mit den reichen Leuten beschäftigt. Die ärmeren Leute, die weder in die Kirche gingen noch irgendwie Kontakt hatten, hatten im Verlauf der Jahrhunderte eine Art Familienkatholizismus etabliert, demzufolge der Mann im Hause der Vertreter Gottes war; er hatte über alles, was im Hause gemacht wurde, zu bestimmen. Das hat auch jetzt noch Auswirkungen. Alte katholische Normen über Sexualität, über Familie haben noch ein großes Gewicht in der Gesellschaft, obwohl die kubanische Bevölkerung sich dessen nicht bewußt ist. Wie dieser hoch anerkannte Arzt, der behauptet, daß die Passivität der Frau biologisch bedingt ist, und daß z.B. der Rat für eine Frau, die sich beklagt, weil sie im Sexualleben keine Befriedigung findet, darin besteht, dem Mann etwas vorzuspielen, denn sonst würde er sich vielleicht eine andere suchen. Das ist also die goldene Faustregel für einen Allgemeinmediziner wenn eine Frau ihn um Rat bitten sollte, was selten vorkommt. Das ist meiner Ansicht nach ganz klar ein Relikt des religiösen, speziell des katholischen Einflusses, ebenso wie die Doppelmoral und die Diskriminierung der Frau.
Afrikanische Religionen spielen ja in Kuba eine sehr große Rolle und in ihnen spielt die Frau eine andere Rolle als in der katholischen Kirche, auch die Einstellung zur Sexualität ist eine andere. Wie kommt es, daß bei dem großen Einfluß der afrikanischen Religionen in Kuba sich die katholische Kirche so stark durchsetzen konnte, und daß die afrikanischen Religionen in diesem Bereich keinen Einfluß ausüben konnten?
Es gibt mehrere Faktoren, die ganz großen Einfluß ausgeübt haben und die unbedingt berücksichtigt werden müssen... ich bin überzeugt, daß die Spezifik der Kolonisierung und der Etablierung des Kolonialsystems in Kuba ganz entschieden beigetragen hat zur Herausbildung dieser übertriebenen Normen und dieses so übertriebenen Machismo, dieser so übertriebenen Mannesüberbewertung und Unterbewertung der Frau. Da haben wir z.b. die Tatsache, daß nach Kuba nur Männer kamen, Spanier. Es nahmen keine Frauen an der Eroberung teil. In kürzester Zeit ist die Urbevölkerung ausgerottet worden, so daß deren kulturelles Erbe nicht übernommen wurde. Das ging verloren mit dem Tod der Tausenden von Indianern. Die Spanier, die das Land eroberten, kamen zum größten Teil aus dem Süden Spaniens, bringen also in die sogenannte neue Welt reaktionäre Auffassungen und Konzeptionen über Sexualität nach Kuba; ein Mischmasch aus Inquisition, Hexenverbrennung, Verfolgung und arabischen ideologischen Strömungen, denen zufolge die Frau ein unterwürfiges Wesen ist, das nie auf der gleichen Stufe mit dem Mann stehen kann. Dann müssen wir die Politik der Kolonialbehörden berücksichtigen und allgemein der Spanier in Kuba gegenüber den Afrikanern. Da gibt es sehr große Differenzen in der Einstellung zur Sexualität zwischen Afrikanern und Spaniern, aber sie haben auch einen gemeinsamen Nenner, und zwar die Überbewertung des Männlichen und die Unterbewertung der Frau. Die Afrikaner, für die Sexualität etwas ganz natürliches ist, was mit zum Leben gehört wie Wasser trinken und Brot essen, betrachten die Frau auch als sekundäres Wesen, als ein Wesen, das dem Mann gehört, das selber kein Recht auf Befriedigung hat und dessen Wert ermessen wird an der Anzahl von Jungen, die sie zur Welt bringt. Da findet man den gemeinsamen Nenner zwischen spanischen und afrikanischen philosophischen Einstellungen zur Sexualität. Die Mehrzahl der Sklaven waren Männer. Sie mußten Spanisch sprechen, ihnen wurde die katholische Religion aufgezwungen und dennoch wurde darauf nicht so streng geachtet, wie z.b. in den späteren Vereinigten Staaten, also in den dreizehn Kolonien, wo die Sklavenbesitzer sehr streng auf die Assimilierung der Religion, meistens der protestantischen Religion achteten. Afrikanische Kultveranstaltungen wurden oft mit der Todesstrafe geahndet. Hier in Kuba war dies nicht der Fall, hier entwickelte sich eine Art Synkretismus.
Es ist ganz klar eine Vermischung der unterschiedlichen afrikanischen Kultströmungen, wobei es einige gibt, die sehr stark sind andere, die nicht so stark sind. Die meisten Kultanhänger hier haben Xango als den größten Vertreter der Gottheit, der mit Feuer alles tötet, der mit Feuer die Erde beherrscht, der Besitzer aller irdischen Güter, darunter auch der Frauen, mit denen er machen kann, was er will, und die Frauen müssen ihm zu Verfügung stehen. Die Frauen müssen ihn stimulieren, und die spanische Jungfrau Santa Barbara entsprechende Göttin der Afrikaner ist im antagonistischen Unterschied zur Santa Barbara eine afrikanische Frau mit einem unglaublichen Sexappeal, mit einer außergewöhnlichen Sinnlichkeit, für die auch Sexualität nichts Schlechtes bedeutet, ganz im Gegenteil, für sie ist Sexualität etwas Gutes, aber im Dienste des Mannes. Da liegt der Unterschied. Und trotzdem koexistieren die verschiedenen Strömungen. Alle laufen allerdings auf ein gemeinsames Ziel hinaus: Sexualität ist etwas, was für den Mann große Bedeutung und worauf der Mann ein Recht hat und was für die Frau eine Verpflichtung bedeutet. Ein weiterer Unterschied zur katholischen spanischen philosophischen Strömung besteht darin, daß eine Frau, sei sie schwarz oder weiß, bis zur Hochzeit Jungfrau sein muß, daß eine Frau ihrem Ehemann gehorchen muß, daß der Mann das Haupt der Familie ist …
Der Mnn ist von Natur aus so, daß er Sex braucht, und dem Mann muß man es erlauben, daß er, obwohl er verheiratet ist, sich etwas anderes sucht, sonst ist er kein Mann, sonst ist er ein Schlappschwanz oder ein Homo, was noch schlimmer ist. Und die Frau, die was auf ihren Mann hält, muß es ihm gestatten. Denn sie ist ja die Frau von einem, der wirklich ein Mann ist. Diese Situation steht in einem krassen Widerspruch zu den Aussagen der Verfassung, die Gleichberechtigung garantiert, die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen genauso verbietet wie Diskriminierung. Aber geschriebenes Gesetz wird nicht automatisch zu lebendem Gesetz. Das erfordert eine langwierige politisch-ideologische Arbeit, eine systematische politische ideologische Arbeit, und das ist es was wir tun... Und da sehen wir die Schwierigkeit der Veränderung, der Einstellungs- und Mentalitätsveränderung. Denn wenn die Leute überzeugt sind, das ist so normal, daß ein Mann sich so und so verhält, das ein Mann so und so oft in der Woche Geschlechtsverkehr haben muß, dann muß ich als Frau ihm zur Verfügung stehen, dann ist das meine Verpflichtung. Es ist vielleicht ein Schicksalsschlag, daß ich nun ausgerechnet eine Frau geworden bin, aber da ich nun eine Frau bin, habe ich mich daran zu halten. Und das ist die Einstellung vieler Frauen auch heute. Die Tatsache, daß z.B. voreheliches Sexualleben verboten ist bzw. als unehrenhaft gilt, d.h. Für eine Frau noch großen Wert hat, sehen wir z.B. daran, daß jährlich ungefähr 24.000 junge Mädchen, Teenager im Alter bis zu 19 Jahren, heiraten, Und daß gleichzeitig jährlich auch ungefähr 20.000 sich scheiden lassen, nur in dieser Altersgruppe, also bis zu 19 Jahren alte Mädchen. Die Ehe hat praktisch keinen Wert. Ja, 24.000 Hochzeiten gegen 20.000 Scheidungen. Das ist ein Beweis dafür, daß diese Ehen praktisch nicht hätten geschlossen werden dürfen, daß sie völlig sinnlos waren, daß die Faktoren Vorbereitung auf Partnerschaft, Liebe, Ehe, Familie keine Rolle spielten Die Heirat wird ganz einfach zu Angelegenheit der persönlichen Ehre der Familie, denn der Vater merkte, daß seine Tochter schon einen hat, denn sie wirft ein Auge auf Manuel; ja, sie wird wahrscheinlich schon angefangen haben, irgendwie ein bißchen mit ihm 'rumzuspielen, und beide werden schon was gehabt haben, also müssen sie heiraten. Dann werden sie verheiratet...
Nur auf dem Lande oder auch in den großen Städten?
Stadt und Land, aber hauptsächlich auf dem Lande. Und den größten Anteil finden wir nach wie vor in den östlichen Provinzen. In jeder Hinsicht ist in den östlichen Provinzen ein markanter Unterschied im Entwicklungsniveau insgesamt, aber ganz besonders im sozialen Bereich zu vermerken. Dort werden mehr Kinder geboren, dort werden viel mehr Mädchen als Teenager schwanger. Dort haben wir auch eine entsprechend größere Anzahl von Mädchen, die die Schule verlassen und Hausfrauen werden. In einer Etappe, wo die Frauenföderation ganz intensiv um die Einbeziehung der Frau in bezahlte Arbeit kämpft, sehen wir, daß jedes Jahr ungefähr 6.000 Mädchen die Schule verlassen, also nicht 'rausgeworfen werden oder kein Geld haben, denn es kostet ja nichts, sondern ganz einfach, weil sie schwanger geworden sind; oder weil sie geheiratet haben und der Mann sagt, ich komme für dich auf du wirst nicht weiter zur Schule gehen, du wirst keinen Beruf ausüben, du wirst nicht auf bezahlte Arbeit gehen. Der dann weiterhin über sie bestimmt.
In einer schönen Kurzgeschichte von Senel Paz sagt ein Schüler ironisch, die Revolution hätte wenigstens für Schüler der Internate für das erste Mal ein Bordell erhalten sollen, dann wäre alles viel, viel einfacher.
Wir habe die Bordelle abgeschafft, und das war auch eine Notwendigkeit. Die Prostitution als soziales Übel und als soziale Krankheit existiert nicht mehr. Zumindest gibt es keine Frau, die ihren Körper verkaufen muß, um Essen für ihre Kinder oder für ihre Familie oder für sich selber zu bekommen. Aber die Wertvorstellungen in dieser Hinsicht haben sich nicht verändert. Denn der Vater verlangt nach wie vor, nicht alle Väter, aber dich ein großer Teil der kubanischen Väter, verlangt heute noch von ihren Söhnen den Mannesbeweis. Was ist der Mannesbeweis? Geschlechtsverkehr mit Mädchen, Plural. Denn wenn er's nur mit einer macht, dann fragt der Vater, ja was ist mit dir los? Magst du sie? Ja, Vater ich hab doch meine Freundin. Mit einer machst du's nur? Das ist doch kein Mann, der sich mit einer begnügt. Ein Mann muß erfahren sein...
Wir haben Untersuchungen durchgeführt unter jungen Leuten, um auch zu beweisen, wie stark diese Traditionen verankert sind; welche Macht die Gewohnheiten haben, die, wie Lenin schon mal sagte, das größte Übel und die größte Macht überhaupt darstellen, wenn sie von Millionen von Leuten gepflegt werden und die mehrere Generationen bedürfen, um überwunden zu werden. Wir wollten dies beweisen, denn man glaubte uns nicht. Wenn ich z.b. sagte, daß die Jungfräulichkeit noch gefordert wird, sagte man mir, du übertreibst, du siehst Gespenster, das ist längst nicht mehr unsere Situation, das ist überwunden. Ja, fast 100 Prozent der 16- 17jährigen Jungen sind für vorehelichen Geschlechtsverkehr. Sie finden ihn gut, nützlich, lustvoll und angenehm, also positiv in jeder Hinsicht. Zwischen 80 und 80 Prozent dieser selben Jungen möchten eine Jungfrau heiraten. Sie wissen genau, sie werden es nicht schaffen, sie werden sie nicht finden. Aber Manuel denkt, für mich wird eine da sein. Und er sucht sie. Er wird sie haben, und er stellt Ansprüche. Er handelt in einer noch oft wirklich sehr machistischen Art, wenn sie keine Jungfrau ist. Darüber haben wir sehr, sehr umfangreich und sehr teifgründig debattiert, hauptsächlich im Rahmen der Frauenzeitschrift Muchacha. Und von da ausgehend auch in den Studienzirkeln der Frauenföderation FMC. Wir haben mehrere Studienmaterialien über Sexualität erstmal zur Lektüre gedruckt auf einfachen Stückchen Papier und unter die Bevölkerung verteilt. Millionen von Leuten haben diese Materialien gelesen und dann debattiert. Die Debatten waren sehr heftig, es war unglaublich. Aber, und das ist natürlich erstmal sehr viel, die Menschen sind überhaupt angeregt worden, ihre eigenen Wertvorstellungen, ihre Wertskala kritisch zu betrachten.
Wie gestaltet sich die Arbeit ihrer Institution?
Die nationale Arbeitsgruppe für Sexualerziehung, die ich leite, arbeitet nach dem Kriterium, daß Sexualerziehung Vorbereitung des Individuums auf Partnerschaft, Liebe, Ehre, Familie unter Bedingungen der Gleichberechtigung ist. Seit 10 Jahren wirken wir als offizielle Institution, auf höchster Regionsebene beheimatet, auch im Parlament. Trotzdem haben wir es noch nicht erreicht, daß im ganzen Land Sexualerziehung Bestandteil des Volksbildungsprogramms ist. Es gibt Elemente der Sexualerziehung auch in der Schule, in der dritten und vierten Klasse, aber dann ist es viel zu spät. Der Unterricht der dritten und vierten Klasse kann keine Antwort geben auf die Fragen der Jugendlichen im Alter von 14 und 15 Jahren. Dafür gibt es die frei verkäuflichen Bücher. Aber Bücher allein genügen nicht, Bücher gehören mit zum Erziehungsprozeß, aber die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch, von Vater zu Sohn oder Tochter, von Mutter zu Sohn oder Tochter, von Lehrer zu Schüler, die kann nicht durch Fernsehen, Rundfunk oder Bücher ersetzt werden.
Sicher, Fernsehen, Rundfunk, Kino, Theater sind wichtige Medien, um diesen Erziehungsprozeß voranzutreiben. Aber sie können die direkte Kommunikation nicht ersetzen. Die Kinder stehen die ersten Lebensjahre unter dem Einfluß der Familie, dann z.T. Der Schule und noch weiterhin bis zum Beginn ihres Berufslebens unter dem Einfluß der Familie. Die Familie übt einen prägenden Einfluß aus, der positiv oder negativ beeinflußt wird durch filme, Rundfunk- und Fernsehprogramme, Artikel in der Presse. Hinzu kommt der Einfluß der Jugendorganisationen, der Frauenorganisation, der CDR, der Kleinbauernorganisation, also der politischen und Massenorganisationen des Landes. Aber die Vorbildrolle der Familie, von Vater und Mutter ist viel prägender und übt einen viel größeren Einfluß aus als hundert Fernsehprogramme, als hundert Filme. Das, was Vater und Mutter jeden Tag machen, wie sie sich gegenseitig verhalten, wie sie gegenseitig ihre Liebe, ihren Haß oder ihre Scheinheiligkeit ausdrücken, das übt den stärksten Einfluß auf die neue Generation aus.
Sexualität bedeutet ja nicht nur Heterosexualität, sondern bedeutet auch Homosexualität, sowohl männlich wie weiblich. Beide Formen der Sexualität sind in Kuba tabuisiert, wenn meiner Einschätzung nach auch unterschiedlich: weibliche Homosexualität wird nicht so verurteilt wie Homosexualität bei Männern.
Nein, es wird als etwas Entsetzliches angesehen. Eine Frau, die kein Interesse an einem Mann hat, ist für hiesige Verhältnisse etwas so Anormales, daß es nicht verziehen werden kann.
Wie behandeln Sie diese Themen im Rahmen Ihrer Sexualerziehung?
Für uns ist alles, was im Bereich menschlicher Sexualität vorkommt, Gegenstand unserer Arbeit.
Also betrachten Sie Homosexualität nicht als Krankheit? Denn solche Ansichten gibt es ja auch.
Ja, die gibt es noch zum Teil. Ich habe z.B. eine Untersuchung durchgeführt, um herauszufinden, was hält man von Homosexualität, und zum größten Teil sind die Leute noch davon überzeugt, daß Homosexualität das Ergebnis einer schlechten Erziehung ist. Das ist das erste Argument. Dann, daß Homosexualität und Anitsozialität dasselbe ist. Daß Homosexualität und ein schwacher Charakter ebenfalls Synonyme sind. Homosexualität und Perversion wird schon von weniger Menschen als identisch angesehen.
Die Ansicht, daß Homosexualität eine Krankheit ist, wird hier noch von sehr, sehr vielen Menschen vertreten. Eine Minderheit bezeichnet Homosexualität als das, was es ist: die sexuelle Orientierung auf eine Person des gleichen Geschlechts, ohne all die anderen abwertenden und vorurteilsgeladenen Kriterien.
Wie groß ist diese Minderheit?
Das kann ich in Zahlen nicht ausdrücken. Ich kann nur die Zahlen angeben für die Familienärzte. Da vertraten ungefähr 20 Prozent letztere Ansicht.
Nur 20 Prozent bei einer Population, die sich mit diesen Fragen sehr intensiv auseinandersetzt. Also dürfte in der Gesamtbevölkerung dieser Anteil sicherlich darunterliegen?
Ganz sicher. Aber es ist für mich eine schon bedeutende Anzahl von Leuten, bei denen eine Veränderung ihrer zuvor wirklich sehr beschränkten Einstellung zur Homosexualität festzustellen ist. Vorher vertrat die überwiegende Mehrheit, wenn nicht sogar fast hundert Prozent der Bevölkerung einschließlich der Homosexuellen selbst, die Meinung, das Homosexualität als eine Aberration, als eine Abweichung, als eine antisoziale Eigenschaft, als etwas Krankhaftes anzusehen ist. Also, ich fand bei der Auswertung dieser Untersuchung, daß das schon ein bedeutender Prozentsatz ist. Und diese Ablehnung ist meiner Ansicht nach ganz logisch, etwas regelrecht Natürliches für die hiesige Gegend: nicht nur in Kuba, in Mexiko, in allen karibischen Ländern, in Mittelamerika insgesamt. In Kuba jedoch ist die besonders ausgeprägte Ablehnung der Homosexualität historisch bedingt, der historische, kulturelle, soziale und ökonomische Hintergrund muß berücksichtigt werden.
Die Aversion gegen Homosexuelle ist nicht nach dem Sieg der Revolution entstanden. Ich würde sogar sagen, was wirklich sehr häßlich klingt: Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt zwischen Konterrevolutionären oder Kubanern, die mit der Revolution nichts zu tun haben wollen und die gen Norden ausgewandert sind, und den hiesigen revolutionären Kubanern, dann ist es deren Einstellung und deren Aversion in Bezug auf Homosexualität. Wenn man eine Person ganz entsetzlich kränken will, dann sagt man: "Du bist ein Homo." Wir müssen diese Realität im Rahmen unserer Arbeit berücksichtigen.
Dann können Sie sicherlich nicht schreiben, daß Homosexualität etwas …
Können wir nicht, das bedeutete, daß wir unsere Arbeit einstellen könnten, denn wir hätten dann unsere Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung verspielt. Wir haben bereits sehr, sehr viel geleistet, um die Einstellung der Bevölkerung insgesamt zur Sexualität zu verändern, dabei haben wir viele Erfolge erzielt. Wenn eine Person, Mann oder Frau, anfängt, über sein bzw. ihr Wertesystem nachzudenken und das in Frage zu stellen, dann ist das schon ein unglaublicher Erfolg in der Sexualerziehung.
Wie kann sich diese Situation ändern?
Einen minimalen Schritt, aber immerhin schon einen Schritt sehe ich darin, daß Bücher in Kuba veröffentlicht werden, in denen die Homosexualität nicht mehr als Krankheit, sondern als natürliche Form der Sexualität dargestellt wird. Man kann sagen, damit habe sich überhaupt nichts geändert. Aber Bücher, die zum ersten Mal in der Geschichte Kubas eine ganz andere Betrachtungsweise enthalten, sind ein wichtiger Beitrag dazu, daß die Leute nicht mehr wie vor diesen Veröffentlichungen wie Automaten eine klischeehafte Antwort über das, was sie als Homosexualität betrachten, abgaben. Inzwischen haben die Leute angefangen, darüber zu denken. Nicht alle. Es gibt noch wirklich ausreichend Leute, die absolut kein neues Kriterium und keine neue Meinung akzeptieren; die noch immer Scheuklappen vor den Augen haben und die absolut nicht in der Lage sind, überhaupt zuzuhören. Aber zumindest haben wir schon erreicht, daß im Bereich der Ausbildung von Kadern im Gesundheitswesen -, und das sind nicht nur Ärzte und Psychologen, sondern auch mittlere medizinische Kader – im Bereich der pädagogischen Ausbildung in in anderen Bereichen Kurse aufgenommen sind über allgemeine Fragen der Sexualität und/oder ein Spezialkurs für Beratung und Therapie...
Ein Ergebnis : unter den Therapeuten haben wir zu einem großen Prozentsatz schon durchgesetzt, daß ihre Betrachtungsweise in dieser Richtung verläuft: Therapie im Bereich Homosexualität bedeutet nicht, Homosexuelle in Heterosexuelle umzuwandeln. Das war bis vor nicht allzu langer Zeit noch das Ziel aller Therapeuten. Sie davon abzubringen, das war nicht leicht, aber wir haben es praktisch erreicht. Heute werden Homosexuelle, die um Hilfe bitten, angehört. Wir erreichten auch, daß homosexuelle um Hilfe bitten, nicht im Sinne, umgewandelt zu werden, weil sie inzwischen schon selber wissen, es geht nicht. Sie bitten um Hilfe, um mit ihrer Situation, die ihnen sehr viele Schwierigkeiten bereitet, fertig zu werden...
Wie sehen Sie die Perspektiven für ihre Arbeit?
Zuvor etwas zu dem Erreichten. Meßbare Ergebnisse haben wir z.b. bei Teenagerschwangerschaften. In Jahre 1974, kurz nach der Durchführung einer nationalen und internationalen Studie über pränatale Sterblichkeit, hatten wir erfahren, daß in Kuba von 1.000 Teenagern, Mädchen bis 19 Jahren, mehr als 128 jährlich ein Kind gebären. Damals hatten wir noch kein Sexualerziehungsprogramm und kein Familienplanungsprogramm. Es gab zwar Familienplanungsmöglichkeiten, aber in systematischer Form wurde damals noch nicht gearbeitet. Heute beträgt dieser Index 80 pro Tausend, was immer noch erschreckend hoch und unakzeptabel ist, aber ein fortschritt ist festzustellen.
Ein Erfolg ist auch die Tatsache daß bis vor 10, 15 Jahren die kubanische Bevölkerung mit ihren Sexualproblemen, die auch damals schon existierten, lebte und starb, heute verlangen die Menschen in allen Provinzen Beratungen. Es ist ungewöhnlich, daß die Menschen angefangen haben, über Sexualität ernsthaft zu sprechen. Vor 10 Jahren war es noch eine Ungehörigkeit, wenn eine Person im Rahmen einer Unterhaltung über Sexualität sprach. Inzwischen ist schon fast das Gegenteil der Fall. Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche, alle sprechen über Sexualität. Wir haben's also erreicht, dieser Sphäre ein bißchen die Tabus zu nehmen. Es gibt auch schon ein entschieden höheres Niveau der Information. Bei Einstellung, Mentalität und Verhalten, da sind wir durchaus noch nicht zufrieden mit dem Erreichten. Obwohl Erfolge zu verzeichnen sind: z.b. Männer sich zu ersten Mal in ihrem Leben sich darum kümmern, was mit ihrer Partnerin geschieht beim Koitus. Da sie nicht mehr ganz egozentrisch und ohne sich überhaupt Gedanken darüber zu machen, was geschieht mit ihr, sich dem eigenen Vergnügen hingeben sondern daß sie möchten daß sie auch etwas davon hat. Das ist ziemlich neu.
Zu den Perspektiven: langsam aber sicher nähern wir uns unserem ziel: daß die gesamte Bevölkerung in der Lage ist, eine gesunde Sexualität zu erleben, die keine Risiken Gefahren, Schaden in sich trägt, die das Leben sehr viel glücklicher machen kann, die zur Entwicklung der Persönlichkeit positiv beiträgt und eine Komponente der Lebensqualität ist...
Die Ergebnisse werden nicht von heute auf morgen erscheinen. Wir können niemanden zwingen etwas zu glauben, etwas zu akzeptieren, was wir für richtig halten, aber er oder sie nicht. Da wird viel Arbeit erforderlich sein denn die Vorurteile, die Tabus, die Unwissenheit im Bereich Sexualität erfordern sehr viel Zeit. Natürlich werden wir auch eine ganze Menge von Rückschlägen verkraften müssen. Die Menschen, die auf diesem Gebiet arbeiten, müssen an erster Stelle sehr viel Geduld haben, dann ein außergewöhlich großes Vermögen, die eigenen Frustrationen zu verarbeite und nicht depressiv zu werden und insbesondere müssen sie sehr optimistisch sein und an den Menschen glauben.
(Auszüge aus dem gleichnamigen Interview in dem Band "Adelante Kuba – Wege einer Revolution" Siehe auch Rezension hier in diesem Heft).
Monika Krause
Das Interview wurde geführt von Horst-Eckart Gross
CUBA LIBRE 1-1990