Die internationale Bevölkerung des Campamento

Auf dem Vorplatz des Holzhauses, gegenüber der Piragua (1) sitzen ein paar Kubaner zusammen; auch der Holländer, der so gut Gitarre spielt, und Christian, ein Franzose, mit einer kleinen Tröte. Die Kubaner, Alfonso und Ulises, fangen an, locker einen Rhythmus auf den Congas zu schlagen, der Holländer setzt auf seiner Gitarre ein, die Congas antworten ihm, und binnen kurzem machen wir alle miteinander Musik, klatschend, singend, tanzend, und immer mehr Leute kommen dazu und machen mit. Anibal, auch ein Kubaner, schlägt die Claves (2), bestimmt mit ihnen unseren Klatschrhythmus, der immer wieder wechselt, komplizierter und einfacher wird, und ab und zu setzt Christian mit seiner Kindertröte quietschende Akzente. Afra, die alte italienische Bäuerin, bringt uns alle mit einer Handbewegung zum Schweigen, wiegt sich in den Hüften und fängt mit ihrer rauhen Stimme ganz langsam an eine Melodie zu summen: "Bella ciao". Wir singen das alte Partisanenlied voller Hingabe, wir singen auch "Donna, Donna" und die "Moorsoldaten" und immer wieder die "Guantanamera". Inzwischen ist das Filmteam aufgetaucht, das jede unserer Aktivitäten für einen kubanischen Film über die Brigade festhält, und Afra muß noch einmal "Bella ciao" singen, was sie auch voller Begeisterung tut.

Es ist die Musik, über die die ersten Kontakte zwischen den verschiedenen Campamento-Völkern geknüpft werden, was wohl zum Teil daran liegt, daß die musikalische Verständigung leichter fällt als der mühsame Weg durch das Sprachgewirr, das entsteht, wenn Menschen aus zwölf Nationen so eng zusammenleben. In den Liedern eines Volkes drückt sich viel von seinem Charakter aus: und wenn, wie bei der eben beschriebenen Szene oder wie so oft abends unter den Mangos, jeder sein Teil zu einem gemeinsamen Ganzen beiträgt, so entsteht ein tiefes Gefühl von "Basis-Internationalismus". Besonders sangesfreudig sind die Italiener, und wenn Ricardo und Afra mit italienischen Gewerkschaftsliedern loslegen, wird jeder mitgerissen. Die Lieder von uns Deutschen sind bedächtiger, die "Moorsoldaten"‘ oder Ernst Busch rühren eine ganz andere Saite an als die Volkslieder der Österreicher, die französischen Chansons oder die etwas melancholischen Fados der Portugiesen, die im Gegensatz zu den Spaniern oder Italienern z. B. ziemlich zurückhaltend sind. Diese Abende, an denen die Gitarre reihum geht und, animiert von kubanischem Rum, abwechselnd Flamenco und irische Volkslieder geboten werden, sind unvergeßlich. Jeder hört dem anderen zu, versucht zu verstehen und mindestens den Refrain mitzusingen, und "Bella ciao" genau wie das "Sieben Tage lang" der Holländer werden untermalt von kubanischen Trommeln.

Natürlich gehen das Beieinandersitzen, die Unterhaltungen, die Freundschaften auch über die musikalische Ebene hinaus, sämtlichen Sprachbarrieren zum Trotz. Schließlich arbeiten, essen, leben wir ja alle hier zusammen, und alle sind aus dem selben Grund hier: Wir möchten Kuba nicht nur bereisen, mit den Augen eines Touristen kennenlernen, sondern hautnah erleben und durch unsere Arbeit auch ein kleines Stück unserer Solidarität beweisen.

Daß dabei ein Portugiese einen anderen Hintergrund hat als ein bundesdeutscher Werkzeugmacher, oder eine in Frankreich lebende Exilchilenin, ist richtig und gut so, und der Austausch der aus so verschiedenen Blickwinkeln aufgenommenen Eindrücke ist ein ganz wichtiger Bestandteil dieser Brigade.

Wir lernen nicht nur alle von den Kubanern, sondern auch alle voneinander, und am Ende merke ich plötzlich, daß ich ganz selbstverständlich die Sicht der Kubaner übernommen habe: Bei aller Verschiedenheit sehe ich uns nicht mehr als Deutsche und Franzosen und Spanier, sondern uns alle als Europäer. "Du vergißt etwas", meint Ricardo, der Italiener, als ich ihm das sage, "du vergißt die Kubaner und überhaupt alle: Siamo tutti fratelli e sorelle - siamo compagni!" - "Wir sind alle Brüder und Schwestern - wir sind Genossen!"

1) La piragua — eigentlich span. für Paddelboot, im Campamento, Name der runden Freiluftbar.
2) Claves = runde Klanghölzer, die aneinandergeschlagen werden.


CUBA LIBRE


CUBA LIBRE 3-1983 Extraausgabe