José Martí

Als ich bei der Ankunft in Havanna seinen Namen über dem Flughafengebäude sah, dachte ich: irgendeine nationale Größe. Mein erster Irrtum. Es war nicht irgendeiner, es war José Martí. Danach sah ich ihn immer öfter. Eines Tages erschrak ich, als ich ihn sah. Ich hatte einen freien Nachmittag und bummelte durch die quirligen Straßen Havannas. Plötzlich stehe ich in einer Buchhandlung vor einem ganzen Regal mit seinen Büchern. Fast 30 Bände. Gesamtausgabe José Martí. Damals wußte ich schon, daß Schreiben längst nicht seine einzige Tätigkeit war. Ich erschrak, weil ich sah, welche produktive Energie in der zarten, schmalen beinahe zerbrechlichen Gestalt verkörpert war. Ein andermal biege ich um eine Ecke, und mein Blick wird förmlich hingerissen von einem jener kunstvoll umgitterten, schattenreichen Vorgärten zu Füßen einer alten Villa. Durch Gitter und Laubwerk sehe ich ihn stehen, blaß und zierlich, den Kopf grübelnd vorgeneigt, als denke er über etwas nach, das er gleich durchs geöffnete Portal ins Haus tragen werde.

Ich begegnete ihm viele Male: seinem Portrait in der Casa de las Americas von Havanna. Da steht er vor dem Strohdach einer Hütte: blasses Gesicht, hohe Stirn, Schnauzbart. Schwarzer Anzug, Stehkragen, Krawatte mit Perle, goldene Uhrkette vom Knopfloch im Revers zur Brusttasche mit Schnupftuch. (Auf vergilbten Fotografien um die Jahrhundertwende findet man so die Schulmeister vor dem heruntergezogenen Reetdach ihrer niederdeutschen Dorfschule stehen.)

Auf dem Revolutionsplatz in Havanna reckt sich zu monumentaler Größe sein Standbild. In Santiago de Cuba finde ich ihn aus einheimischem Marmor gehauen in der Pose des Grüblers als sitzende Figur unter dem Gewölbe des Mausoleums. Das seine Gebeine enthält.

Fidel Castro über José Martí: "Auf dem langen Weg haben sich all die Menschen vereint, die dieser Erde würdig sind: in dem harten Kampf sind viele Menschen gestorben, die dieser Erde würdig sind. Die ersten waren keine Marxisten. Auch Martí war es nicht. Er konnte es nicht sein in der Zeit und unter den Umständen, da sich sein beispielloser Kampf vollzog. Wir wären gewesen wie sie: sie wären heute das. was wir sind! Denn unser Volk war stets beseelt vom revolutionären Geist, vom Wissen um seine Verantwortung. José Martí, erfüllt vom Geist des Patriotismus, sensibel, unvergleichlich. Gemeinsam mit anderen heldenmütigen Kämpfern legte er den Grundstein für die Unabhängigkeit Kubas."

Ich übertreibe nicht: Die Kubaner, die in der Alphabetisierungskampagne der Revolution nahezu alle lesen und schreiben lernten, verehren ihren dichtenden Freiheitskämpfer Martí. Seine Herkunft erleichtert ihnen ihre Zuneigung. Viele sehen in dem Sohn armer spanischer Einwanderer, der 1853 in Havanna geboren wurde, ein Vorbild für ihre Kinder. Schon als Siebzehnjährigen verurteilten ihn die spanischen Kolonialherren wegen revolutionärer Umtriebe zu Zwangsarbeit und Verbannung. 1871 wird er nach Spanien deportiert. Von Europa zieht es ihn wieder nach Lateinamerika: Mexiko, Guatemala und Venezuela sind seine Stationen.

In Briefen und Essays befaßt er sich immer wieder mit der sozialen und politischen Lage Kubas. Als er illegal in die Heimat zurückkehrt und für die Fortsetzung des verlorengegangenen 1. Unabhängigkeitskrieges wirbt, wird er von den spanischen Kolonialbehörden erneut nach Spanien deportiert. Von dort aus reist er in die USA. Er schlägt sich als Zeitungskorrespondent durch. Erst Ende der neunziger Jahre greift er wieder aktiv in die kubanische Politik ein. Zusammen mit Gomez, einem General aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1868 entwirft José Martí das Manifest von Montechristi als Programm der kubanischen Revolution.

Mit der von ihm gegründeten "Revolutionären Kubanischen Partei" bereitet er den Wiederbeginn des kubanischen Freiheitskampfes vor. Doch schon in den ersten Tagen des Kampfes fällt er im Gefecht bei Dos Rios.

Man schreibt den 19. Mai 1895.

"Es ist meine Pflicht", schrieb Martí im Jahre 1895, also kurz vor seinem Tod, "durch die Unabhängigkeit Kubas dafür zu sorgen, daß sich die USA nicht in der gesamten Karibik ausbreiten und damit einen noch stärkeren Einfluß auf die anderen Länder unseres Amerikas ausüben... Ich kenne dieses Ungeheuer, denn ich habe lange in dessen Höhle gewohnt - und meine einzige Waffe ist die Schleuder Davids."

CUBA LIBRE
Günter Demin

CUBA LIBRE 3-1983 Extraausgabe