Wir haben das große Los gezogen, gehören zu den Auserwählten, die mitfahren dürfen auf die Insel der Jugend, die Gefängnisinsel, die Schatzinsel. Schon in der Ferne kündigt sie sich an: Im türkisblauen Wasser ziehen mangrovenumwucherte Inselchen vorbei, bewaldete Berge ragen aus dem Wasser und verdichten sich zu jenem Fleck, auf dem sich Vergangenheit und Zukunft so eng zusammendrängen. Und selbst für den heutigen Besucher hat sie immer noch etwas von Stevensons Schatzinsel, auch wenn er wie wir mit einem Tragflügelboot über Wasser heranjagt und nicht in einem Schoner majestätisch in den Hafen einsegelt. Aber sie ist auch sogleich Insel der Jugend. überall in der Hafeneinfahrt tummeln sich Kinder, in kleinen Booten fischen sie im Schilf, andere stürzen kopfüber von einem Schuppendach ins Wasser, sie winken uns zu.
Schulkinder sind es auch, die uns am Hafen von Nueva Gerona empfangen. Artig stehen sie da, skandieren selbstbewußt, daß sie so sein wollen wie der Che. Heißen uns feierlich willkommen. Und sie stürzen auf uns zu, als wir endlich an Land sind, sichtlich erleichtert, daß die lange Warterei auf die verspäteten Gäste nun endlich vorüber ist. Und auch die Rosen, die jedem von uns in Windeseile in die Hand gedrückt werden, verraten, wie lange und geduldig man hier in der tropischen Mittagshitze ausgehalten hat.
Viel zu schnell reißt uns Pederosos Megaphonhupe aus der Musik, dem Begrüßungsrufen und dem Getümmel im Hafen, und mit dem Guagua gelangen wir nach kurzer Fahrt zum Playa Paraiso, einer kleinen von hohen Bergen umgebenen Bucht, die ihren Namen voll zu Recht trägt. Im Restaurant erwartet uns die erste Fischmahlzeit auf Kuba. Fidels Bemühungen um eine Bereicherung der karibischen Küche sind hier auf fruchtbaren Boden gefallen. Es ist halt eine Insel der Zukunft, auch im kleinen. Vor allem jedoch, weil sie die Insel der Jugend ist, die 15000 ausländische Jugendliche beherbergt und ihnen eine Ausbildung bis zum Abitur ermöglicht. Wir sehen uns das in der Carlos-Fonseca-Schule an, wo wir mit einem Sprechchor von den nicaraguanischen Schülern empfangen werden. Die achte Klasse hat gerade Chemieunterricht. Kaum haben wir den Raum betreten, springen alle Schüler auf und stellen sich neben ihre Bänke. Die Lehrerin hält sich im Hintergrund, denn das "Kommando" hat eine Schülerin übernommen. Im Sprechchor-Wortwechsel ruft sie: "Y porque estamoa aqui?", worauf die Klasse antwortet: "Para construir el socialismo en nuestro pais." Danach erfahren wir, daß die Schüler insgesamt für drei bis fünf Jahre ausgebildet werden, in technischen Fächern durch kubanische Lehrer, in Geschichte und Sozialkunde von eigenen Landsleuten. Können die Schüler die Unterrichtsinhalte mitbestimmen? Selbst Breshnew scheint von der Infowand darüber zu lächeln, daß die Schüler diese Frage nicht verstehen. Zu selbstverständlich ist ihnen die Eingliederung in das kubanische Schulsystem. So arbeiten auch sie wie die übrigen Schüler auf Kuba halbtags in der Landwirtschaft. Selbständig organisieren sie kulturelle und Musikgruppen und pflegen die Traditionen ihres Landes, in das sie nach dem Studium zurückkehren werden. Eine lange Zeit für die Jungen und Mädchen, die alle zwischen 14 und 19 Jahren alt sind. Und anders als sonst werden sie in diesem Jahr ihr Zuhause nicht wiedersehen, denn sie haben auf die Heimreise verzichtet, weil sie ihr Land zu viel kosten würde. Ihr Verzicht unterstreicht unseren tiefen persönlichen Eindruck von der Ernsthaftigkeit und von dem Verantwortungsgefühl, mit dem sie hier bei der gemeinsamen Sache sind. Noch mehr als überall in Kuba ist hier auch der Internationalismus lebendig, das merken wir noch einmal beim Abschlußfest, als spontan ein Kampflied zu Ehren der chilenischen Genossin angestimmt wird, die mit uns aus Frankreich gekommen ist, wo sie im Exil lebt - in Sicherheit gebracht vor einer Diktatur wie jener, die sich auch auf Kuba traurige Denkmäler gesetzt hat.
Die Rundbauten der Gefängnisanlage, die wir anschließend besichtigen, sind wohl ein einmaliger architektonischer Ausdruck der Herrschaft eines solchen Regimes. In den zwanziger Jahren wurden sie für den Diktator Machado errichtet und machten die Insel zum Symbol für dessen Unterdrückung. Viele Oppositionelle wurden hierher verschleppt, unter ihnen auch Fidel und Raúl Castro. Fidel sagt man ja heute noch ein inniges Verhältnis zu seinem dortigen Bett nach, das dem Besucher wie ein geschichtliches Dokument präsentiert wird, wie all die unzähligen anderen alltäglichen Gebrauchsgegenstände aus der Revolutionszeit, die heute noch mit Akribie und Leidenschaft gesammelt werden.
Doch Fidels Bett steht auch symbolisch für kollektive Formen des Widerstandes. Hier konnten die Revolutionäre offiziell Marx’ Kapital studieren. Denn der Wärter war davon überzeugt, daß ein Buch mit einem solchen Titel nützlich sein könne. Aber auch andere politische Schriften wurden eingeschleust. Später wurden Besuche Batistas von den Gefangenen mit Sprechchören gestört. Widerstand trotz aller Perfektion, die die Architektur durch ihren fast verschwenderischen Umgang mit den stabilsten Materialien zur Schau stellen soll. Parallelen zu Stammheim? Ganz im Gegensatz zur Isolationshaft dort, besteht hier die Infamie des Systems wohl darin, die Gefangenen in einer solchen Riesentrommel mit ihren Problemen, Ängsten, Aggressionen, ihrer Wut und ihrem Haß zusammenzupferchen. Damit sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Trotz der offenen Zellen genügen dann zwei, drei Wärter, um mit entsicherter MP auf einem Turm in der Mitte des Rondells 1000 Gefangene in Schach zu halten. Der Taylorismus im Strafvollzug!
Gern lassen wir diese Tonnen der Unmenschlichkeit hinter uns. Mit ihren 1000 hohlen Augen wirken sie heute so zukunftslos und leer wie die dazugehörigen Regime. Beim Hinausfahren blicken wir noch einmal auf die fast groteske Kulisse, die sich vor den Gefängnistrakt schiebt: ein schloßartiges Verwaltungsgebäude mit einer überdimensionalen halbrunden Treppe, großmäuliges Symbol der Macht direkt vor den steinernen Zeugen für den Mechanismus ihrer Erhaltung.
Aber heute weiden dort Pferde, ihr Anblick ist ein ebenso angenehmer Kontrast zu diesem leblosen Kerker wie die stürmische, rhythmische Begrüßung, die uns kurz darauf die Jugendlichen aus Mocambique in ihrer Schule zuteil werden lassen. Die ganze Zeit halten sie uns mit einer über der anderen Darbietung in Feststimmung. Das übertrifft sogar das Temperament der Kubaner und ist auch eine ganz andere Sorte Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit als die der Schüler aus Nicaragua. Und doch sind beide Nationen kulturell eng mit Kuba verbunden, in dem sich beide Einflüsse vermischen. Das ist auch die Wurzel für die tiefe politische Solidarität der Kubaner mit den Völkern Lateinamerikas und Afrikas, die das Modell der Insel der Jugend geschaffen hat. Werden wir auch einmal Schulen für ausländische Genossen bauen?
CUBA LIBRE 3-1983 Extraausgabe