Die politische Offensive der Sozialistischen Internationale in Lateinamerika

Aus der Verflechtung der europäischen Sozialdemokratie mit dem Monopolkapital kann man nicht den Schluß ziehen, daß die Politik der Sozialdemokratie Instrument und strategische Reserve des Imperialismus ist. Trotz der Funktion einiger Mitgliedsparteien der SI als Garant des Überlebens des Kapitalismus bleibt die Grundtatsache bestehen, daß die Sozialdemokratie Teil der Arbeiterklasse und Teil der Arbeiterbewegung ist. Als Arbeiterbewegung mit weltweitem politischen Einfluß ist die SI eine antiimperialistische Kraft, die mehrere Gesichter hat. Sie ist kein monolithischer ideologischer und politischer Block, sondern eine Sammelbewegung von Parteien und Bewegungen, die einen ideologischen Minimalkonsens gefunden haben, aber ein breites Spektrum der Arbeiter- und Befreiungsbewegung repräsentieren: von rechtssozialdemokratischen Parteien bis hin zu revolutionär-demokratischen Gruppen. Die innere Entwicklung der letzten Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Ereignisse in Lateinamerika, geht nach links. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die SPD nach wie vor die einflußreichste Mitgliedspartei ist. Sie erbringt 60 Prozent des Finanzbudgets der SI, sie stellt den Präsidenten, und sie verfügt über ein so wirkungsvolles ideologisches Instrument wie die Friedrich-Ebert-Stiftung, die allein in der internationalen Abteilung über 300 Mitarbeiter hat, die Dutzende von Tochterinstituten in der Dritten Welt betreibt, die die Gründung von Parteien organisieren kann und über einen gewaltigen Haushalt verfügt, der den der SI bei weitem übersteigt. Alle diese Instrumente der SI und der SPD, aber auch die speziellen Aktivitäten vor allem der schwedischen, der spanischen und der portugiesischen Sozialdemokratie wurden in den letzten Jahren in Lateinamerika massiert eingesetzt, um die "Sozialdemokratisierung" des Kontinents einzuleiten. Nicht unerwähnt bleiben darf dabei die ideologische Zeitschrift des Demokratischen Sozialismus für Lateinamerika, die "Nueva Sociedad", die unter der Leitung eines Friedrich-Ebert-Stiftung-Spezialisten, Karl-Ludolf Hübner, in Caracas erscheint. Diese Zeitschrift ist zu einer der wichtigsten Organe der Diskussion in der lateinamerikanischen Linken über die Frage des Entwicklungsweges geworden, die ein breites Spektrum von Standpunkten umfaßt. Ziel der ganzen Offensive der SI ist: Über die Sozialdemokratisierung alter bürgerlich-reformistischer Parteien über die Kontakte zu revolutionär-demokratischen Bewegungen, über die Beeinflussung der Arbeiterklasse die gesellschaftliche Basis für einen sozialdemokratischen "3. Weg" zwischen Reaktion und Kommunismus zu schaffen. Oder, einfacher ausgedrückt, den Weg zu finden "zwischen den Regimes von Pinochet und Videla und dem System von Castro" (Francois Mitterrand). Sozialdemokratisierung ist also im Fall Lateinamerikas in der Tat ein Prozeß von außen nach innen, wenn er natürlich auch nicht beim Nullpunkt anfängt: Es gibt in Lateinamerika eine lange Tradition bürgerlich-reforreformistischer Parteien und eine Tradition sozialistischer Parteien, die aber beide aus unterschiedlichen Vorbehalten heraus nichts mit der europäischen Sozialdemokratie zu tun haben wollten. Das Verhältnis hat sich seit Anfang der siebziger Jahre gründlich geändert. Die Sozialdemokratie und ihre Ideologie des "demokratischen Sozialismus" haben an Attraktivität gewonnen, was undenkbar wäre, hätte sich nicht die SI selber "reideologisiert", den Kampfbedingungen Lateinamerikas angepaßt und sich vor allem aus der sklavischen Gefolgschaft gegenüber den USA in Fragen kalter Krieg und in der Frage "Allianz für den Fortschritt" befreit. Die SI hat in Lateinamerika längst ihren imperialistischen Stallgeruch überwunden. Die Tatsache beispielsweise, daß die SI in Chile bis 1970 auf die Christdemokratie setzte und die Sozialistische Partei wegen ihrer Aktionseinheitspolitik verurteilte, gehört der Vergangenheit und einer überholten Strategie an.

Der neue Kurs kommt 1976 mit der Konferenz von Caracas zum Ausdruck. Auf Initiative von Willy Brandt lädt die Demokratische Aktion Venezuelas (AD) die Führer der wichtigsten Reformparteien Lateinamerikas zu einem Erfahrungsaustausch mit den wichtigsten Führern der europäischen Sozialdemokratie ein. Es geht dabei um die Entwicklungschancen und um die Analyse der Kräfte des "Demokratischen Sozialismus" in Lateinamerika und der Karibik. Eines der Ergebnisse der Konferenz ist die Gründung einer Kontaktgruppe, bestehend aus den Parteivorsitzenden der venezolanischen AD, der mexikanischen Regierungspartei PRI, der SPD und der portugiesischen PS. Auf dem folgenden Kongreß der SI, 1977 in Genf, werden die dominikanische PRD und die Liberación Nacional Costa Ricas Mitglieder der SI. Zwei Lateinamerikaner - Daniel Oduber und Anselmo Sule (Radikale Partei Chiles) - werden zu Vizepräsidenten gewählt. Im September 1977 veranstaltet die SI in Rotterdam ihre Chile-Sonderkonferenz, auf der die Perspektiven Chiles gemeinsam mit allen Parteien der Unidad Popular diskutiert werden.

Auf einer Bürositzung im Oktober 1977 wird dann das Lateinamerikakomitee der SI gegründet, das heute wichtiges Sprachrohr der lateinamerikanischen Mitgliedspartei ist.

Im Oktober 1978 wird mit der Konferenz von Lissabon der Dialog von Caracas fortgeführt.

Auf dem XIV. Kongreß der SI 1978 in Vancouver steht die Entwicklung in Lateinamerika und die Forderung nach einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung im Mittelpunkt. Zwei weitere Lateinamerikaner werden zu Vizepräsidenten gewählt: Michael Manley (Jamaica) und Gonzalos Barrios (AD Venezuela).

Im März 1980 findet in der Dominikanischen Republik die erste Regionalkonferenz der SI für Lateinamerika statt, an der auch die sandinistische Befreiungsfront FSLN teilnimmt. Diese Konferenz führt zu einer erhöhten Bedeutung des Lateinamerikakomitees.

Ursachen der Offensive sind zusammengefaßt:

- Im Interesse der Bewältigung der Krise des Neokolonialismus übernimmt die regierende Sozialdemokratie Europas die Funktion des weltweiten Krisenmanagers und versucht auf die Schaffung von der Neuordnung der Weltwirtschaft adäquaten gesellschaftspolitischen Modellen hinzuwirken.

- Durch die Rückschläge der revolutionären Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte der 70er Jahre, durch das Scheitern der Allianz für den Fortschritt, durch den damit verbundenen Niedergang der alten populistischen und nationalrevolutionären Bewegungen Lateinamerikas entsteht eine politische Lücke, die die Sozialdemokratie füllen kann und will.

- Die Erfahrungen der SI mit ihrer entscheidenden Rolle im Demokratisierungsprozeß in Portugal, eingeschränkter auch in Spanien, ermutigte sie, dieses Vorbild als Alternative zur Revolution auch in Lateinamerika umzusetzen. "Es gibt nützliche Erfahrungen in Lateineuropa, von denen wir uns vorstellen können, daß sie in Lateinamerika zur Hoffnung Anlaß geben." (1)

- Die Wahl Willy Brandts zum Präsidenten der SI führt zu einer Umwandlung der SI in ein organisatorisch gefestigtes und schlagkräftiges politisches Instrument.

- Das Aufkommen einer bedeutenden antiimperialistischen Solidaritätsbewegung für Vietnam und für Chile in den Reihen der Sozialdemokratie, das mit einer Stärkung der linken Flügel in diesen Parteien einhergeht, drängt die SI zu einer antiimperialistischen Profilierung.

Befreiungsbewegung in Nicaragua

Die ideologischen Positionen der SI und der lateinamerikanischen Mitgliedsparteien zu Fragen des antiimperialistischen Kampfes sind stark beeinflußt von dem wechselvollen Geschick der revolutionären Bewegung in den letzten Jahren. Eine einschneidende Erfahrung ist auch für die SI die kurze Periode der Regierung Allende in Chile. D. Boersner faßt die Erwartungen der SI an die Unidad Popular so zusammen, daß Chile und Peru "für die sozialreformistische oder sozialrevolutionäre Linke die wichtigsten Vorbilder" darstellen. (2) Mit der Kennzeichnung der UP-Regierung als "linkssozialdemokratische Regierung" (3) wird die Hoffnung der SI ausgedrückt. Allende auf ein Modell des "demokratischen Sozialismus" im Rahmen der bürgerlichen Demokratie und unter Beibehaltung des Mehrparteiensystems festlegen zu können. In einer offiziellen Erklärung sanktioniert die SI zum ersten Mal die Zusammenarbeit einer ihrer Mitgliedsparteien (der Radikalen Partei Chiles) mit der kommunistischen Partei auf Regierungsebene. Auch in einer anderen zentralen Frage des antiimperialistischen Kampfes wird Neuland betreten. Auf der Beratung der SI Anfang 1973 in Santiago de Chile wird angesichts der Drohung der Konterrevolution das Recht auf . Enteignung und Nationalisierung der nationalen Ressourcen ausdrücklich gutgeheißen. In dem Beschluß heißt es, "daß sich die grundlegenden Ressourcen eines Landes im nationalen Besitz befinden müssen und nicht länger eine Quelle des Profits für private Gesellschaften und Unternehmen in den reichen Ländern bleiben dürfen". (4)

Parallel zu der chilenischen Erfahrung verläuft die Erfahrung mit der progressiven Militärregierung in Peru. Die SI akzeptiert zum ersten Mal die bedeutende Rolle, die progressive Militärs an grundlegenden gesellschaftlichen Reformen haben können. Nach dem Putsch in Chile am 11. September 1973 verurteilt die SI diesen als "faschistischen Putsch" und verurteilt die Rolle des US-Imperialismus bei der Putschvorbereitung. Viele Mitgliederparteien der SI nehmen aktiv an der weltweiten Solidaritätsbewegung für Chile teil. Trotzdem gibt es auch in der Haltung zu Chile tiefe Widersprüche in der Haltung der SI-Mitgliederparteien. Während der Regierungszeit Allendes bleibt die Solidarität verbal, ohne praktische Folgen. Einzelne Parteien, wie die SPD, tragen durch die Sperrung der Entwicklungshilfe anläßlich der DDR-Anerkennung durch die UP und durch ihre negative Haltung in den internationalen Kreditinstitutionen sogar zum Sturz der Regierung Allende bei. Nach dem Putsch ist es ebenfalls die Bundesregierung, die im Gegensatz zur Labourregierung die Umschuldung der Junta bei den Pariser Umschuldungsverhandlungen im Jahre 1974 durchsetzt. übrigens in Verantwortung von Bundesminister Matthöfer, der ansonsten diese Junta als "Mörderbande" bezeichnete.

Eine der Lehren der chilenischen Erfahrungen besteht auch für die Sozialdemokratie ‚in dem klaren Begreifen derjenigen Konservativen und Reaktionäre, die dann, wenn ein System durch ein anderes ersetzt wird, bereit sind, die Waffen zu gebrauchen, die Folter und Konzentrationslager einzusetzen. Für diese Leute verläuft die Kampflinie nicht zwischen Demokratie und Diktatur, sondern zwischen Sozialismus und Kapitalismus. (5)

Weise gesprochen. Aber diese Erkenntnis führt keineswegs zu einer endgültigen Loslösung von reformistischen Illusionen, eher im Gegenteil. Nach der Niederlage der UP, nach der Erosion des revolutionären Experiments in Peru Konzentriert die SI ihre Erwartungen auf neue,reformistische Projekte, die von Parteien in der Regierung verantwortet werden, die entweder Mitglied der SI sind oder konsultativen Status bei der SI haben: Venezuela, Costa Rica, Jamaica, später auch die Dominikanische Republik. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die AD Venezuelas und die LN Costa Ricas keine sozialistischen Ambitionen haben, eher bürgerlich-reformistische Parteien sind. Anders die PNP Jamaicas, die eindeutig linkssozialdemokratisch ist und als Regierungspartei dann auch endgültig mit den kapitalistischen internationalen Finanzierungsinstituten bricht, als diese sie erpressen wollen. Das Konzept dieser sozialdemokratisch orientierten Projekte ist, "Reformmaßnahmen durchzuführen, ohne dabei allzusehr die Interessen der in- und ausländischen besitzenden Kreise anzutasten". (6) Also friedliche Koexistenz mit dem Monopolkapital, soziale Reformen, keine Einkommensverbesserung der proletarischen Schichten durch Umverteilung des Reichtums, sondern durch ökonomisches Wachstum, was durch staatliche Eingriffe beschleunigt werden soll. Dazu gehört vor allem die Nationalisierung des Erdöls in Venezuela. Venezuela scheint der beste Ansatzpunkt für das sozialdemokratische Wachstums- und Vermögensbildungsmodell zu sein. Aber alle drei genannten Regierungen scheitern bei den Wahlen und durch vorhergehende Destabilisierungsmaßnahmen des Imperialismus. Sie scheitern an der Inkonsequenz ihrer Reformen, die die Grundlagen der Ausbeutung und die Grundlagen des bürgerlichen Staatsapparates nicht angreifen. Selbst bescheidene Reformansätze werden vom Großkapital durch Kapitalflucht und Destabilisierung beantwortet. Der Spielraum für eine reformistische Variante des Kapitalismus erweist sich als zu klein. Dasselbe Schicksal wird die Regierung in der Dominikanischen Republik ereilen, die heute schon gegen die Mehrheit der eigenen, enttäuschten, Partei regiert.

Das Scheitern der sozialdemokratischen Regierung ist für die SI ein schwerer Rückschlag, führt zu ideologischer Ratlosigkeit, aber auch zu der Suche nach anderen Alternativen, zu innerer Differenzierung, zu größerer Flexibilität gegenüber revolutionären Entwicklungswegen und schließlich auch zu einer Stärkung antiimperialistischer und linker Positionen innerhalb der Organisation. Nachdem schon aufgrund der chilenischen Erfahrung ideologische Konzessionen in den Fragen Aktionseinheit und Nationalisierung gemacht wurden, wird mit der Unterstützung des Befreiungskampfes in Nicaragua eine weitere heilige Kuh sozialdemokratischer Dogmen geschlachtet: der "parlamentarische" oder "legale" Weg zum Demokratischen Sozialismus. Zum ersten Mal unterstützt die SI bedingungslos, politisch, materiell und sogar militärisch eine bewaffnete Befreiung in Lateinamerika. Das Lateinamerika-Komitee erhebt diese Position in seiner Resolution vom 30. September 1980 zum Beschluß: "Wir verteidigen das Recht der Völker auf den bewaffneten Aufstand, wenn die Mittel des friedlichen Weges nicht vorhanden oder ausgeschöpft sind." (7)

Auch als die nationalrevolutionäre Bewegung El Salvadors, MNR, Mitgliedspartei der SI, die Regierungsjunta verläßt und sich der Befreiungsfront FDR anschließt, wird dieser Schritt von der SI unterstützt. Alle Parteien der SI stehen voll hinter den Forderungen und Kampfformen der FDR - mit Ausnahme der AD Venezuelas und der LN Costa Ricas, die beide eigene, kompromißlerische Positionen erklärt haben. Auch im Fall Boliviens hat die SI sich mit der vorbehaltlosen Unterstützung des Kandidaten aller Linksparteien, Siles Zuazo, das Vertrauen der Linken erworben. Die Suche nach Verständigung mit den revolutionären Kräften Lateinamerikas zeigt sich auch in den Bemühungen. Die Kontakte zum ersten sozialistischen Land Lateinamerikas zu vertiefen. Unter anderem wurde Fidel Castro in seiner Funktion als Präsident der Bewegung der Nichtpaktgebundenen zur Regionalkonferenz der SI nach Santo Domingo eingeladen. Wischnewski stimmte bei seinem Besuch im April 1981 in Havanna die Positionen der SI mit denen Kubas in Bezug auf eine politische Lösung in El Salvador ab. Pierre Schori, Vertreter der sozialdemokratischen Partei Schwedens, formulierte die neue Haltung der SI gegen über Kuba: "Laßt uns nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, die viele gegenüber Kuba machten, das heißt radikale Revolutionen gegen Ungerechtigkeiten und ausländische Ausbeutung zu isolieren oder zu negieren. Wir können heute sagen, daß unsere Internationale diese Fehler im Fall Nicaragua vermied. Wir unterstützten nicht nur die Opposition gegen Somoza, sondern die Sozialdemokraten gewährten auch dem bewaffneten Kampf konkrete Solidarität. So muß unsere Solidarität sein: ohne Bedingungen und den Weg unterstützen, den die Völker selbst wählen, um ihre wirtschaftliche und politische Befreiung zu erreichen... Wir kritisieren den Mangel an politischen Freiheiten in Kuba, ja, aber wir denken nicht, daß Kuba ein Feind ist in dem Kampf gegen Unterentwicklung und ausländische Ausbeutung. Kuba exportiert heute seine Revolution nicht mehr in Form bärtiger Guerrilleros. Kuba kann heute dagegen die Früchte seiner sozialen Revolution exportieren, das heißt Lehrer und Ärzte als Hilfe für die anderen Völker Lateinamerikas und der Karibik." (8)

Die lateinamerikanische Solidaritätsbewegung mit dem Volk von Nicaragua hat zu einer neuen Qualität und zu einer nie gekannten regionalen Breite der antiimperialistischen Einheit geführt. In dieser regionalen Front für Demokratisierung und gegen die US-Intervention in Zentralamerika hat die sozialdemokratische Bewegung einen wichtigen Platz, gerade weil sie enge Bindungen zu Europa hat. Sie setzt ihr internationales Gewicht gegen die Kriegspläne Washingtons ein und solidarisiert sich offen mit authentisch revolutionärdemokratischen Befreiungsbewegungen auch dann noch, wenn diese die politische Macht erobert haben wie in Nicaragua. Das alles als neue und raffinierte Taktik einer Agentur des Imperialismus zu betrachten wäre undialektisch und politisch unklug. In der Wandlung der lateinamerikanischen Sozialdemokratie und der SI spiegelt sich der reale Aufschwung der kontinentalen Volksbewegung wider.

Bedingungen für eine "Sozialdemokratisierung" Lateinamerikas

Die Frage, ob sich ein Lateinamerika eine soziale und gesellschaftspolitische Entwicklung durchsetzt, die das sozialdemokratische Modell des reformierten, demokratischen Kapitalismus ermöglicht, hängt nicht von der Initiative der SI ab und auch nicht von der Option einzelner Reformpolitiker der Region. Ausgehend von einem wissenschaftlichen Reformismusbegriff, bedarf es für die massenhafte Verbreitung sozialdemokratischer Ideologie in der Arbeiterklasse objektiver Voraussetzungen:

- Die Arbeiterklasse ist die soziale Basis des Reformismus und die gesellschaftlich bestimmende Klasse geworden.

- Für das Entstehen einer breiten Arbeiteraristokratie ist zumindest ein mittleres Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und die Existenz monopolkapitalistischer Strukturen Voraussetzung.

Nur eine kleine Anzahl von Ländern hat in Lateinamerika einen derartigen Stand der ökonomischen Entwicklung erreicht, der die Integration der Arbeiterklasse durch Umverteilung der Monopolprofite ermöglicht. Diese Länder sind vor allem: Brasilien, Mexiko, Venezuela, Argentinien und Chile. In einigen dieser Länder gibt es auch Traditionen der Sozialpartnerschaft. Gerade die Arbeiter in Monopolgesellschaften sind gegenüber der Masse der Landarbeiter und der Halbproletarier relativ privilegiert. Es gibt auch eine Tradition sozialpartnerschaftlicher Gewerkschaften, die in der Vergangenheit an der AFL/CIO orientiert waren. In diesen Gewerkschaften hat die Sozialdemokratie in den letzten Jahren wichtige Schlüsselpositionen erobert. Im entwickeltsten kapitalistischen Land Lateinamerikas - Brasilien - setzt die Sozialdemokratie große Hoffnungen auf die Entwicklung der Brasilianischen Arbeiterpartei zu einer sozialdemokratischen Massenpartei mit Arbeiterbasis. Die Friedrich-Ebert-Stiftung beteiligt sich aktiv an den Versuchen, verschiedene sozialdemokratische und sozialistische Gruppen in Brasilien unter dem Dach einer Partei zu vereinigen, die den größten Teil der sich in Auflösung befindenden Oppositionsgruppe MDB aufnimmt. Es gibt also in Ansätzen Bedingungen für eine Sozialdemokratisierung der Arbeiterbewegung, für eine längerfristige Klassenzusammenarbeit ‚im Rahmen eines sich entwickelnden abhängigen Kapitalismus. Trotzdem ist nicht anzunehmen, daß sich die Geschichte der westeuropäischen Arbeiterbewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika in modifizierter Form wiederholt. Denn auch wenn es objektive Parallelen im Reifegrad des Kapitalismus gibt, gibt es keinen automatischen Prozeß der Sozialdemokratisierung. Auch in Rußland waren am Anfang des Jahrhunderts ähnliche Bedingungen für das Entstehen des Opportunismus vorhanden. Trotzdem entwickelte sich vor allem der revolutionäre Teil der Arbeiterbewegung. Wenn Rußland damals dasjenige imperialistische Land war, in dem alle ökonomischen und sozialen Widersprüche des Imperialismus am ausgeprägtesten waren, so sind es heute im Weltmaßstab diejenigen Länder Lateinamerikas, die schon eine monopolkapitalistisch bestimmte innere Struktur haben. Dazu kommt der Hauptwiderspruch dieser Länder gegenüber dem US-Imperialismus, und dazu kommt die Existenz einer Masse von Menschen - Halbproletarier, Slumbewohner, Landarbeiter -, die keinerlei Aussichten haben, irgendwann einmal in die Arbeiteraristokratie aufgenommen zu werden. Insgesamt gesehen muß auch bezweifelt werden, daß der lateinamerikanische Kapitalismus aufgrund seiner abhängigen Stellung auf dem Weltmarkt und aufgrund seiner Disproportionen überhaupt in der Lage ist, diejenigen Ressourcen zu mobilisieren, die notwendig sind, um breite Schichten der Arbeiter zu korrumpieren. Der lateinamerikanische Kapitalismus ist ein schwaches Glied in der Kette des Weltkapitalismus und wird es auch noch lange bleiben. Er hat zwar alle negativen Seiten hervorgebracht, die der Kapitalismus auf sozialem Gebiet überhaupt hervorbringen kann, ist aber gleichzeitig zu schwach, um die ökonomischen Mittel für die sozialpartnerschaftliche Integration hervorzubringen. Neben objektiven Faktoren, die eine Sozialdemokratisierung unwahrscheinlich machen, kommen subjektive, die mit den reichen revolutionären Kämpfen in Lateinamerika zu tun haben, die zwar häufig unter kleinbürgerlich-radikalen Vorzeichen stattfanden, aber immer auch eine stark antiimperialistische Komponente aufwiesen. Ein Beweis für die mangelnde soziale Integrationsfähigkeit des Kapitalismus sind nicht zuletzt auch die gescheiterten Regierungen unter sozialdemokratischer Führung.

In den argrarisch bestimmten Ländern Lateinamerikas sind die Voraussetzungen noch schlechter: Die ökonomischen Bedingungen fehlen ganz, die Alternative scheint hier wirklich Diktatur der Oligarchie oder revolutionär-demokratische Volksmacht mit sozialistischer Orientierung zu sein. Denn trotz der Unterentwicklung der Produktivkräfte besteht in allen diesen Ländern eine allgemeine revolutionäre Krise, die ein langes Hinausschieben der angesammelten scharfen sozialen Probleme nicht erlaubt. Diese Erkenntnis hat auch für die Sozialdemokraten Konsequenzen, die sich zunehmend vor die Entscheidung gestellt sehen: mit der Oligarchie oder mit der Revolution. Für die unterentwickelten Länder vor allem Zentralamerikas ist also ein "3. Weg" noch unwahrscheinlicher.

Für eine Sozialdemokratisierung der sozialen Basis bestehen ungünstige Voraussetzungen. Anders sieht es mit der politischen Sozialdemokratisierung kleinbürgerlicher und nationalrevolutionärer Parteien aus, die eine lange Tradition des nationalen Reformismus haben und im eigentlichen Sinne des Wortes keine Arbeiterparteien sind, auch wenn sie, wie die APRA in Peru oder die AD in Venezuela oder die PRI in Mexiko, die Arbeiterklasse nach wie vor ideologisch orientieren und führen. In der Phase ihres historischen Niederganges beginnen sich die populistischen und nationalrevolutionären Bewegungen von dem Vorbild USA zu lösen und sich an der internationalen Sozialdemokratie zu orientieren. So ist es kein Zweifel, daß die der SI zugeordneten Parteien vor allem aus dieser Tradition kommen.

Die informell liierten Parteien sind Parteien, die an Konferenzen der SI teilgenommen haben oder ansonsten eng mit ihr zusammenarbeiten. Trotz ihres informellen Status haben sich einige dieser Parteien sehr stark auf die SI ausgerichtet (APRA Peru oder PRI Mexiko der AD Venezuela). Die kleinbürgerlich-radikalen Parteien und Bewegungen haben sich bei ihrer Orientierung auf die Sozialdemokratie oft von bürgerlich-reformistischen Positionen gelöst und sich dabei nach links entwickelt.

Ausblick

Trotz der vorhandenen Instrumentalisierungsversuche gegenüber dem Reformismus Lateinamerikas durch die Sozialdemokratie an der Regierungsmacht ist die in Lateinamerika bestimmende Richtung der Klassenauseinandersetzung die des Fortschritts. Voreilige Beurteilungen der Rolle der Sozialdemokratie in diesem Prozeß der Aufwärtsentwicklung der Volksbewegung sind gefährlich, etwa die, daß eine Stärkung der Sozialdemokratie in Lateinamerika notwendigerweise zu einer Lähmung des Schwunges der Volksbewegung führen müsse. Die Stärkung der Sozialdemokratie in gewissen Etappen des Kampfes kann auch Vergrößerung der Kampfbereitschaft bedeuten. Die Frage ist nämlich: auf wessen Kosten wird die Sozialdemokratie stärker - auf Kosten bürgerlicher oder auf Kosten revolutionärer Positionen? Die sozialdemokratische Sammelbewegung ist innerhalb der Dynamik der gesellschaftlichen Prozesse in Lateinamerika in innerer Bewegung und in Bewegung auf ihre realen oder potentiellen Bündnispartner zu. Die Bewegungsrichtung dabei ist eindeutig antiimperialistisch. Die Methoden des Antiimperialismus haben den Rahmen des Verbalen längst gesprengt. Die Sozialdemokratie hat sich an wichtigen Brennpunkten des Kampfes praktisch auf die Befreiung verpflichtet. Wie kann sie den Weg zurück antreten ohne einen gewaltigen Autoritätsverlust? Die Haltung der Sozialdemokratie darf auch nicht an Fragen gemessen werden, die heute nicht im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung stehen, wie der Frage: Charakter der sozialistischen Staatsmacht oder vollständiges Eigentum des Volkes an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Die Alternative "Faschismus oder Sozialismus" steht heute nicht. Deshalb wird die Frage der Gestaltung des Sozialismus in Lateinamerika ein Problem der längerfristigen Auseinandersetzung innerhalb der Arbeiter- und Volksbewegung sein. Heute sind andere strategische Aufgaben lösbar, vor allem der Hauptwiderspruch zum Imperialismus und die Niederschlagung des Faschismus und der Militärdiktatur mit dem Ziel einer fortgeschrittenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Demokratie, einer Demokratie vom Charakter der revolutionären Volksmacht. Wenn akzeptiert wird, daß Zwischenlösungen auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft notwendig sind, daß die authentisch-revolutionären Kräfte allein zu schwach sind, dann wird die Frage: mit wem welche strategischen Aufgaben lösen? die Hauptfrage der Entwicklung des Kampfes. Die weitere Geschichte Lateinamerikas wird diese Frage endgültig beantworten. Aber alles scheint darauf hinzudeuten, daß die Sozialdemokratie in Lateinamerika in Lebensfragen der Region eine gemeinsame Sprache mit den Revolutionären findet und daß sie so, und nur so, ihre Bedeutung als politische Bewegung erhöhen kann.

1) W. Brandt, Eröffnung der Lateinamerikakonferenz, Lissabon, 30. September 1978, Redemanuskript, S. 23.
2) Boersner, D., Zum Beispiel Chile und Peru, in: Neue Gesellschaft, Nr. 8, 1971, S. 428.
3) Ebenda.
4) Kowalski, a.a.O., zitiert auf S. 251.
5) Matthöfer, Hans, in: Nueva Sociedad, ener.-febr. 1975, s. 67.
6) H. U. Bünger in: Neue Gesellschaft, 8/1974, S. 665/666.
7) In: Nueva Sociedad, Caracas, 1980, Nr. 50, S. 213.
8) In: Nueva Sociedad, Caracas, 1980, Nr. 48, S. 123.


CUBA LIBRE
Willi Huismann ist Mitglied des Bundesvorstandes der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

CUBA LIBRE 2-1981