"Somos un pais pobre pero digno"
Paul E. Hoeffel, Sonderkorrespondent des New York Times Magazin, kam geradewegs aus einem der Camps für Kuba-Auswanderer südlich von Miami/Florida, als wir uns im Juni im Hotel Riviera in Havanna trafen.
Er erzählte mir von Pedro, einem 19jährigen Kubaner, den er zwei Tage zuvor in jenem Camp kennengelernt hatte:
"Pedro, ein großer Junge mit schmalem Gesicht und dünnem Oberlippenbart begrüßte mich in Wranglers, trug ein frisches Alligator-Hemd und Wildlederschuhe. Die Hose allein würde ihn in Havanna 200 Dollar kosten, sagte er mir, und daß er für Hose, Hemd und Schuhe zusammen hier im US-Lager nur 35 Dollar auf den Tisch legen mußte.
Pedro verließ Kuba gegen den ausdrücklichen Willen seiner Familie. Sein Job in einem Schuhgeschäft in Havanna brachte ihm weniger als 100 Dollar im Monat, und Pedro ergänzte sein Einkommen, indem er auf Havannas schwarzem Markt mit US-Kleidung handelte, und, sehr selten, wie er betonte, Marihuana-Joints für 50 Dollar verkaufte."
Haben Pedro oder andere Kuba-Auswanderer, mit denen er sprach, für das Verlassen ihrer Heimat andere als wirtschaftliche Gründe genannt, wollte ich von Paul wissen?
"Ihre Beschwerden gegen Kuba berühren nur selten politische Angelegenheiten. Sie sind "Konsum-Flüchtlinge‘". Die Freiheit, die sie wollten, ist die Freiheit zu kaufen. Sie wollen Sachen."
Sachen. Die Versorgungslage der Bevölkerung in Kuba hat sich im 21. Jahr der sozialistischen Revolution durchaus und sichtbar verbessert. Trotzdem sagen die Kubaner selbstkritisch, daß es leider immer noch viele Punkte gibt, in denen sie ungenügend oder nur sehr wenig fortgeschritten sind: Sie meinen damit Probleme wie zum Beispiel das der Qualität der produzierten Güter.
Schon längst garantiert die Revolution jedem Kubaner mehr als ein Dach überm Kopf, Kleidung und genug zu essen - schon eine gewaltige Leistung für jeden Beobachter der Karibik, für jeden Kenner der Wirklichkeit in Haiti, Jamaika, Puerto Rico und der Dominikanischen Republik. Lebensmittel sind reichlich in den Geschäften und auf den neugeschaffenen Bauernmärkten zu haben, aber auch Schuhe, Radios und Möbel werden frei verkauft.
Beim abendlichen Treffen mit Isabel, einer Compañera aus Miramar, bestätigte sie mir:
"Es gibt Reis, Bohnen, Schmalz, Zwiebeln, Fisch, Geflügel, Kartoffeln, Kohl, Kaffee. Es gibt nur nicht viel Abwechslung."
Für "Abwechslung" sorgen andere. Paul E. Hoeffel machte mich mit Manuel bekannt, einem 20jährigen Kubaner aus Vedado/Havanna. Manuel wollte erst nicht mit der Sprache raus. Er sagte, daß er sich schäme, daß er wütend über sich selbst sei. Er habe leichtsinnig zu einer Entwicklung beigetragen, die er heute schlimm finde. Aber er sei dennoch ein Revolutionär und ein kubanischer Patriot, ich möge es ihm bitte glauben. Er erzählte:
"Im letzten Jahr war unter den mehr als 100.000 Mitgliedern von ‚la comunidad‘, der Gemeinschaft der in den USA lebenden Exilkubaner, die Kuba als Touristen besuchten, auch mein Onkel, ein Geschäftsmann aus Union City, New Jersey. Als er kam, war er beladen mit Sachen und Kleidung, die in Kuba nie zu haben sind. Ich war angeprickelt vom Besitz dieser Sachen und fing an, in meiner Freizeit zu handeln, schwarz und unter der Hand."
Manuel würde Kuba nie verlassen, aber er weiß von Bekannten und "Geschäftspartnern" zu erzählen, die richtig angetörnt waren von der Flut der schönen Dinge, die mit den US-Touristen kamen, die Abend für Abend die bunten Programme der US-Fernsehstationen eingeschaltet hatten und schließlich nur noch einen Gedanken hatten: Da will ich hin, da will ich Moos machen und den - vermeintlich - leichten und angenehmen "American way of Life" genießen.
Etwa zwei Prozent von Kubas Bevölkerung haben dem Land den Rücken gekehrt, die meisten "Wirtschaftsflüchtlinge", aber auch einige, die endlich ihre Hoffnungen begraben mußten, den Sozialismus auf Kuba zu kippen, die lange Zeit auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch Kubas gesetzt haben. Teile der alten besitzenden Klasse haben endgültig eingesehen, daß der Ruf "Nieder mit Fidel" heute in Kuba so unmöglich ist, wie ein Marsch des Ku-Klux-Klan durch New Yorks Negerviertel Harlem.
Die große Mehrheit des kubanischen Volkes hält es auch 1980 mit einer Grundhaltung, die nirgends besser zum Ausdruck kommt, als in jenem Satz, der hundertfach auf Hauswänden, Plakaten, an Autos und den Zäunen der Vorgärten vor den Bohios findet:
"Somos un pais pobre pero digno.‘" - "Wir sind ein armes Land, aber würdig."
Dieser Satz gilt und galt eben auch immer gerade dann, wenn Kuba vor wichtigen Entscheidungen steht und stand, immer dann, wenn es um die Zukunft der Revolution gehen wird.
Und ganz zweifelsfrei steht Kuba einmal mehr vor wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen, mit deren Realisierung Kubas Regierung, die PCC,die Poder Popular, die Verteidigungskomitees der Revolution, die Gewerkschaften und die anderen Massenorganisationen zur Zeit intensiv befaßt sind.
Leider erfahren wir über diese gesellschaftlichen Prozesse in der Presse unseres Landes so gut wie nichts. Und wenn, macht man’s sich leicht. Leseprobe aus der FAZ vom 25. August 1980:
"Mit einer sensationellen Wirtschaftsreform, die das kubanische Volk vom sterilen Kollektivismus zur individuellen Eigeninitiative und Eigennutzung zurückführen soll, will sich Castro praktisch an den eigenen Haaren aus dem Sumpf einer Wirtschaftskrise ziehen, die das Experiment des kubanischen Sozialismus zu zerstören droht ..."
Ganz unpolemisch: der Mann, der das schreibt, ist sein Geld nicht wert. Denn bereits ein Jahr vor dem Erscheinen dieser "sensationellen" Story, am 14. Juni 1979, hat Compañero Humberto Perez, ZK-Mitglied und Vorsitzender des zentralen Planungsrates, auf einer öffentlichen Veranstaltung in Havannas Theater "Lázaro Pena" die Vorbereitungen, Absichten und Ziele einer langfristigen, gründlichen und konsequenten Überprüfung der wirtschaftlichen Strukturen der Insel angekündigt.
So wurde zum Beispiel auf dem ersten Parteitag der PCC von den Delegierten entschieden, in Kuba ein System der Wirtschaftsleitung einzuführen, das auf der Unternehmensselbstfinanzierung beruht, ein System, das bis dahin nur sehr vorsichtig, schrittweise und begrenzt in einigen Teilen der Landwirtschaft, im Außenhandel und in wenigen Industriebereichen angewandt wurde, in allen übrigen Bereichen galt ein anderes Leistungsprinzip: das System der Haushaltsfinanzierung.
Im System der sogenannten Haushaltsfinanzierung arbeitete das betreffende Unternehmen nicht mit eigenem Kapital und war nicht verpflichtet, seine Kosten mit den erwirtschafteten Einnahmen zu decken, weil ihm alle benötigten Geldmittel direkt aus dem Staatshaushalt zuflossen und es die Einnahmen auch direkt an den Haushalt abführte.
Im Kuba von 1980 arbeitet das betreffende Unternehmen mit eigenem Kapital, um alle Kosten außer den Investitionen selbst zu decken. Zudem muß es einen jeweils festgesetzten Gewinn erwirtschaften, der für innerbetriebliche Verbesserungen und für Prämien für die besten Arbeiterkollektive gebraucht wird.
Das System der Wirtschaftsleitung steht der Verwendung der materiellen Anreize positiv gegenüber ohne die Wichtigkeit der moralischen Anreize zu schmälern. Seit 1979 bis zum 2. Parteitag der PCC in diesem Dezember wird das System der materiellen Anreize in 210 Unternehmen getestet, um die Gestaltung der Mittel für den kollektiven Anreiz mit den Arbeitern zu diskutieren und zu erproben, bevor sie nach dem 2. Parteitag auf alle Unternehmen des Landes ausgedehnt werden.
Einhergehend soll die Effektivität der Arbeit und die Produktivität erhöht werden. Dazu ein Originalzitat vom Compañiero Perez:
"In diesen Punkten zeigen sich Rückstände, Disziplinlosigkeiten, Verständnislosigkeiten und geringere Qualität, wie sich bei der Normenkontrolle am Schluß des letzten Jahres (1978) und am Anfang dieses Jahres (1979) eindeutig bewiesen hat."
Deutliche Worte. Aber dafür sind Kubas Revolutionäre bekannt: es gibt keine Tabus im Dialog zwischen den Millionen Campesinos und Trabajadores und den Comandantes und Funktionären der PCC. Selbst das New York Times Magazin schrieb im August:
"Die kubanischen Behörden sprechen wirklich eindrucksvoll offen über Probleme und Fehler."
Der zweite Parteitag der Kommunisten Kubas wird diese Tatsache einmal mehr unterstreichen. Probleme und Fehlentwicklungen werden wie seit den Tagen des siegreichen Einzugs der Guerilleros in Havanna beim Namen genannt und nach besten Kräften beseitigt. Kuba steht nach wie vor vor großen Herausforderungen: es stellt sich im wachsendem Maße seinen internationalistischen Verpflichtungen in Afrika und Lateinamerika, es will den Lebensstandard im eigenen Land heben, es will sich entwickeln.
Harald Meinke, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der FG
CUBA LIBRE 3-1980