Die Ereignisse in der peruanischen Botschaft in La Habana wurden in den Massenmedien der USA und der westeuropäischen Länder zum Anlaß für eine Kampagne genommen, die sich deutlich von ähnlichen Versuchen der jüngsten Zeit abhob. Wesentlich intensiver als bei der Eröffnung der 6. Gipfelkonferenz der nichtpaktgebundenen Staaten mit der "auf Kuba stationierten sowjetischen Kampfbrigade" oder bei der Regierungsumbildung im Januar dieses Jahres wurde nun in den Medien ein Bild der kubanischen Realität gezeichnet, das vorwiegend auf Spekulationen basierte. Auf der Grundlage der Tatsache, daß einige tausend Kubaner das Land verlassen wollen, und mit einigen Meldungen über wirtschaftliche Schwierigkeiten wurde - wenn auch unterschiedlich nuanciert – das Versagen der kubanischen Revolution diagnostiziert: "Der Bayernkurier" stellte fest, daß auch in Kuba der Sozialismus seine angebliche Qualität nicht beweisen konnte und somit "kubanische Rezepte" als untauglich entlarvt worden seien; (1) das "Handelsblatt" konnte über einen wachsenden Widerstand gegen die kubanische Regierung berichten, verursacht durch die Unfähigkeit, den Lebensstandard zu verbessern; (2) der FAZ-Kommentator und (selbsternannte) Kuba-Experte Robert Held wußte gar, daß 80% der Kubaner mit den Leistungen des Regimes schlechthin unzufrieden sind; (3) der Bonner "General-Anzeiger" sah die deutliche Niederlage Fidel Castros. (4) Die "Süddeutsche Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau" bescheinigten der kubanischen Revolution zwar große Erfolge in den vergangenen zwanzig Jahren - Abschaffung der Arbeitslosigkeit, des Hungers und Elends, Aufbau eines vorbildlichen Gesundheits- und Bildungswesen - , aber der Sinn der kubanischen Jugend sei ganz auf höheren Lebensstandard und mehr Freizügigkeit gerichtet, und diese Güter könne die Revolution nicht bieten, (5) oder: Kuba könne die Revolution "politisch-intellektuell" nicht fortführen, so daß die verkrusteten bürokratischen Strukturen Energien und Engagement hemmen. (6) Realistisch wird allerdings darauf verwiesen, daß die Revolution in Kuba alles in allem "noch"(!) ungefährdet sei. (7)
Überdeutlich wird hier der Versuch, das hohe Ansehen, das Kuba auch in der Bundesrepublik genießt, herabzusetzen. Das war und ist eine Komponente der Kampagne gegen Kuba, während sie andererseits der Absicherung geplanter Aktivitäten der USA in der Karibik und in Mittelamerika dient.
Zunächst sei jedoch auf einige innenpolitische Aspekte der aktuellen Vorgänge eingegangen, denn natürlich wirft die große Zahl der Ausreisewilligen die Frage nach den innerkubanischen Gründen der erneuten Abwanderungswelle auf, gingen doch nicht nur Freunde Kubas in den zurückliegenden Jahren (mit Recht) davon aus, daß die karibische Insel im letzten Jahrzehnt große Erfolge beim wirtschaftlichen Aufbau und der Sicherung der zahlreichen sozialen Errungenschaften der Revolution realisieren konnte, es heute dem kubanischen Volk in seiner Gesamtheit besser als jedem anderen Volk Lateinamerikas geht.
In den westlichen Massenmedien werden – wie oben angedeutet - zur Begründung der aktuellen Krise u.a. zwei Faktoren genannt, die eine zunehmende Unzufriedenheit ausgelöst haben sollen: zum einen ein angeblich wachsender Unwille gegenüber der Hilfe Kubas für andere Völker und Staaten, zum anderen die Unzufriedenheit vieler Jugendlicher, die weitergehende Möglichkeiten der Entfaltung suchen. Der erstere Aspekt dürfte eher dem Wunschdenken der Gegner Kubas entstammen, denn Tatsache ist, daß der Internationalismus in der gesamten kubanischen Bevölkerung stark verwurzelt ist. Als Bauarbeiter für eine Brigade gesucht wurden, die in Vietnam helfen sollte, meldeten sich innerhalb von Stunden Tausende kubanischer Bauarbeiter. Ähnliches geschah bei der Werbung für Einsätze in Schwarzafrika und neuerdings auch in Nicaragua. Als kürzlich Lehrer für dieses mittelamerikanische Land gesucht wurden, meldeten sich über 90% aller Lehrer, die über die geforderte Qualifikation verfügten. Schwieriger ist es, das Verhalten der kubanischen Jugend, ihre Vorstellungen, Wünsche und Träume richtig einzuschätzen und gerecht zu beurteilen. Eine präzise Analyse kann hier nicht vorgelegt werden, allenfalls einzelne Eindrücke lassen sich hier wiedergeben. So werden eigenständigere Formen der Freizeitgestaltung, neuen Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau und speziell andere Normen im sexuellen Bereich temperamentvoll diskutiert. Auch in der Musik - um einen weiteren Bereich zu nennen, in dem sich kontroverse Auffassungen unter der Jugend festmachen lassen - existieren heute unterschiedliche Vorstellungen. Neben dem "neuen kubanischen Lied" mit starker politischer Ausdruckskraft sind z.B die westeuropäischen Gruppen "Abba" und "Boney M" sehr beliebt. Andererseits nehmen dieselben Jugendlichen die umfangreichen Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Schulen Kubas wahr, praktizieren sie hier solidarische Hilfe untereinander, fordern sie die Weiterentwicklung der kubanischen Revolution. Es gab im übrigen - trotz anderslautender Berichte - nur wenige Jugendliche, die sich in die Botschaft Perus abgesetzt hatten.
Sehr viel aufschlußreicher in bezug auf die aktuellen Vorgänge in Kuba sind zwei andere Aspekte, denen in den westlichen Medien weit weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden ist: die wirtschaftliche Krise infolge von Naturkatastrophen und Pflanzenkrankheiten sowie die dubiose Rolle der Exilkubaner. Gerade in den letzten Monaten muß Kuba mit unvorhergesehenen ökonomischen Problemen fertig werden. Zu niedrigen Zuckerpreisen und immer höher steigenden Preisen für die notwendigen Importe aus dem kapitalistischen Ausland kamen Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, die beträchtliche Schäden verursachten. Der Blauschimmel, eine Pflanzenkrankheit, vernichtete 90% der kubanischen Tabakernte 1979, so daß heute nicht nur keine Zigarren mehr exportiert werden können, sondern Tabak für den eigenen Konsum importiert werden muß. 26.000 Tabakarbeiter sind heute unter Aufrechterhaltung ihres Einkommens in anderen Bereichen tätig. Eine andere Pflanzenkrankheit befiel die in Kuba häufig angebaute Zuckerrohrsorte "Barbados 4363" - ein Drittel des angebauten Zuckerrohrs mußte deswegen vernichtet, neue Sorten angepflanzt werden. Dadurch wurde die diesjährige Zuckerernte verringert. Insgesamt dürften mehr als eine Milliarde DM an Devisen für Kuba verlorengehen. Ob die beiden Pflanzenkrankheiten auf natürliche Art und Weise Tabak und Zuckerrohr befallen haben, ist nicht ganz sicher. Schließlich wurde dem CIA in den siebziger Jahren das Einschleppen der Rinderpest nachgewiesen. Da aber offensichtlich keine Beweise für Sabotage vorliegen, schweigt die kubanische Regierung dazu.
Durch Flüchtlinge aus Haiti wurde die Schweinepest eingeschleppt. Armee-Einheiten mußten Tausende von Schweinen erschießen. So ist auch Fleisch knapp geworden. Die Kaffeeration wurde halbiert, so daß heute jeder Kubaner mit 15 Gramm Kaffee pro Woche auskommen muß. Lange Zeit gab es keine schwarzen Bohnen. Auch wenn es Gemüse, Salat, Kartoffeln und. Fisch reichlich gibt, schwarze Bohnen gehören in Kuba möglichst zweimal am Tag auf den Tisch.
Nach und nach, in letzter Zeit verstärkt, wird der Lohn nach Leistung eingeführt; auch sind die Zeiten vorbei, wo jede schlampige Arbeitsleistung mit dem Hinweis.auf die Wirtschaftsblockade oder noch allgemeiner mit dem Hinweis auf den Imperialismus gerechtfertigt werden konnte. Anspruchsvoll ist man in Kuba geworden, überall im Lande wird darüber diskutiert. Für die meisten, für die große Mehrheit der Werktätigen hat sich dadurch nicht viel geändert, aber jetzt wird von allen Leistung erwartet. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber durchaus für manchen Kubaner eine ungewohnte Situation. Ist es daher verwunderlich, wenn es Menschen gibt, die solchen Schwierigkeiten ausweichen wollen? Ist es nicht eine Illusion zu glauben, daß ganze zwanzig Jahre nach dem Beginn der Revolution alle Kubaner überzeugte Kommunisten sind, die alle Schwierigkeiten verstehen und Entbehrungen in Kaufnehmen, ja darüber hinaus noch mit sehr harter Arbeit an der Überwindung der Schwierigkeiten mitwirken?
1978 nahm die kubanische Regierung den Dialog mit den Exilkubanern auf. Ein Ergebnis war die Freilassung der 3.600 Gefangenen in Kuba, die wegen Sabotage, bewaffneten Aktionen oder illegalem Eindringen in das Land verurteilt worden waren. Ein weiteres Ergebnis war die Vereinbarung, daß die Exilkubaner zu Besuchen nach Kuba einreisen dürfen. Beide Ergebnisse dürften in einem mindestens mittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen in der Botschaft Perus stehen: Allein im vergangenen Jahr besuchten mehr als 150.000 Exilkubaner ihr Heimatland. Es wäre ebenfalls eine Illusion zu meinen, daß sie als Freunde der kubanischen Revolution kommen, und eine derartige Illusion hat in Kuba niemand. Sie üben also einen Einfluß aus, sei es mit den Geschenken, sei es mit den Erzählungen über ihr Exil. So ist z.B. durch die mitgebrachten Geschenke ein zwar kleiner, aber doch vorhandener Schwarzmarkt entstanden.
Zurück zum außenpolitischen Aspekt der jüngsten Vorgänge. Es ist bekannt, daß die USA bereits heute mit zahlreichen Militärberatern das Regime in El Salvador stützen und daß militärische Interventionen seitens der USA geplant sind. Interventionspläne stoßen aber heute bei den Regierungen Lateinamerikas nicht mehr auf die Zustimmung wie noch vor zehn Jahren; z.B. trugen die lateinamerikanischen Staaten im vergangenen Jahr zur Verhinderung der militärischen Intervention der USA in Nicaragua bei. Mit einer antikubanischen Kampagne und der Schaffung eines Krisenherdes in der Karibik sollten nun erneut Interventionspläne abgesichert werden. US-Präsident Carter erklärte am 9. April angesichts der Ereignisse in der peruanischen Botschaft, daß die Länder Lateinamerikas wachsam gegenüber Kuba sein müßten; er kündigte ein "energischeres" Auftreten der USA in Mittelamerika und in der Karibik an und ging so weit, von einer Bedrohung dieser Region durch Kuba zu sprechen. (8) Einen Tag später ließ das Pentagon verlauten, daß Anfang Mai umfangreiche Manöver in der Karibik durchgeführt würden, und betonte zugleich, daß die Manöver in keinem Zusammenhang mit der "zur Zeit vorhandenen Instabilität in der Karibik und in Mittelamerika" stünden. (9) Ihr Umfang und die Begleitumstände lassen jedoch nur den umgekehrten Schluß zu. Wurden die "Solid-Shield"-Manöver bis dahin vorwiegend auf dem Territorium der USA durchgeführt, so sollten in diesem Jahr die gesamten Streitkräfte - 20.000 Mann, 42 Kriegsschiffe und 350 Kampfflugzeuge - um Kuba herum eingesetzt werden. Zum ersten Mal sollten die B-52-Bomber in der Karibik die See-Verminung und über 3.000 Marine-Soldaten auf dem Stützpunkt Guantanamo in Kuba - bis heute widerrechtlich von den USA besetzt - Landemanöver durchführen. Zum ersten Mal seit der "Raketen-Krise" im Oktober 1962 kündigten die USA die Evakuierung ihres zivilen Personals aus Guantanamo an.
Die kubanische Regierung nahm diese Drohung sehr ernst, da die Pläne für militärische Interventionen bekannt waren. Mittlerweile hat ein Sprecher des Pentagons gegenüber der "Washington Post" erklärt: äDas Ziel des Pentagons ist die Landung von amerikanischen Marineinfanteristen in El Salvador.ä (10) Außerdem wurde gemeldet, daß die amerikanische Interventionspolitik in Mittelamerika und der darüber ausgelöste Streit zwischen Vance und Brzezinski auch ein wesentlicher Grund für den Rücktritt des ehemaligen US-Außenministers gewesen ist. (11) Das militärische Abenteuer Carters im Iran liefert einen weiteren Hinweis dafür, daß die US-Regierung nach wie vor auch mit militärischer Gewalt gegen fortschrittliche Regierungen und Bewegungen vorzugehen bereit ist. Aus diesen Gründen begannen in Kuba die Vorbereitungen zur Abwehr der Bedrohung durch die USA. Einerseits verstärkten sich im ganzen Land die Kundgebungen zur Unterstützung der Maßnahmen der Regierung anläßlich der Ereignisse in der peruanischen Botschaft, andererseits wurde angekündigt, daß in der weiteren Umgebung des Stützpunktes Guantanamo umfangreiche Manöver der kubanischen Streitkräfte stattfinden werden, und zwar gleichzeitig mit den US-Manövern. (12) Weiterhin wurde bekanntgegeben, daß alle Vorbereitungen für den Fall einer eventuellen See-Blockade durch die USA getroffen werden. Am 19. Jahrestag des Sieges in der Schweinebucht demonstrierten 1,5 Millionen Kubaner vor der Botschaft Perus in La Habana, am 1. Mai fand eine der größten Kundgebungen statt, die je in Kuba gesehen wurde, und für den Beginn der US-Manöver wurden landesweit Kundgebungen und Demonstrationen vorbereitet, an denen sich voraussichtlich vier bis fünf Millionen Kubaner beteiligen werden. Die Massenmedien Kubas bringen umfangreiche Reportagen, in denen die Bevölkerung ihren Willen zum Ausdruck bringt, gegenüber jedem Angriff bereit zu sein.
In Lateinamerika wurden die kubanischen Sorgen sehr ernst genommen. Demonstrativ kündigte Mexikos Präsident Lopez Portillo bereits am 12. April einen Staatsbesuch in Kuba Ende Juli an. (13) Aus Sorge um den Frieden in der Karibik waren bei der 1.-Mai-Kundgebung in La Habana der Ministerpräsident Grenadas, Bishop, und - als Vertreter der Regierung Nicaraguas - Daniel Ortega anwesend. Weiterhin sprachen der ehemalige Präsident von Santo Domingo, Bosch, sowie Romesh Chandra (Vorsitzender des Weltfriedensrates) und Enrique Pastorino (Vorsitzender des Weltgewerkschaftsbundes). (14) In seiner Ansprache konnte Fidel Castro jedoch mitteilen, daß die geplanten US-Manöver nicht wie angekündigt stattfinden, sondern evtl. im Süden der USA durchgeführt würden. Dennoch sei die Lage weiterhin sehr angespannt. Die kubanischen Manöver seien zwar auch abgesagt worden, aber am 17. Mai würden mehrere Millionen Kubaner im ganzen Land für die Beendigung der Wirtschaftsblockade durch die USA, die Räumung des Stützpunktes Guantanamo sowie die Beendigung der Spionageflüge über Kuba demonstrieren. Die unmittelbare Bedrohung des Friedens in dieser Region scheint nicht zuletzt dank des entschlossenen Verhaltens Kubas sowie der breiten Solidarität mit Kuba besonders in Lateinamerika abgewendet zu sein. Insgesamt gesehen dürfte die Entwicklung in Mittelamerika und in der Karibik aber auch in Zukunft militärische Abenteuer der USA erwarten lassen.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund müssen die Ereignisse in der peruanischen Botschaft gesehen werden, und so läßt sich auch erklären, weshalb eine Isolierung Kubas in Lateinamerika nicht festgestellt werden kann. Kein Land- einschließlich Peru und Venezuela - wollte die Beziehungen mit Kuba abbrechen, lediglich Costa Rica drohte mit dem Abbruch der konsularischen Beziehungen. Dank der Vermittlung Kubas konnte die Geiselnahme in der Botschaft von Santo Domingo in Bogotá friedlich gelöst werden, Kuba vermittelt weiterhin zwischen Afghanistan und Pakistan. Die Erfolglosigkeit der jüngsten antikubanischen Kampagne insbesondere in den unterentwickelten Ländern dürfte verständlicher werden, wenn Einzelheiten und Hintergründe der Ereignisse berücksichtigt werden.
Vor der Darlegung dieser Einzelheiten muß zum besseren Verständnis auf ein wesentliches Prinzip der kubanischen Revolution verwiesen werden: die Freiwilligkeit der Teilnahme am Aufbau des Sozialismus. Dieses Prinzip wurde seit Beginn der revolutionären Veränderungen proklamiert, bis heute beibehalten und zuletzt von Fidel Castro in seiner Rede vor dem III. Kongreß des kubanischen Frauenverbandes FMC bekräftigt. (15) Die Einhaltung dieses Prinzips war insbesondere in den ersten Jahren mit großen Schwierigkeiten verbunden, verließen doch Hunderttausende von Kubanern das Land. Bis zum März 1961 hatten bereits 100.000 Kubaner die Insel verlassen, und nach der Proklamierung des sozialistischen Charakters der kubanischen Revolution steigerte sich der Auswandererstrom, so daß bis Mitte 1962 die Zahl der Exilkubaner bereits mehr als 200.000 umfaßte und wöchentlich 3.000 Personen ihr Vaterland verließen. (16) Mit den inzwischen (innerhalb und außerhalb Kubas) geborenen Kindern dürften heute zwischen 80.0000 und 1 Million Exilkubaner zu zählen sein — der größte Teil davon lebt in den USA. Allein in "Little Havanna" in Miami (Florida) leben rund 400.000 Exilkubaner. Dieser Exodus verursachte streckenweise sehr ausgeprägte Engpässe, verließen doch allein 50% aller Ärzte wie überhaupt zahlreiche Spezialisten und Fachkräfte das Land. Enteignete Großgrundbesitzer, Prostituierte, Zuhälter und Glücksspieler, aber auch Arbeiter und Angestellte drehten der Insel den Rücken zu. Die Motive waren vielfältig und wurden verstärkt durch die Anstrengungen seitens der USA Kuba auf diese Weise auszubluten. Sind die Grenzen der USA gegenüber Einwanderern aus den lateinamerikanischen Ländern praktisch geschlossen, so wurden die Kubaner mit offenen Armen empfangen. Als Kuba auf diese Weise nicht in die Knie zu zwingen war, wurden auch für Kubaner die Grenzen geschlossen. Da man jedoch kubanische Flüchtlinge nach wie vor als Helden der Freiheit in den USA empfing und feierte, wurden. gewaltsame Fluchtversuche genährt, nahm ihre Zahl zu. Daraufhin öffnete die kubanische Regierung den Hafen Camarioca in der Nähe von Varadero. Mit Yachten, Segel- und Motorbooten konnte nunmehr jeder Ausreisewillige von Freunden oder Verwandten aus den USA abgeholt werden. Diese unkontrollierte Einwanderung wurde von den USA nicht akzeptiert. Man erzielte schließlich eine Übereinkunft über die monatliche Einreise von 600 Kubanern. (17) Seit 1959 gilt nach wie vor die Regelung, daß die Ausreise aus Kuba gestattet wird, sobald ein Einreisevisum für ein beliebiges Land vorgewiesen wird.
In der Vergangenheit hielten sich sowohl die USA wie auch andere Länder, insbesondere lateinamerikanische Staaten, sehr zurück bei der Erteilung von Einreisevisa; seit Mitte 1979 aber wurden Peru und Venezuela offenkundig freizügiger in dieser Frage, sofern die Antragsteller mit Gewalt in die Botschaft eindrangen. Zum besseren Verständnis muß hinzugefügt werden, daß jede Botschaft in Kuba auf Wunsch des jeweiligen Landes bewacht wird. Länder wie Peru oder Venezuela haben diesen Schutz erbeten, im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik, deren Mission ebensowenig wie die Mission der USA in La Habana bewacht wird. Betrat nun ein Kubaner die peruanische Botschaft in friedlicher Weise - woran er durch die Wachen selbstverständlich nicht gehindert wurde - und bat um ein Visum, so wurde der Wunsch nicht erfüllt. Drang er aber gewaltsam, beispielsweise mit einem gestohlenen Lastwagen, in die Botschaft ein, so erhielt er den Status eines politischen Flüchtlings und auf diese Weise auch das gewünschte Visum sowie entsprechende Publicity bei der Ankunft im Gastland. Ebenso verhielten sich die USA: Einreiseanträge wurden mehr als schleppend behandelt, aber wer mit einem gekaperten Fischkutter oder Motorboot in den USA ankam, wurde als Held gefeiert - anders als etwa Flüchtlinge aus Haiti, die zum Teil wieder ausgeliefert werden. Es kann also festgehalten werden, daß mit dieser Vorgehensweise sowohl die USA wie auch insbesondere Peru die Gewalttätigkeit und den Terrorismus in Kuba nähren und stimulieren wollten. Dieses Verhalten der Botschaften stieß auf den Protest selbst der Diplomaten, und so konnten sich im Februar 1980 Venezuela und Peru darauf einigen, daß derartige Praktiken nicht mehr toleriert und angewendet werden. (18) Der peruanische Botschafter in Kuba, Eduardo de Habish, wandte sich öffentlich gegen das gewaltsame Eindringen in seine Botschaft und war auch nicht mehr bereit, gemäß den Anweisungen seines Außenministeriums in solchen Fällen politisches Asyl zu gewähren. (19) Daraufhin wurde er auf Weisung des peruanischen Außenministers Garcia y Garcia abberufen und nach 33 Jahren aus dem diplomatischen Dienst ausgeschlossen. (20) Die Botschaft wurde angewiesen, weiterhin jedem ein Visum auszustellen, der mit Gewalt eindringt.
So erklärt es sich, daß mehrfach kleinere Gruppen von Kubanern mit Gewalt die Botschaft Perus stürmten, die Botschaft z. B. der Bundesrepublik aber weiterhin unbelästigt blieb. So kam es schließlich zum Sturm auf die Botschaft am 1. April 1980, bei dem der Soldat des Innenministeriums Pedro Ortiz Cabrera getötet wurde. In einer Erklärung protestierte die kubanische Regierung scharf gegen das Verhalten der Länder, die damit nur Gewalttaten stimulierten. Es wurde darauf verwiesen, daß die Gewalttäter nie politische Probleme hatten, sondern häufig gewöhnliche Kriminelle waren. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Aggressionsdrohungen seitens der USA gegen Kuba verstärkt worden seien, käme es nun auch zur Eskalierung der Gewalttaten gegen Botschaften. In der Erklärung hieß es weiter, daß von nun an keiner, der gewaltsam in eine Botschaft eindringe, die Erlaubnis zum Verlassen des Landeserhalten werde, und daß außerdem der sofortige Abzug der Wachen vor der Botschaft Perus beschlossen sei. Unter keinen Umständen werde geduldet, daß unter dem Hinweis auf diplomatische Immunität Verbrechen legalisiert, gewöhnliche Kriminalität beschützt und ein Klima der Unsicherheit erzeugt werde. (21)
Diese Erklärung wurde durch die kubanischen Massenmedien verbreitet, und bereits am 7. April erklärte die Regierung Kubas, daß – wie erwartet - wenige Stunden nach Veröffentlichung der Nachricht, die Wachen vor der Botschaft Perus seien abgezogen, Hunderte von Personen sich dort eingefunden hätten, um das Land zu verlassen. Nach weniger als 48 Stunden waren es bereits mehr als 3.000. Keiner von ihnen sei allerdings ein politisch Verfolgter. Es waren Unzufriedene, die in der Erwartung kamen, in Peru oder in den USA als Helden empfangen zu werden, nach Aussagen des peruanischen Geschäftsträgers aber auch zahlreiche Kriminelle, Prostituierte und Schwarzmarkthändler. (22) Der belgische Botschafter in Kuba sprach vorsichtig von "Menschen aus den untersten Schichten".
Die kubanische Regierung erklärte, daß jeder nach seiner Registrierung und der Ausstellung des Reisepasses die Botschaft wieder verlassen könne, um bei Erteilung der Einreisegenehmigung dann ohne Schwierigkeiten das Land zu verlassen. Diejenigen, die in der Botschaft bleiben wollten, wurden mit drei Mahlzeiten täglich versorgt, mobile sanitäre Einrichtungen und Krankenbetreuung sowie die tägliche Milch für Kinder wurden bereitgestellt. (23) Allein bis zum 7. April hatten 2470 Personen von dem Recht Gebrauch gemacht, sich einen Passierschein ausstellen zu lassen, um in der eigenen Wohnung zu übernachten. (24)
Es gibt Hinweise dafür, daß die kubanischen Maßnahmen sowohl Peru wie auch die USA überraschten. Es wurde nun deutlich, daß beide Länder in Zugzwang gerieten und Maßnahmen ergreifen mußten. Zwar gelang es, über einige Tage hinweg eine großangelegte Kampagne mit den "Flüchtlingen", die lediglich Ausreisewillige waren, zu entfesseln. Um weiterhin eine publizistische Ausschlachtung zu gewährleisten, wurde von Costa Rica der Plan vorgelegt, alle Ausreisewilligen in ein Lager in der Nähe von San José zu transportieren, um von dort aus alles weitere zu regeln. Die kubanische Regierung verweigerte dieser provokatorischen Maßnahme die Zustimmung und beharrte auf dem Standpunkt, daß nur die direkte Ausreise nach Erteilung der Einreisevisa möglich sei. (25) Nun mehr mußten Peru und die USA unmißverständliche Zusagen machen. Beide Länder weigerten sich, alle Ausreisewilligen aufzunehmen. Die USA erklärten, 3.500 Personen aufzunehmen, Peru 1000, Spanien 500, die BRD 345. (26) Chile erklärte zunächst seine Bereitschaft, Kubaner aufzunehmen, dann verlangte es, eine "Auswahl" solle getroffen werden und schließlich blieb von dem Angebot nichts übrig; (27) an Peru wurden lediglich zur Unterstützung 15.000 Dollar überwiesen. Den Erklärungen folgten jedoch keine entsprechenden Anweisungen an die Botschaften; offensichtlich sollte das Problem der "Flüchtlinge in der Botschaft" weiter aufrechterhalten werden.
Das Problem wurde jedoch auf eine andere Art gelöst. Am 13. April erklärten Sprecher der Exilkubaner in Miami, daß sie mit 100 bis 150 Schiffen nach Kuba fahren wollten, um Nahrungsmittel für die "Flüchtlinge in der Botschaft" abzugeben und evtl. einige an Bord zu nehmen. (28) Die US-Küstenwache riet von dem Unternehmen ab, weil es zu gefährlich werden und zudem internationale humanitäre Aktionen gefährden könne. Am 21. April trafen jedoch die ersten Schiffe im Hafen von Mariel ein, der von den kubanischen Behörden für Ausreisezwecke freigegeben worden war. In den ersten beiden Tagen erreichten so 100 Kubaner die USA, darunter auch solche, die sich nicht in der Botschaft Perus aufgehalten hatten. (29) Die US-Behörden drohten den Einwanderern mit drakonischen Strafen: Deportation der illegalen Einwanderer, für den Schiffsführer bis zu 2.000 Dollar Geldstrafe und Gefängnis bis zu fünf Jahren sowie Beschlagnahme des Schiffes. Angesichts des Andrangs war es aber nicht möglich, diese Maßnahmen durchzuführen - zu groß wäre die Empörung unter den Exilkubanern in den USA gewesen. Am 26. April lagen bereits 950 Schiffe in Mariel, bereit, bei Besserung des Wetters in die USA abzureisen. (30) Am 3. Mai war die Zahl der Schiffe, die in Mariel auf Abfertigung warteten, bereits auf über 3.000 angestiegen. (31) Um die Sicherheit der Hin- und Rückfahrt zu garantieren, wurde eine Kette von kubanischen Schiffen gebildet, die in einem Abstand von acht Meilen die Sicherheit des Transports garantierten. So ist es bislang trotz schlechter Witterungsverhältnisse noch zu keiner ernsthaften Gefährdung des Lebens der Beteiligten gekommen,(32) obwohl dies verschiedentlich in den USA behauptet wurde. Angesichts der Reaktion Kubas war die Verwirrung in den Medien der Bundesrepublik groß. Denn nunmehr mußte nicht nur die Bereitschaft der kubanischen Regierung erklärt werden, sondern auch die Tatsache, daß sich in der Botschaft Perus immer weniger Personen aufhielten. Waren zeitweilig mehrere tausend Menschen dort versammelt, so betrug ihre Zahl am 23. April 1.200 (33) und am 26. April nur noch 800. (34) Die FAZ nannte die Öffnung des Hafens Mariel eine "geniale Reaktion der kubanischen Regierung", (35) während die Welt lediglich wütende Kommentare aus Washington abdruckte: "Kubas Staatschef Castro glaube offensichtlich, daß er die Einwanderungspolitik und die Aufnahme von Flüchtlingen in den USA ‚diktieren‘ könne und daß jeder, den er nach Amerika schicken wolle, aufgenommen werde." Gleichzeitig appelliere die USA-Regierung an die internationale Gemeinschaft, sie möge "ihrerseits auf die ‚durch die mitleidlose Aktion der kubanischen Regierung geschaffenen Leiden‘ reagieren". (36) So sind denn auch weitere gegen Kuba zu verwertende Nachrichten in Zusammenhang mit der Besetzung der peruanischen Botschaft ausgeblieben, ist zumindest dieser Teil der aktuellen antikubanischen Kampagne in sich zusammengefallen.
1 "Bayernkurier" vom 12. 4. 1980.
2 "Handelsblatt" vom 9. 4. 1980.
3 „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) vom 9. 4. 1980.
4 Bonner "General-Anzeiger" vom 8. 4. 1980.
5 So Carlos Widman in der "Süddeutschen Zeitung" vom 14.4.1980.
6 Vogl. den Leitartikel "Kubas Aussteiger" in der "Frankfurter Rundschau" vom 11. 4. 1980 sowie den Artikel "Ausstieg aus Kuba" im "Vorwärts" vom 17. 4. 1980, beide von A. A. Guha.
7 Darauf wird allerdings nur im "Vorwärts" hingewiesen.
8 Vgl. "Monitor-Dienst Lateinamerika" vom 11. 4. 1980.
9 Vgl. "El Pais" (Madrid) vom 11. 4. 1980.
10 Siehe FAZ vom3. 5.1980 sowie auch den ausführlichen Bericht "Bürgerkriegsvorbereitungen in Mittelamerika" in der FAZ vom 12. 4. 1980. Fidel Castro teilte während seiner Rede am 1.5. 1980 mit, daß der US-Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan sich für eine totale Blockade Kubas ausgesprochen habe. Vgl. dazu die Prensa-Latina-Meldung 220-224 vom 1. 5. 1980.
11 FAZ vom 3. 5. 1980.
12 Mitteilung des kubanischen Außenministeriums: Circular 516 vom 1. 5. 1980.
13 Mitteilung des kubanischen Außenministeriums: Circular 427 vom 12. 4. 1980.
14 Prensa-Latina-Meldung 220-224 vom 1. 5. 1980.
15 Siehe "Granma" vom 10. 3. 1980.
16 Siehe Hugh Thomas, Cuba - The Pursuit of Freedom, New York 1971, S. 1354, 1384 und 1482.
17 Vgl. "ppp-Hintergrund-Dienst" vom 28. 4. 1980, S. 3ff.
18 Siehe "Monitor-Dienst Lateinamerika" vom 19. 2. 1980 sowie "Los sucesos de la Embajada de Venezuela", in: "Bohemia", No. 25 vom 22. 6. 1979.
19 "Monitor-Dienst Lateinamerika" vom 25. 1. 1980.
20 Die Vorstellungen des heutigen peruanischen Außenministeriums über "politisches Asyl" wurden 1973 deutlich: Damals, zur Zeit des faschistischen Putsches gegen die Regierung der Unidad Popular, war er Botschafter seines Landes in Chile. Es ist erwiesen, daß er Asylgesuche fortschrittlicher Peruaner abgewiesen hat und sie damit an die Mörderbanden Pinochets auslieferte.
21 Declaracion del Gobierno Revolucionario Cubano, in: "Granma" vom 4. 4. 1980.
22 Siehe „Der Spiegel‘' vom 14. 4. 1980, S. 158.
23 Dies galt bereits seit den ersten Tagen; vgl. "Granma" vom 4.4. 1980.
24 Siehe "Juventud Rebelde" vom 7. 4. 1980.
25 Vgl. "Süddeutsche Zeitung" vom 26./27. 4. 1980.
26 So nach Angaben der FAZ vom 21. 4. 1980.
27 Vgl. FAZ vom 17.4. 1980.
28 Siehe FAZ vom 15. 4. 1980.
29 "International Herald Tribune" (Paris) vom 24. 4. 1980.
30 Mitteilung des kubanischen Außenministeriums: Circular 498 vom 26. 4. 1980.
31 Vgl. FAZ vom 5. 5. 1980.
32 "Granma" vom 27. 4. 1980.
33 Mitteilung des kubanischen Außenministeriums: Circular 479 vom 23. 4. 1980.
34 Mitteilung des kubanischen Außenministeriums: Circular 494 vom 26. 4. 1980.
35 FAZ vom 23. 4. 1980.
36 "Die Welt" vom 28. 4. 1980.
Horst-Eckart Gross
Quelle: "Blätter für deutsche und internationale Politik", 5/1980, S. 549-558.
CUBA LIBRE 2-1980